Читать книгу What Love does - Tina Köpke - Страница 5

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»Erin, wir sollten Schluss machen.«

Ich verschluckte mich beinah an meinem Müsli. »Was hast du da gesagt?«

Chuck saß mir gegenüber an dem alten Esstisch, den wir vor zwei Jahren auf einem Flohmarkt gekauft hatten. Die Oberfläche war zerkratzt und ein paar Farbspritzer verteilten sich ungleichmäßig darauf. Ich hatte schon mehrfach versucht, ihn zu einem neuen zu überreden, aber er hatte immer wieder dagegengehalten, dass der Tisch für eine gewisse Atmosphäre in unserer Küche sorgte. Ihr sozusagen Charakter verlieh.

Die Küche war meiner Meinung nach genauso überfällig wie der Tisch, doch an dieser Front nahm ich den Kampf gar nicht erst auf. Neue Möbel waren für ihn seelenlose Ungetüme, die keine Geschichten erzählten. Deswegen trug er, wie jeden Morgen, diesen furchtbaren mitternachtsblauen Morgenmantel, der ihm bald von seinem Körper fiel, wenn er ihn nicht endlich gegen einen neueren tauschte. Aber wenn ich es damit versuchte, dann musste ich mir wieder anhören, wie er darin das erste Mal betrunken gewesen war oder in einer der Taschen zufällig einen Zehndollarschein gefunden hatte.

»Ich habe letzte Nacht darüber nachgedacht ...«, setzte er in seiner monotonen, fast schon phlegmatischen Stimme an.

»Das ist jetzt nicht besonders lang«, gab ich zu bedenken. Worüber redeten wir hier eigentlich?

Chuck äußerte seine Gefühle selten laut und in der Regel konnte man ihm auch nicht ansehen, wenn sich etwas in ihm regte. Egal ob Freude oder Wut – er trug fast immer den gleichen Gesichtsausdruck. Vor ein paar Jahren – genau genommen sind es übermorgen schon sieben – fand ich das irgendwie inspirierend. Seine ruhige, in sich gekehrte Art hatte mich beeindruckt, was daran lag, dass meine Eltern zwei aufgeregte, hektische Menschen waren. So sehr ich sie liebte, mit zunehmendem Alter wurde das ziemlich anstrengend. Dagegen war Chuck eine Quelle der Stille und sein friedliches Naturell hatte dafür gesorgt, dass ich die Streitereien während unserer Beziehung an einer Hand abzählen konnte.

»Es hat aber gereicht, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass wir unseren Zenit erreicht haben.«

Unseren Zenit erreicht? Bitte was? Wir waren in unseren frühen Zwanzigern. Wie konnten wir schon irgendetwas anderes als Abschlüsse erreicht haben?

Er faltete die Tageszeitung zusammen, legte sie neben dem Teller mit Pancakes ab und griff nach der Kaffeetasse, deren Seite einen zarten Riss aufwies. Sie stammte noch aus Chucks Kindheit und war damit so was wie der Heilige Gral. Also absolut unantastbar. Zumindest ich durfte mich ihr nicht nähern, vermutlich weil er Angst hatte, sie würde bei meiner bloßen Berührung in Einzelteile zerspringen. Oder ich stolperte mal wieder über den dämlichen Läufer zwischen Küche und Wohnzimmer.

Das geschah tatsächlich häufiger als gedacht.

»Wir entwickeln uns an dieser Stelle nicht mehr weiter und sollten deswegen getrennte Wege gehen.«

Ich hatte mich also doch nicht verhört, was dazu führte, dass die Geschwindigkeit meiner Gedanken von einem gemütlichen Sonntagsausflug auf der Landstraße zu einem Wettrennen auf dem Highway wechselte.

»Chuck«, flüsterte ich. »Das ist ziemlich ...«

Was sollte ich sagen? Sicher, unsere Beziehung war nicht wahnsinnig aufregend und irgendwie hatten wir uns schon ein wenig im Alltag verloren. Aber uns gleich trennen? Nach fast sieben Jahren? Machte man da nicht lieber mal eine Pause?

Obwohl, nein. Das hatte bei Rachel und Ross nur zu Katastrophen geführt. Ich würde es nicht aushalten, mit Chuck darüber zu streiten, ob eine Pause eine Trennung bedeutete oder eben nur eine Auszeit, in der man zufällig mit anderen Leuten ins Bett ging.

»Warst du denn glücklich, Erin?« Er starrte mich so durchdringend an, dass ich mich zum ersten Mal wunderte, wie dieser gemütliche Braunton seiner Augen so kühl wirken konnte.

Ich wollte mit irgendeinem Glückskeksspruch antworten – so was wie: Das Glück liegt in den kleinen Dingen des Lebens oder so –, aber mein Mund startete bereits einen Alleingang.

