Читать книгу What Love does - Tina Köpke - Страница 6

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New York City war für mich der Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden konnten. Meiner Meinung nach gab es keine andere Stadt auf der Welt, in der alles möglich war – egal ob man ein Mann oder eine Frau, weiß oder schwarz, jung oder alt, hetero- oder homosexuell war. Und das lag an den Menschen, die hier lebten. Mit harter Arbeit, Einfallsreichtum und Ehrlichkeit konnte man hier den berühmten amerikanischen Traum wahr werden lassen. Man wurde mit offenen Armen empfangen und an jeder Ecke boten sich zweite, dritte oder sogar vierte Chancen auf einem Silbertablett an.

Wenn man neu durchstarten wollte, dann war man hier genau richtig.

Eine Woche nach Silvester stieg ich mit meiner kleinen Reisetasche in ein Taxi und gönnte mir die teuerste Fahrt meines Lebens von Elizabeth nach Queens. Die Reise dauerte über eine Stunde, was genug Zeit war, damit mich meine Mom anrufen und abermals auf Knien anflehen konnte, es mir anders zu überlegen.

»Erin, du hast viel zu schnell aufgegeben«, sagte sie mit ihrer typischen Art einer Vorstadthausfrau, die noch gelernt hatte, meinem Dad – dem Hauptverdiener der Familie – das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ich liebte sie, aber ich wollte nie werden wie sie. »Chuck ist ein guter Mann und vielleicht ... Ich meine, womöglich hättest du ...«

Ich unterbrach ihr Stammeln mit einem Seufzer. »Da gab es nichts, was ich hätte tun können.« Wir fuhren auf die George-Washington-Brücke, die Manhattan mit New Jersey verband. Die Oberfläche des Hudson Rivers schimmerte wie ein Meer aus Diamanten im kalten Licht der Sonne. Allein der Anblick füllte mein Herz mit neuer Zuversicht. »Und ich denke, dass Chuck möglicherweise recht hatte.«

Damit war die Katze aus dem Sack.

Eine Woche nach unserer plötzlichen Trennung war ich zu der Erkenntnis gekommen, dass er nicht ganz falsch gelegen hatte. Wir hatten uns festgefahren. Das bedeutete nicht, dass er mir nicht fehlte. Ich hatte nach Silvester drei Tage kaum das Bett verlassen, und das lag nicht daran, dass ich vom Champagner einen mörderischen Kater bekommen hatte.

Es waren die Erinnerungen an die sieben Jahre, die mir jeglichen Sinn fürs Leben raubten. Ich war so elendig einsam gewesen. Das Bett hatte sich ungewohnt leer angefühlt, die Wohnung still und verlassen. Niemand war mehr da. Nur ich, die furchtbare Einrichtung und die Erinnerungen, die wie rastlose Geister zwischen den Wänden umherwanderten.

Ich hatte in den Tagen viele Dokumentationen und Shows geguckt, in denen Menschen von vorne anfingen. Sie hatten ihre Jobs verloren, schlimme Beziehungen hinter sich gebracht oder eine schwere Krankheit überlebt. Aus allen negativen Erfahrungen waren sie gestärkt hervorgegangen und sie fingen daraufhin an, ihr Leben umzukrempeln.

Inspiriert von den Geschichten legte ich damit los, meinen Kleiderschrank auszusortieren. Ich hatte schon länger vorgehabt, mal so richtig auszumisten, aber wie es mit den meisten Vorhaben in dieser Richtung war, hatte ich es nur aufgeschoben. Mir fielen immer etliche Ausreden ein, mich nicht an einem Sonntag hinzusetzen und Hosen auszumustern, in die ich nicht mehr passte. Chuck mit seiner Vorliebe, sich an alte Dinge zu klammern wie ein Baby an die Brust seiner Mutter, war da auch keine große Hilfe gewesen.

Nur dieses Mal bekam ich wirklich meinen Hintern hoch und es war milde gesagt eine absolute Erleuchtung.

