Читать книгу Ab heute ohne mich - Tina Engel - Страница 3
Der Anfang
ОглавлениеEs war ein Samstag Anfang September. Die Sonne strahlte im vorherbstlichen Gold vom wolkenlosen Himmel auf die Stadt nieder. Mitten in der City auf und rings um einen großen Parkplatz war an diesem Nachmittag der Teufel los.
Stadtfest - ein Fest für Groß und Klein. Über den gesamten Platz verstreut gab es Imbissbuden aller Art, Zuckerwatte- und Softeisbuden, Info- und Verkaufsstände, Schießbuden, Karussells - eigentlich war alles vorhanden, was so ein Fest ausmachte und was das Besucherherz begehrte.
Die 25-jährige Lisa befand sich mittendrin in dem Gewühl. Eigentlich hasste sie solche großen, unübersichtlichen Menschenansammlungen, bei denen man sich kaum drehen und wenden konnte und ständig in eine Richtung geschoben wurde, in die man gar nicht wollte.
Gut, heute wurde sie mal nicht geschoben. In ein adrettes Kostüm gehüllt, stand sie hinter einem der zahlreichen Stände. Ein Infostand, den Lisas Freund Dennis am frühen Morgen hier mit aufgebaut hatte. Er und einer seiner Kollegen präsentierten die Agentur, in der er seit ein paar Jahren arbeitete. Dennis war eine Art Allround-Berater - er vermittelte in Immobilien-Angelegenheiten, auch wenn es um Finanzen allgemein oder um eine maßgeschneiderte Geldanlage ging. Zum Thema Geld wusste er eine Menge zu erzählen – egal, worum es im Einzelnen ging.
In Schlips und Kragen verpackt und brav gestylt sprachen die beiden jungen Herren sehr redegewandt auf interessierte Passanten ein. Hin und wieder gewannen sie den einen oder anderen Unentschlossenen für ein Gespräch oder vereinbarten einen Beratungstermin in der Agentur. Für Dennis gehörte es auf seinem Weg nach oben dazu, auf solchen Veranstaltungen durch Präsenz zu glänzen. In den letzten Jahren war er dank seines konsequenten Einsatzes auf der Karriereleiter immer wieder ein Stückchen hinaufgeklettert. Sein Chef hielt große Stücke auf ihn. Und umgekehrt war es genauso.
Anfangs hatte Lisa es interessant und bewundernswert gefunden. Inzwischen jedoch langweilte es sie nur noch. Sie hatte schon vor einer ganzen Weile aufgehört, sich Gedanken um seine Karriere zu machen. Auch wenn sie ihn auf Geschäftsessen, Messen oder diverse Ausstellungen begleitete, war sie nur noch mechanisch anwesend, mit aufgesetztem Lächeln und geheucheltem Interesse.
Dennis allerdings war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er davon noch nichts mitbekommen hatte.
Seit fünf Jahren waren sie ein Paar. Lisa war sich nicht ganz sicher, was genau sie bei Dennis hielt.
War es Liebe? Auf jeden Fall war es das bis vor einiger Zeit noch gewesen.
Damals, am Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihn nur anzusehen brauchen, schon wusste sie: er war der Mann, mit dem sie einmal Kinder haben und mit dem sie alt werden wollte.
Leo kam anmarschiert und steuerte direkt auf Dennis zu. „Na, du alter Schwätzer!“ rief er gutgelaunt.
Dennis schlug in die gebotene Hand ein und grinste: „Na? Soll ich dir auch was Feines aufschwatzen?“
„ Nee, lass man, du hast mir schon genug angedreht“, lachte Leo, der ein paar Pfunde mehr auf den Rippen hatte und damit sehr gemütlich wirkte.
Er zwinkerte auch Lisa grüßend zu. Dann flachsten er und Dennis ein wenig herum. Dabei schaffte Leo es immer wieder, das letzte Wort zu haben, was Lisa mächtig amüsierte.
Später meinte er, an beide gewandt: „Habt ihr nächsten Samstag eigentlich schon was vor?“
„ Nö, wieso?“ entgegnete Dennis, nachdem er einen kurzen Blick mit Lisa getauscht hatte.