»Das ist doch Quatsch«, sagte ich und klang dabei nicht im Ansatz so aufgeregt, wie ich mich fühlte. Chucks ruhige Art hatte über die Zeit ganz schön auf mich abgefärbt. »Ich bin zufrieden mit unserem Leben.«

»Zufrieden und glücklich sein sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.«

Wenn er so weitermachte, würden wir am Ende des Frühstücks wirklich noch getrennte Wege gehen. »Chuck, wir haben uns zusammen eine Existenz aufgebaut. Wir sind fast sieben Jahre ... sieben Jahre«, wiederholte ich mit Nachdruck, »eine Instanz. Chuck und Erin. Das kannst du doch nicht einfach so wegwerfen.«

»Ich will es für uns beide. Stillstand ist der Tod eines jeden Menschen.«

Wow. Hätte ich gewusst, dass er so über unsere Beziehung dachte, dann hätte ich ... ich meine, dann würde ich ... ja, was denn? Hätte ich versucht, zu verhindern, dass er mit mir über schlabbrigen Pancakes und pampigem Müsli Schluss machte?

Natürlich. Ich liebte Chuck, seit ich fünfzehn war.

Er war mein erster Freund. Mein erster Kuss. Mein erstes Mal. Mit ihm hatte ich auf dem Abschlussball getanzt. Wir hatten sogar eine Fernbeziehung überstanden, als ich zwei Jahre versuchsweise in New York Betriebswirtschaft studiert hatte. Das alles ... das alles war doch etwas wert. Es bedeutete etwas. Das musste es einfach.

Stattdessen kam es mir vor, als sollte ich schon allein dafür dankbar sein, dass er den Schlussstrich unter unserer Beziehung nicht per Handynachricht zog.

»Was ist mit heute Abend? Mit der Silvesterparty?« Ich erkannte meine eigene Stimme kaum. Sie klang motorisch und eindeutig zu gelassen für die Umstände. Als hätten sich Mund und Gehirn voneinander getrennt, um den absoluten Super-GAU zu verhindern.

»Ich denke, es wäre unangebracht, wenn ich dich begleite.« Er zwang sich zu einem Lächeln. So viel Gefühlsregung an einem Morgen war ich von Chuck gar nicht gewöhnt. Und das machte mir am meisten Angst, weil das bedeutete, dass es ihm ernst war. »Ich werde für ein paar Tage zu meinen Eltern ziehen, dann kannst du dir eine Wohnung suchen.«

»Moment.« Ich hob die Hände und kniff die Augen zusammen. »Wieso soll ausgerechnet ich ausziehen?« Das kam überhaupt nicht infrage. Ich verdiente als Einzige hier richtiges Geld, um die Miete zu bezahlen. Er hingegen saß einen Großteil des Tages irgendwo herum und hoffte auf Inspiration für ein neues Kunstwerk. Wenn sie dann mal kam, machte er damit aber auch nicht genug, um sich als amerikanischen Banksy zu bezeichnen.

»Erin.« Er redete mit mir, als wäre ich ein kleines, bockiges Kind, an dessen Vernunft er appellieren musste. »Du weißt, wie sehr ich die Wohnung liebe. Von dem alten Flurläufer über diesen Esstisch bis hin zu Tante Gretas Gemälde von meinem Urgroßvater im Wohnzimmer. Ich meine«, er zuckte gleichgültig die Schultern und griff wieder nach der Zeitung, als Zeichen dafür, dass sich das Gespräch langsam dem Ende zuneigte. »Ich überlasse sie dir, wenn du willst. Aber liebst du diese Wohnung wirklich so sehr?«

Ich sah auf den Esstisch unter mir. Warum hatte er unbedingt immer darauf bestehen müssen, dass wir ihn behielten? Warum hätte er nicht mir zuliebe nachgeben können? Wir wären zu Ikea gefahren und hätten einen Neuen ausgesucht. Der hätte dann irgendwann unsere Geschichten erzählt. Wäre das nicht genug gewesen?

»Nein«, flüsterte ich und verfluchte den Esstisch und alles, was aus seinem Holz in der Zukunft noch gebaut werden würde. »Ich liebe die Wohnung nicht so sehr wie du.«


Jaina starrte mich perplex an. »Er hat eure Beziehung einfach so beendet? Beim Frühstück?« Sie spuckte die Worte förmlich auf den Parkettboden unter uns und machte damit, im Gegensatz zu Chuck, keinen Hehl daraus, wie sie zu der Sache stand.

Ich liebte meine beste Freundin dafür sehr.

»Ja«, sagte ich und nippte an dem Glas Champagner, das ein Kellner mir vor wenigen Minuten gereicht hatte. Zunächst hatte ich gedacht, es wäre eine bescheuerte Idee, ein paar Stunden nach dem Gespräch mit Chuck in den nächstbesten Zug nach Manhattan zu steigen und die Silvesterparty ohne ihn zu besuchen. Schließlich müsste ich doch über einem Eimer Ben & Jerrys hängen und romantische Komödien mit Sandra Bullock und Renee Zellweger schauen, nicht wahr?