„ Ich mache Party.“
„ Einfach so oder warum das?“ fragte Lisa neugierig, doch insgeheim schwante ihr schon etwas.
„ Ich werd' einfach so neunundzwanzig und wollte in meinen Geburtstag reinfeiern.“
„ Da machen wir doch glatt mit“, meinte Dennis, Lisa nickte ebenfalls begeistert. Endlich gab's mal wieder eine von Leos berühmt-berüchtigten Partys. Wenn er feierte, ging es nicht so spießig zu und es gab immer was zu lachen.
„ Moment mal“, stutzte Lisa im nächsten Moment und tippte sich gegen die Stirn. „Neunundzwanzig bist du letztes Jahr auch schon geworden…“
Leo tat, als wäre er nun total verlegen. Da klopfte Lisa ihm auf die Schulter und meinte grinsend: „Na, vielleicht tut sich ja beziehungstechnisch in den nächsten Tagen noch was. Wir lassen uns deine Party auf keinen Fall entgehen.“
„ Supi, dann sehen wir uns. Ich muss erst mal wieder – und ihr repräsentiert mal noch schön fleißig hier“, meinte Leo und drehte nun weiter seine Runde, um nebenbei noch ein paar anderen Leuten Bescheid zu geben.
Dennis drehte sich zu Lisa um und zog sie im nächsten Moment zu sich.
Er deutete ihren Gesichtsausdruck wohl richtig. „Hey, mir tun auch schon die Füße weh. Aber wir haben das hier bald geschafft.“
„ Schön wär’s“, seufzte sie leise und ließ sich flüchtig von ihm küssen.
Zwei seiner Kumpels kamen, kurz darauf gesellten sich zwei von Lisas Freundinnen zu ihnen und irgendwann war der ganze Stand plötzlich voller bekannter Gesichter.
Langsam begann diese Sache doch noch, Lisa ein wenig Spaß zu machen. Dennis holte unter dem Tisch einen Karton Sekt hervor, sein Kollege kramte aus einem anderen Karton Plastikbecher hervor – es wurden zwei Flaschen geöffnet und das sprudelnde Zeug in die Becher gegossen.
Von einem der Karussells tönte schon die ganze Zeit Musik aus den Charts herüber, seit ein paar Minuten sogar etwas lauter. Prompt wippten die Mädchen im Takt mit und kicherten.
Einer der Jungs gab eine witzige Story über einen tollpatschigen Typen aus seiner Firma zum Besten, die Leute am Stand lachten immer wieder amüsiert.
Lisa ebenfalls. Sie hatte sich gerade wieder etwas gefangen, als sie in der Menschenmenge auf dem Platz jemanden entdeckte. Ralf.
Ihr Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Warum auf einmal? Es war doch schon lange vorbei. Seit dem hatten sie sich - zumindest inoffiziell - nicht wieder gesehen.
Lisa sah nun auch das Mädchen an seiner Seite. Lara. Mit ihr war er schon genauso lange zusammen wie Lisa mit Dennis.
Lara zeigte nun auf Dennis. Lisa wäre am liebsten auf der Stelle im Erdboden versunken. Jetzt kamen die Beiden auch noch auf direktem Weg zu ihnen an den Stand!
Lisa trank ihren Becher in einem Zug leer. Sie musste jetzt ganz locker und relaxt bleiben. Konnte sie das in Anbetracht der Lage überhaupt? Ihr blieb keine Wahl.
Da standen die Beiden auch schon vor ihnen. Ralfs Augen strahlten wie eh und je, immer hatte er den Schalk im Blick, egal zu welcher Gelegenheit. Verstohlen blinzelte er kurz zu Lisa herüber.
„ Hi“, hauchte sie lautlos und erwiderte seinen fröhlichen Blick. Sie meinte, seine Gedanken zu hören: Hey, wir wissen was, was die nicht wissen…
Vor zwei Jahren, auf Leos vorletzter, groß angelegter Geburtstagsparty, hatte es zwischen ihnen gefunkt. Gewaltig. Von einer Sekunde auf die andere. Dabei kannten sie sich schon länger, hatten sich bis dahin immer irgendwie geheimnisvoll umschwänzelt - wie zwei Katzen, die nicht wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Doch auf der Party dann hatten sich nicht nur ihre Blicke auf ganz seltsame Art berührt, sondern am Buffet auch ihre Hände, als sie aus Versehen im gleichen Moment zum gleichen Häppchen greifen wollten.