»Scheiße, ich weiß schon, wieso ich ihn nie gemocht habe«, knurrte Jaina und trank einen Schluck von ihrem Whiskey. Zusammen mit dem gut geschnittenen, teuren Hosenanzug hätte sie so auch in jeden Gentleman’s Club gepasst. »Ich meine, hat er denn wenigstens versucht, die Sache zu retten?«

»Äh«, gab ich wenig kreativ von mir und schaute hilfesuchend zu Jainas Freundin Miriam, die mir einen mitleidigen Blick schenkte. Von uns dreien schien sie die Ruhige zu sein, auch wenn ihr dunkelgrünes Kleid mit den Ärmeln und dem schwungvollen Tellerrock etwas anderes vermuten ließen. Mit den roten Locken, die ihr ovales Gesicht umrahmten, sah sie alles andere als harmlos aus. Jaina, mit ihrem blonden Bob, war hingegen eher die Powerfrau – wahlweise auch die Aufbrausende – und ich ... Ich war irgendwo dazwischen.

Vielleicht die Friedfertige? Oder die hoffnungslos Romantische?

Wobei die Zeit mit Chuck nicht unbedingt darauf schließen ließ. Wir waren beide keine Romantikninjas gewesen und unter Umständen war auch das ein Grund, wieso ich ohne ihn in einer Bar, rund vierzig Kilometer von Zuhause entfernt, im zwanzigsten Stock stand und mich mit Champagner betrank.

»Sei froh, dass du ihn los bist«, lautete Jainas Urteil. Und das war, wie ich wusste, ab dieser Sekunde in Stein gemeißelt. »Wer weiß, wie das sonst ausgegangen wäre.«

»Ich hatte gedacht, er würde mir heute einen Antrag machen«, gab ich leise zu und verzog das Gesicht, als sich Jainas und Miriams Augen weiteten. Verlegen zupfte ich am Saum meines schwarzen Paillettenkleides. Auf einmal kam mir der kurze, enganliegende Stoff zu knapp vor.

»Wie schade«, sagte Miriam und fing sich damit einen strafenden Blick von Jaina ein. Diese schüttelte den Kopf, was dazu führte, dass eine ihrer kinnlangen blonden Strähnen an ihrer Unterlippe kleben blieb.

»Zwei Worte.« Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht und hob demonstrativ den Zeigefinger. »Sei«, sie hob den Mittelfinger und formte das Peace-Zeichen, »froh.«

Ich wollte froh sein. Wirklich. Aber es war nicht so einfach, wie es sich anhörte.

Nach diesem seltsamen Gespräch am Morgen hatte Chuck kurze Zeit später mit einer gepackten Reisetasche unsere Wohnung verlassen. Zunächst hatte mich das Gefühl von Einsamkeit übermannt. Ich war nie so richtig allein gewesen. Erst hatte ich – logischerweise – bei meinen Eltern gewohnt, dann war ich nach dem Highschoolabschluss nach New York zum Studieren gegangen. Im Wohnheim hatte ich mir mit Jaina ein Zimmer geteilt. Nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte – die beste Entscheidung meines Lebens, auch wenn ich mit einem Abschluss sicherlich größere Jobchancen gehabt hätte –, war ich zurück nach Elizabeth in New Jersey, meine Heimat, und in eine Wohnung mit Chuck gezogen. Das war vor zwei Jahren gewesen.

Und nun hatte ich in dieser Wohnung gestanden, die ich weder mochte, geschweige denn liebte. Die Wände hatten sich bedrückend eng angefühlt und auf einmal war mir klargeworden, was eine Trennung tatsächlich bedeutete.

Leere. Einsamkeit. Das volle Selbstmitleidprogramm.

Ich musste allein klarkommen. Die Träume, dass Chuck und ich für immer zusammen sein würden, waren wie Seifenblasen geplatzt. Zurück zu meinen Eltern würde ich nur ziehen, wenn es wirklich, wirklich nötig wäre. Und an dem Punkt war ich nicht. Noch nicht.

Also brauchte ich eine neue Wohnung. Vermutlich sogar neue Freunde, denn unser Freundeskreis in Elizabeth war mehr Chucks Clique als meine. Es hatte sich irgendwie so ergeben und ich mich damit arrangiert. Jaina wohnte schließlich nicht so weit weg und dank der modernen Technik war es leicht gewesen, in Kontakt zu bleiben. Mir hatte nie etwas gefehlt. Zumindest hatte ich das angenommen.

Genau jetzt, wo ich helfende Hände an allen Ecken gut gebrauchen konnte, war Jainas und meine Fernfreundschaft ein Problem. Im Endeffekt wusste jeder, dass man bei einer Trennung nicht nur den Besitz aufteilte, sondern auch die sozialen Kontakte. Ein bisschen wie bei einem Sorgerechtsstreit. Und in diesem Fall würde ich eindeutig den Kürzeren ziehen.

Chuck bekam unsere Wohnung. Chuck bekam unsere Freunde.

Und ich ... Ich musste herausfinden, was mir vom Rest blieb. Aktuell saß der Schock zu tief, um der Sache etwas Positives abgewinnen zu können, aber der Champagner und ich gaben uns reichlich Mühe, diese Probleme auf Zukunfts-Erin abzuschieben. Die würde sich rückblickend bestimmt bei mir dafür bedanken.

»Ich versuche, optimistisch zu bleiben«, lenkte ich ein. »Ich meine, Neuanfänge sind doch etwas Gutes, nicht wahr?« Ich sah abwechselnd zu Jaina und Miriam. Sie konnten kaum unterschiedlicher sein. Während Jaina energisch nickte und ihr Glas leerte, als würde es einer Kampfansage ans Patriarchat gleichkommen, lächelte Miriam aufmunternd und regelrecht mütterlich. Ich kannte sie nicht so gut oder so lange wie Jaina, aber ich mochte ihre fürsorgliche Art, mit ihrer Umwelt umzugehen. Es konnte unmöglich einen empathischeren Menschen geben als sie.

»Du solltest richtig auf den Putz hauen«, sagte Jaina und reichte ihr Glas einer Kellnerin, die es mitnahm, um Nachschub zu holen. »Ich meine, du bist diese Schnarchnase endlich los und kannst deine Fesseln der Monogamie sprengen.«

Automatisch sah ich auf meine Handgelenke. Ich konnte keine Fesseln erkennen und fühlte mich auch nicht, als hätte ich jemals welche getragen, aber ich ahnte, worauf sie hinauswollte.

Jaina war kein Beziehungstyp. Wenn es nach ihr ging, dann waren das nur gesellschaftliche Konstrukte, um Frauen kleinzuhalten. Oder irgendwie so was in der Art. Ich schaltete für gewöhnlich ab, wenn sie ihre Monologe darüber hielt, denn ehrlich gesagt: Ich war gerne jemandes andere Hälfte. Es war schön, in die Arme genommen und bedingungslos geliebt zu werden. Chuck hatte sich nie dafür interessiert, ob ich Make-up trug oder mir einen Tag zu lang nicht die Haare gewaschen hatte. Oberflächlichkeit konnte ich ihm wirklich nicht nachsagen, auch wenn er sich wiederum mit seinem Erscheinungsbild etwas mehr Mühe hätte geben können.

War ich ein schlechter Mensch, weil ich mir das gewünscht hatte?

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie er ausgesehen hatte, bevor er zum selbsternannten Künstler geworden war. Breite Schultern, dunkles Haar, markantes Kinn. Er war Kapitän des Hockeyteams gewesen. Inklusive Aussicht auf ein richtig gutes Stipendium für ein ausgezeichnetes College. Aber dann war er den letzten Sommer vor dem Highschoolabschluss in einem Künstlercamp gelandet, nachdem seine Kunstnote drohte, ihm alles zu versauen.

Er hatte seinen Aufenthalt dort als die absolute Erleuchtung beschrieben, und weil ich ihn so geliebt hatte, hatte ich dabei zugesehen, wie er die ganzen Sachen, die ihn bis dahin ausmachten, schleifen ließ.

Kein Hockeyteam, kein Stipendium. Dafür aber erstaunlicherweise ein paar kleinere Auszeichnungen für seine Kunstwerke und die eine oder andere lukrative Ausstellung. Nur ließ er sich mit jedem Lebensjahr etwas mehr gehen. Das war Chuck.

»Weißt du schon, was du jetzt machen möchtest?«, fragte Miriam mit ihrer weichen Stimme. Sie hatte haselnussbraune Augen, die warmherzig im Licht der Deckenbeleuchtung schimmerten.

Ich trank einen großen Schluck Champagner. Die kribbelnden Bläschen tanzten aufgeregt auf meiner Zunge und lösten ein kleines Hochgefühl in mir aus. »Ich suche mir besser erst mal eine Wohnung.«

»Ist der Wohnungsmarkt in Elizabeth entspannt?«

Ich seufzte schwermütig. »Keine Ahnung. Wir hatten unsere nach zwei Wochen gefunden, aber bei dem Zustand, in der sie war« und immer noch ist, »wundert es mich nicht. Ich hätte gerne etwas Moderneres, doch das könnte preislich schwierig werden.«

Jaina rieb sich nachdenklich das Kinn. »Arbeitest du nicht für deinen Dad?«

Ich schmunzelte bei der Vorstellung, was sie wohl dachte, was ich als Sekretärin meines Vaters verdiente. »Ja, aber es ist nur eine kleine Baufirma. Da bekomme ich nicht viel. Es reicht gerade so, um die Wohnung zu bezahlen, in der Chuck und ich leben.« Oder besser gesagt, gemeinsam gelebt hatten. Daran würde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

»Hm«, gab Jaina von sich. Ihr Blick scannte mich von oben bis unten gründlich ab. »Was hältst du von der Idee, hierher zu ziehen?«

»Nach New York?« Ich stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Du meinst dieses New York? Metropole, schlechte Wohnungslage, schweineteuer?«

Jaina nickte und verzog dabei keine Miene. »Ja.«

Es war ihr Ernst. Vernebelte ihr das eine Glas Whiskey bereits den Kopf? »Wenn ich mir gerade so eine neue Bleibe in Elizabeth leisten kann, wie soll ich dann eine in New York bezahlen?«

»Indem du keine ganze Wohnung mietest, sondern nur ein Zimmer. Zum Beispiel bei mir.«

Ein Flattern in der Brust ergriff mich. Reflexartig straffte ich die Schultern und starrte sie ungläubig an. »Du meinst, wir sollten zusammenziehen? Als Mitbewohnerinnen?« Das klang zu gut, um wahr zu sein.