Ein erschrockener und zugleich faszinierter Blick in die Augen des anderen - und schon war alles gesagt.
„ Ich muss dich wiedersehen, allein“, hatte er ihr in jener Nacht leise zugeflüstert. Mit diesen Worten war die Lawine ins Rollen gebracht worden.
Wehmütig hatte Lisa später oft daran zurück gedacht.
Hin und wieder hatten sie sich heimlich in dem kleinen Wald am Stadtrand getroffen, hatten viel geredet, geträumt, gelacht. Dann waren sie ein paar Mal miteinander im Bett eines auswärtigen Hotels, einer Pension, auf der Rückbank eines Autos oder wo auch immer gelandet. Sie hatten eine kurze, wahrlich heiße Affäre ausgelebt. Bis beide nach ein paar Wochen ganz abrupt aus ihrem erotischen Traum aufwachten und einsahen, dass sie sich mit jedem Mal, das sie sich trafen, nur noch tiefer ins Chaos hineinritten. Dass sie sich damit gegenseitig nur unnötig wehtaten, da für beide zu dem Zeitpunkt feststand, dass sie sich nicht von ihren Partnern trennen konnten. Lara war damals im fünften Monat schwanger gewesen. Für Lisa ein Grund mehr, dem Baby nicht die Familie zu zerstören.
Leider war das ungeborene Wesen zwei Monate später noch in Laras Bauch aus unerklärlichen Gründen gestorben.
Oft war Lisa versucht gewesen, den Kontakt zu Ralf wieder aufzunehmen, ihm in der schweren Zeit beizustehen. Aber was wäre daraus geworden?
Sie wären wieder zusammen im Bett gelandet, alles wäre von vorn losgegangen, Gefühle wieder hoch gekocht.
Um stark zu bleiben und diese traurige Geschichte irgendwie zu überstehen, brauchte Lara ihren Freund Ralf zu jener Zeit mehr denn je an ihrer Seite.
Lisa hatte damals nur eine einzige SMS auf Ralfs Handy geschickt: „Nicht traurig sein.“
Nun stand er auf einmal wieder vor ihr. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Sie vergrub ihre Hände tief in den Jackentaschen, so sehr zitterten sie vor Aufregung. So sehr brachte er ihr Herz noch in Wallung.
Lara wurde in diesem Augenblick von einem der Jungs angesprochen. Das musste Lisa ausnutzen.
„Na, wie geht’s?“ fragte sie, so locker sie konnte. Dabei sah sie Ralf mit großen Augen an.
„ In diesem Moment – super!“ Seine Augen lachten sie an. Wie kannst du nur fragen? Wenn ich dich sehe, dann geht es mir einfach gut, dann ist die Welt in Ordnung!
Diese Zweideutigkeit seiner Antwort hatte nur Lisa herausgehört. Also hieß das, dass es ihm sonst nicht gut ging? Leider war dies nicht der richtige Ort, um das näher zu erörtern.
„ Und selbst?“ fragte er.
„ Wie immer“, antwortete sie. Es hat sich nichts geändert, ich habe dich vermisst , sagte ihm ihr Blick.
Da wandte sie sich von ihm ab und meinte zu Dennis, der etwas abseits bei ein paar anderen Leuten stand: „Habt ihr noch was zu trinken?“
Dennis wurde auf Ralf und dessen Begleiterin aufmerksam. „Aber klar doch.“ Er kam kurz zu ihnen, um Ralf und Lara zu begrüßen. Dann füllte er sämtliche Becher um sich herum. Schon stießen sie alle noch einmal an.
„ Auf dieses Wiedersehen nach so langer Zeit“, sah Lisa zu Ralf und seiner Freundin. Lara lächelte, es wirkte jedoch verkrampft. Hatte sie damals möglicherweise doch etwas mitbekommen?
Kurz suchte Lisa seinen Blick. Sein Blick sagte: Alles okay.