»So lautet mein Vorschlag.« Sie lächelte schmal. »Paul zieht endlich in seine eigenen vier Wände, sein Zimmer wird also nächste Woche frei und ... Okay, ich könnte mir die Bude auch so leisten, aber ich würde lieber mit jemandem zusammenwohnen, der nicht dauernd seine Unterhosen neben dem Wäschekorb liegen lässt, wenn er duschen geht.«

Miriam lachte leise und ertränkte wohl weitere Gedanken in einem bunten Fruchtcocktail.

»Das klingt großartig.« Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn das löste alle meine Probleme auf einen Schlag: Ich musste in dieser blöden Situation nicht an Einsamkeit sterben und mir gleichzeitig keine Gedanken über mögliche Geldprobleme wegen zu hohen Mietpreisen machen. Außerdem war die Wohnung ein Traum und ohne Jaina als Mitbewohnerin hätte ich keinen Tag am College überlebt. Sie wirkte vielleicht oft mürrisch und mies gelaunt, aber es gab niemand anderen, mit dem ich lieber zusammenwohnen wollte.

Doch dann beschlich mich ein Gedanke, der mir die Euphorie so schnell wieder nahm, wie sie gekommen war. »Mist. Ich kann nicht. Ich meine, was ist mit meinem Job? Ich kann nicht jeden Tag von Queens nach Elizabeth pendeln ... das sind bestimmt zweieinhalb Stunden Zugfahrt und ich muss dort oft Überstunden machen.« Es klang sicherlich verwöhnt, aber die Vorstellung, am späten Abend und in aller Herrgottsfrüh im Zug zu sitzen, nachdem ich neun, manchmal zehn Stunden im Büro gehockt hatte, ließ mich frösteln.

»Dann such dir einen neuen Job«, schlug Jaina vor.

»In New York gibt es so viele Firmen, die benötigen bestimmt immer mal eine Assistentin oder Sekretärin«, ermunterte Miriam mich.

Sie hatten beide leicht reden. Miriam arbeitete in der Bäckerei und Konditorei ihrer Eltern, die zufälligerweise auch noch im gleichen Haus lag wie Jainas Wohnung. Und Jaina hatte sich einen Namen als Bloggerin gemacht und war ihre eigene Chefin.

Meine Freundinnen hatten sich nie wirklich auf dem Arbeitsmarkt bewähren müssen. Und der war in Elizabeth schon nicht allzu berauschend gewesen, wenn man nur einen guten Highschoolabschluss und ein halbfertiges BWL-Studium besaß.

»Ich weiß nicht«, fasste ich meine Sorgen knapp zusammen. »Die Stelle bei meinem Dad ist ... sicher.«

»Süße, das dachtest du von deiner Beziehung mit Chuck auch.«

»Jaina«, ermahnte Miriam sie mit zusammengekniffenen Augen. Ich konnte kaum erwarten, dass sie mal wirklich Mutter wurde. Sie hatte Talent für diese eine Sorte Blick, den Moms mit der Geburt ihres Kindes quasi überreicht bekamen.

»Was denn? Sie hat lang genug auf die sichere Nummer gesetzt. Nichts im Leben ist sicher, das macht es ja so spannend.«

Dagegen fehlten Miriam offenbar die Gegenargumente und vielleicht lag es am Champagner, aber irgendwie hatte Jaina recht. Abgesehen von meinem Studienabbruch war ich so lange die sichere Tour gefahren, dass ich erst heute Früh am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, dass nichts wirklich für immer sein musste. Dass dieser Weg plötzlich an einem Abgrund endete und wenn man nicht aufpasste, stürzte man hinein.

Hier und jetzt bot sich mir eine möglicherweise einmalige Gelegenheit.

Ich liebte New York. Ich liebte Jaina als Mitbewohnerin.

Und bei dem Gedanken, einen fremden Abschnitt einzuläuten, bebte mein ganzer Körper vor Aufregung.

Das war ein neues Gefühl, und auf die Gefahr hin, es morgen Früh wieder zu bereuen, stimmte ich kurzerhand zu, meinen Job bei Dad zu kündigen und bei Jaina einzuziehen.


Zehn Minuten. In zehn Minuten würde dieses Jahr endlich enden. Ich würde alles hinter mir lassen, meinen eigenen Strich unter der Rechnung ziehen und durchatmen.

Nach ein paar Gläsern Champagner und Pflaumenschnaps war ich nicht mehr ganz so sicher auf meinen High Heels – ich hätte es besser wissen müssen, aber sie passten perfekt zu dem schwarzen Paillettenkleid mit den dünnen Spagettiträgern –, dafür wenigstens umso motivierter. Gerade jetzt konnte mich der verdammte Chuck mal kreuzweise. Wenn er dazu in der Lage war, sieben Jahre einfach so wegzuwerfen, dann sollte ich das ebenso hinkriegen.

Ich trank auf jedes Jahr ein Glas und davon stieg mir wiederum jedes zunehmend zu Kopf und hellte zumindest temporär meine Laune auf. Um mir ein wenig die Beine zu vertreten, hatte ich kurz die Toilette aufgesucht und mich danach für einen kleinen Rundgang entschieden, schließlich kam ich nicht jeden Tag an einen Ort wie diesen.

Die Bar trug irgendeinen spanischen Schickimickinamen und lag an der 6th Avenue. Die Innenarchitekten hatten dunkles Holz, schwarze Wände und Kristallkronleuchter ausgewählt. Eine lange, edle Bartheke aus Mahagoni flankierte die eine Seite des Gastraumes, teuer aussehende Gemälde mit undeutbaren modernen Farbklecksen die andere. Selbst die Pianomusik war so anregend wie ein Paar getragene Sportsocken. Ich verstand das Konzept des Lokals nicht so wirklich, aber mein achtes Glas Champagner sorgte dafür, dass es mir am Ende egal war.

Ich war ein anspruchsloses Mädchen, das mit einem Billardtisch oder einer Dartscheibe sehr leicht zufrieden zu stellen war. Es war zwar cool, hier zu sein, anstatt allein auf der Couch herumzuhängen und das Feuerwerk im Fernsehen zu betrachten, aber ohne Jainas Einladung wäre ich wohl nie in diesen Laden reingekommen.

Ein wenig belohnt wurde ich mit dem Ausblick, den man aus dieser Höhe bekam. Die dritte Wandseite der Bar bestand komplett aus Fensterglas und es irritierte mich, dass kaum jemand hier stand und hinaussah. Ich konnte in die gegenüberliegenden, hellerleuchteten Restaurants, Bars und Büros schauen. Überall wurden Partys gefeiert, Taxis verstopften die Straßen von Manhattan und ganze Horden von Menschen waren auf den Gehwegen unterwegs, um irgendwo einen guten Platz zum Feiern zu finden. New York vibrierte vor Leben.

Ich ließ meinen Blick wandern und bemerkte unweit von mir einen jungen Mann, der von so vielen anderen Gästen umzingelt war, dass ich gar nicht gewusst hätte, mit wem ich zuerst reden sollte. Aber er schaffte es, sich irgendwie allen zu widmen und dabei eine Gelassenheit auszustrahlen, um die ich ihn beneidete. Er lachte, die Menschen um ihn lachten. Egal wie groß oder klein, alt oder jung – es wirkte, als sähen sie zu dem Fremden auf. Als tummelten sie sich in seinem Sonnenlicht.

Unsere Blicke trafen sich flüchtig. Obwohl uns ein paar Schritte voneinander trennten, fielen mir seine Augen auf, die mich an blaue Eisberge erinnerten. Klar, wach, eindringlich. Er nickte mir mit einem schmalen Lächeln kurz zu. Meine Wangen wurden heiß und ich sah rasch zur anderen Seite der Fensterfront. Als ich die Gruppe erneut lachen hörte, grinste ich in mich hinein.

Solche Momente erlebte man in Elizabeth nicht und deswegen liebte ich New York. Es gab keinen Ort, den ich lieber mochte, und schlagartig fragte ich mich, wieso ich die Stadt damals überhaupt verlassen hatte.

Chuck. Es war wegen Chuck. Ich war nach der Schule im Grunde nur studieren gegangen, um aus Elizabeth rauszukommen. Er hingegen wollte nie woanders hin, und nachdem BWL für mich kein Thema mehr gewesen war, war ich wie selbstverständlich zu ihm zurückgegangen.

Die sichere Tour eben.

Die Heimat, der Freund, der Job bei Dad. Ich hatte unterschwellig immer gespürt, dass etwas in meinem Leben fehlte, aber ich war daran gescheitert, mit dem Finger darauf zu deuten. Es war mir alles so richtig vorgekommen. Die besten Entscheidungen, damit jeder glücklich war.

Jeder außer mir ... und irgendwann auch Chuck.

»Erin, da bist du ja.« Ich drehte mich um und sah in Jainas Gesicht. Ihre Wangen schimmerten rosig von dem Whiskey in ihrem Glas, und ihre glatten Haare hatten sich ein wenig ineinander verheddert. »Ich habe Miriam eben etwas vorgeschlagen.«

Ich lächelte träge. »So?«

»Sie hat sich Vorsätze überlegt«, erklärte Miriam und verdrehte dabei schmunzelnd die Augen. Im Gegensatz zu uns hielt sie kein Glas mehr in der Hand, stützte dafür aber Jaina, die ungewohnt hibbelig war. Ich hatte vergessen, dass sie auf Alkohol reagierte wie ein Kind, dem man zu viele Süßigkeiten gegeben hatte.

»Ganz genau! Denn auch wenn das Konzept der Jahre und Monate und Tage und ... Na ihr wisst schon, was ich meine. Es ist eigentlich total blöd und ähnlich wie der Valentinstag ein Ding der Wandkalenderindustrie, aber ich finde, wir sollten die Situation ausnutzen, und das kommende zu unserem Jahr machen.«

Jainas betrunkene Ansprache entlockte mir ein nicht weniger angetrunkenes Lachen. Ratlos sah ich zu Miriam, die sich selber angesichts des Zustandes unserer Freundin das Grinsen nur schwer verkneifen konnte.

»Und das schaffen wir, indem wir Vorsätze machen?«, fragte ich anstandshalber.