Laras Gespräch mit Tom, einem alten Schulkameraden, der sich zufällig gerade neben ihr am Stand aufhielt, lebte auf.
Lisa war mehr als versucht, näher an Ralf heranzutreten, um herauszufinden, ob auch sie ihn noch verwirren konnte. Doch im nächsten Moment schalt sie sich mies und hinterhältig. Schließlich war Ralf in Begleitung. Und da er und Lara immer noch ein Paar waren, schien sich bei den Beiden mit der Zeit alles wieder eingerenkt zu haben, zumindest, was Ralfs kurzzeitigen Gefühlsausbruch in Bezug auf Lisa betraf.
Und da war dann auch noch Dennis. Notgedrungen versuchte Lisa, sich im Folgenden mehr auf eine ihrer Freundinnen zu konzentrieren, und wurde prompt in ein Gespräch verwickelt. Ralf wechselte mit Dennis und dessen Leuten ein paar Worte, Lara blieb derweil an seiner Seite. Irgendwann gab sie ihrem Freund jedoch zu verstehen, dass sie weiterwollte.
Lisa horchte auf. Noch einmal trafen sich ihre Blicke. Er rief kurz: „Bis die Tage mal!“ Dann drehte er sich um und ging. An seiner Hand Lara.
Verzweifelt wünschte Lisa sich - wie schon so oft in den letzten Jahren – in diesem Moment ganz weit weg von hier. Nur schwer ertrug sie diese wieder aufkeimende, unerfüllte Sehnsucht. Ganz besonders in diesem Moment.
Nach einer Weile voller Wehmut riss sie sich zusammen und platzierte sich an Dennis’ Seite. Er nahm zwar kaum Notiz von ihr, weil er mit zwei Leuten in ein Gespräch vertieft war, doch zumindest hatte er ihre Hand in seine genommen.
Sein Chef gesellte sich an diesem Nachmittag auch noch zu ihnen.
Lisa machte drei Kreuze, als das ganze Getue endlich überstanden war und sie abends zu Hause aufs Sofa fallen konnte.
Dennis hingegen war noch mit Kumpels losgezogen. Er hatte seine Freundin zwar gefragt, ob sie mitwollte, doch danach stand ihr heute nicht mehr der Sinn.
Sie war froh, dass sie nun ihre Ruhe hatte. Sie war geschafft vom Tage und dennoch viel zu aufgewühlt.
Sie hatte Ralf wiedergesehen. Er hatte sich in den letzten beiden Jahren nicht verändert, hatte immer noch seine sportliche Figur mit den breiten Schultern, an die man sich so schön anschmiegen konnte. Seinen Schädel zierte immer noch dieser 5-Millimeter-Stoppel-Haarschnitt, der sich so weich und flauschig anfühlte, wenn man sanft darüber strich.
Mehr als ein Mal ertappte Lisa sich dabei, dass sie auf ihr Handy starrte. Nein, keine Nachricht von ihm. Keine neu erwachte Sehnsucht seinerseits. Kein „Ich muss dich sehen“.
Lisa fuhr hoch und schüttelte sich. Nein, sie durfte nicht an ihn denken! Alles, was sie sich mit Dennis aufgebaut hatte, würde wie ein Kartenhaus zusammenstürzen, wenn sie erneut schwach wurde. Noch einmal stand sie das nicht ohne Folgen durch.
Sie ging in die Küche. Dort nahm sie sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Rotwein. Die leerte sie im Verlaufe dieses Abends, ziemlich zügig sogar – dann fiel sie wie ein Stein in ihr Bett.
Sie verschlief den halben Sonntag. Als sie wach wurde, lag Dennis neben ihr. Sie hatte nicht mal gemerkt, dass bzw. wann er heimgekommen war.
Schon bald verzog sie sich vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, aufs Sofa. Sie aß einen Happen und zappte sich durch das Sonntags-Fernseh-Programm. Zwischendurch tauschte sie SMS mit der einen oder anderen Freundin.
Am frühen Abend gesellte sich Dennis zu ihr aufs Sofa. Doch sobald er irgendwelche Annäherungsversuche startete, wich Lisa ihm aus. Sie schob Kopfweh vor.