»Exakt«, stieß Jaina etwas zu laut aus. »Du zum Beispiel, meine liebe Erin, solltest endlich mal leben! Denn bisher hast du dich verhalten wie ... wie ein ...«

»Schmetterling in einem Kokon?«, schlug Miriam vor. Ich warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

»Ja! Es wird Zeit, dass du dich entpuppst und der Welt zeigst, was für hübsche bunte Flügel du hast. Trau dich endlich mal, Hindernisse zu überwinden, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen. Flieg drüber hinweg.«

»Okay«, war alles, was ich hervorbrachte, denn es war unmöglich zu sagen, wie viele von Jainas Worten ernst zu nehmen waren. Oder woran sie sich morgen überhaupt noch erinnerte.

»Und du!« Jaina drehte sich zu Miriam und tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze. Miriam verengte die Augen zu einem leichten Schielen, was mich endgültig niederstreckte. Ich lachte zu laut und zog damit die Aufmerksamkeit der anderen Barbesucher auf uns.

»Du, Miriam Elizabeth Hemmingway, wirst endlich kämpfen für das, was du willst.«

»Ich kämpfe doch«, wandte sie zu ihrer Verteidigung ein und hob abwehrend die Hände. Selbst dabei sah sie noch beneidenswert gut aus. Einfach alles an ihr wirkte so ... makellos. Als hätte sich ein Künstler hingesetzt und überlegt, wie die irische Mona Lisa aussehen könnte. Alabasterhaut, die frei von jeder Hautunreinheit zu sein schien; dazu dickes, rotes Haar, das in weichen Wellen über ihre Schultern fiel. Volle Lippen, die bei einem Lächeln jedermann wundern ließ, wieso um alles in der Welt diese Frau noch Single war. Es war mir unbegreiflich, und wenn selbst sie niemanden fand, dann sollte ich wohl mein Erspartes darauf setzen, dass ich als schräge Hundelady endete.

»Pah.« Jaina schüttelte den Kopf. »Du ergibst dich deinem Schicksal. Du hast das Zeug, die nächste große Jessica Préalpato zu sein. Du könntest die beste Konditorin der Welt werden, wenn du nur die Arschbacken zusammenkneifen und kämpfen würdest.«

Miriam öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ließ es dann aber doch sein. Jaina schien da einen Nerv getroffen zu haben, auch wenn ich noch nicht sicher war, worum es bei der Sache genau ging.

»Und du?«, fragte ich Jaina, um Miriam ein wenig aus dem Ziel unserer Freundin zu holen. »Was nimmst du dir vor?«

Obwohl damit zu rechnen war, dass der Kelch nicht an ihr vorbeigehen würde, wirkte sie ertappt. »Keine Ahnung«, erwiderte sie monoton. All die Euphorie über unsere Vorsätze war verschwunden. »Ich bin eigentlich schon ziemlich gut, so, wie ich bin.«

Miriam und ich starrten sie an – und brachen dieses Mal gemeinsam in schallendes Gelächter aus. Ich lachte so heftig, dass meine untrainierten Bauchmuskeln anfingen, wehzutun, und mir so heiß wurde, dass ich am liebsten in den Eiskübel mit den Champagnerflaschen gesprungen wäre.

»Du bist ... nicht perfekt«, presste ich keuchend hervor.

Jaina wirkte ein wenig eingeschnappt. »Natürlich nicht. Niemand ist perfekt. Aber ich bin sehr glücklich und im Reinen mit mir selbst, im Gegensatz zu euch beiden.« Sie deutete dabei abwechselnd auf Miriam und mich.

»Du solltest offener sein«, schlug Miriam vor, die sich schneller wieder in den Griff bekam als ich. Das Glück der Nüchternen.

»Ich bin offen«, konterte Jaina aus tiefster Überzeugung.

»Nun ...« Miriam rang sichtbar mit sich. »Du bist schon etwas abwehrend gegenüber neuen Menschen.«

»Bin ich gar nicht.« Jaina stemmte die Hände in die Taille. »Ich schließe deutlich mehr neue Kontakte als ihr zwei zusammen ... und das jeden Tag.«

»Aber nur, wenn es um deine Arbeit geht. Du netzwerkst, ja. Privat bist du dagegen ... ein Stein.«

»Hey«, protestierte sie. Ich konnte nicht anders, als wieder loszukichern. Allmählich trug mich der Champagner ein wenig in die selige Albernheit. Dabei fiel mein Blick auf die Uhr und ich bemerkte, wie die Leute um uns herum zunehmend unruhiger wurden.

»Hört auf, zu streiten«, fuhr ich ihnen dazwischen. Ich deutete zur Bar, über der ein Flachbildfernseher hing. Der Countdown zählte bereits eifrig herunter. Wir hatten noch eine halbe Minute.

»Okay, meinetwegen«, lenkte Jaina großmütig ein. »Ich werde offener sein ... oder zumindest versuchen, herauszufinden, was damit gemeint ist. Einverstanden?«

Wir nickten. Ich umschloss das Champagnerglas fester und sah mit Herzklopfen auf die sinkenden Sekunden.

So soll es sein.

Jaina würde offener gegenüber ihren Mitmenschen sein.

Miriam würde für das, was sie wollte, mehr kämpfen.

Und ich? Ich sollte mehr leben. Aber wie genau? Der Umzug nach New York, das Kündigen meiner alten Stelle, die Trennung von Chuck – reichte das nicht schon? War es das, was Jaina unter leben verstand? Oder fand sie, ich sollte etwas Verrücktes tun? Bungee springen zum Beispiel?

Oh Gott. Hoffentlich meinte sie nicht so was. Ich würde es niemals über mich bringen, aus einem Flugzeug zu springen. Oder war es mit dem Gummiseil von der Brücke hüpfen, in der Hoffnung, man knallte vor lauter Schwung nicht gegen irgendeine Mauer oder eine fiese Felsformation?

»Jaina!«, rief ich über den aufquellenden Lärm der herunterzählenden Gäste hinweg. Sie warf mir einen glasigen Blick über die Schulter zu. »Was meinst du damit, ich soll leben und Hindernisse ... überwinden?«

Sie zog die Nase kraus und sah mich an, als stellte ich die dümmste Frage der Welt.

»Mach was, das du sonst nie tun würdest.«

Nein, nein, nein. Ich wollte wirklich nicht irgendwo runterspringen und dabei beten müssen, dass ich nicht als Matsch unten ankam.

»Aber was wäre das?«

Sie lachte und zuckte die Schultern. Anscheinend hatte sie ihren kurzen Groll gegen ihren eigenen Vorsatz vergessen. »Was weiß ich ... so was wie ...«

Ihr Blick schweifte an mir vorbei. Ich folgte ihm und erblickte den Typen, der vor wenigen Minuten noch von einer ganzen Schar Gäste umzingelt worden war. Jetzt stand er allein vor der Fensterfront und beobachtete mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht den Countdown. Er sah wirklich unverschämt gut aus in seinem dunkelgrauen, legeren Anzug mit dem offenen Jackett, dem weißen Hemd und der einen Hand in der Hosentasche.

»Küss ihn.«

Ich starrte Jaina ungläubig an. »Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Küss ihn um Mitternacht.«

»Aber ...« Meine Gedanken überschlugen sich. Ich schaute wieder zu dem Fremden, dann zu Jaina. »Und wenn er eine Freundin hat? Oder das gar nicht will?«

»Wer weiß – du wirst es nur herausfinden, wenn du es versuchst. Das bedeutet es, zu leben. Geh ein Risiko ein.«

Fünfzehn ...

Und damit war für Jaina das Gespräch beendet. Die Sekunden strichen dahin, aber in meinem Kopf fühlten sie sich träge und zäh an.

Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Ich konnte doch nicht einen wildfremden Mann küssen. Das war schon ziemlich übergriffig, oder nicht? Außerdem hatte Chuck erst vor wenigen Stunden mit mir Schluss gemacht.

Ich stand noch unter Schock, befand mich in Trauer.

Okay, so dramatisch war es nicht, aber trotzdem. Wie würde das aussehen, wenn ich ...

Wen wollte ich eigentlich beeindrucken? Chuck war nicht hier. Meine Eltern waren nicht hier. Nur Jaina und Miriam kannten mich und ich war mir zu dreihundert Prozent sicher, dass sie mich dafür nicht verurteilen würden.

Zwölf ...

Ich schluckte. Ein Kuss. Das war tatsächlich doch gar nicht dramatisch. Er sah gut aus, das machte die Sache durchaus leichter.

Zehn ...

Ich ging zu ihm. Meine Beine zitterten ein wenig, und wenn ich das Glas noch fester hielt, drohte es, zu zerbrechen. Das wäre doch ein Auftritt ...

Acht ...

Ich blieb vor dem Fremden stehen. Seine untere Gesichtshälfte wurde von einem gepflegten, braunen Bart verdeckt. Seine Augen, die mir den Atem raubten, betrachteten mich neugierig.

Sechs ...

»Hey«, begrüßte ich ihn mit wackelnder Stimme und hoffte, er würde mich über den Lärm hinweg verstehen. »Haben Sie ... eine Freundin?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Wie bitte?«

Vier ...

»Haben Sie eine Freundin? Oder ein Date?«, wiederholte ich energischer.

Er sah kurz von mir weg, als würde er damit rechnen, dass jede Sekunde die versteckte Kamera hinter der Bar hervorsprang. »Nein, habe ich nicht.«

Zwei ...

»Dann werde ich Sie gleich küssen. Bitte verklagen Sie mich deswegen nicht.«

Eins ...

Um uns herum explodierte die Welt. Feuerwerk schoss aus allen Ecken hoch in den sternenklaren Nachthimmel und jemand ließ an der Bar die Sektkorken knallen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, schloss die Entfernung zwischen dem Fremden und mir und küsste ihn mit erstarrtem Herzschlag. Nach einem kurzen Zögern legte er den Arm um meine Taille und erwiderte den Kuss auf eine Weise, die meine Beine in Wackelpudding verwandelte. Etwas in mir flammte auf und ich vergaß, dass wir uns in einem Raum voller Menschen befanden. Ich drückte mich eng an ihn und gab mich ganz dem Moment hin.

Seine Lippen schmeckten nach Honig. Honig und Leben.

What Love does

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