Als Teenager war ich nie ein mädchenhaftes Mädchen. Mom hatte versucht, mir als Kind Rüschenkleider mit schwarzen Lackschühchen schmackhaft zu machen. Sie war kläglich daran gescheitert, nachdem ich mehrere Male in Pfützen gesprungen war und mir beim Spielen Löcher in die Röcke gerissen hatte.

Klamotten mussten für mich immer schon praktisch und bequem sein, damit ich in ihnen auf Bäume klettern und Hütten im Wald bauen konnte. So sah meine liebste Freizeitbeschäftigung aus und das ging am besten in Latzhosen und Turnschuhen.

Heutzutage trug ich so was nach wie vor gern, aber ich hatte mich ein bisschen der Mode angepasst. Zumindest hatte ich das geglaubt, denn mein Kleiderschrank redete eine ganz andere Sprache.

Ich besaß so viele Jogginghosen und ausgeleierte Shirts, dass ich mich unweigerlich fragte, was ich auf der Arbeit angezogen hatte. Nicht, dass ich diesen Sachen plötzlich abgeneigt wäre, aber herauszufinden, dass meine Garderobe zu neunzig Prozent aus ihnen bestand, schockierte mich. Wo waren die hübschen engen Jeans hin, die ich an der Highschool so geliebt hatte? Und meine offenen Riemchensandalen aus dem ersten Sommer am Campus in New York?

Das alles war ersetzt worden durch alte Shirts, die zum Teil Chuck gehörten. Leider konnte ich nicht einmal behaupten, ich hätte sie nur zum Schlafen getragen. Ketchupflecken, Fettflecke und anderer, undefinierbarer Schmutz, den die Waschmaschine nicht hatte entfernen können, zeugten von zu vielen Gammelabenden, an denen ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht hatte, mich herauszuputzen.

Und grundsätzlich war das nicht schlimm.

Es war schön, dass Chuck völlig egal gewesen war, wie ich aussah. Aber es war gleichermaßen traurig für mich, dass ich mich so hatte gehen lassen. Das, was in dem Schrank hing, war nicht ich. Das war nicht der Mensch, der ich mal hatte werden wollen. Und das hatte mir die Augen geöffnet.

»Liebes, ich weiß, eine Beziehung ist hart, aber man muss für sie kämpfen, wenn sich eine Krise am Himmel auftut. Stürme ziehen wieder vorbei.«

Ich lächelte matt über Moms Weisheiten, die dazu geführt hatten, dass sie und Dad auf viele glückliche Ehejahre zurückblickten. Bestimmt hatte sie sogar recht, doch manche Stürme waren einfach zu groß, um sie auszusitzen.

Mom ließ mich erst auflegen, als der Taxifahrer von der Interstate 278 auf die Robert F. Kennedy Bridge fuhr und wir damit den East River überquerten, der zwischen Randalls Island und Queens lag. Jaina wohnte in einem vierstöckigen Backsteinhaus in der Crescent Street. Da wir uns immer auswärts getroffen hatten, kannte ich die Wohnung nur von Fotos, und ich war gespannt, was mich erwarten würde. Meine beste Freundin war vor einem Jahr mit ihrem älteren Bruder Paul hier eingezogen, der sich zu der Zeit als Fotograf hauptberuflich selbstständig gemacht hatte. Sie wiederum hatte bereits zu unserer Collegezeit angefangen, sich ein Business als Bloggerin aufzubauen. Wenn man sie so sah, glaubte man nicht, dass sie damit ihr Geld verdiente. Jainas ehrliche und authentische Art hatten ihr aber schnell so einige treue Leser und Follower eingebracht, die dazu führten, dass Firmen mit ihr zusammenarbeiten wollten. Dadurch konnte sie sich dieses Drei-Zimmer-Appartement scheinbar locker leisten.

Das Taxi hielt direkt vor der Eingangstür. Für einen Moment zögerte ich. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie unruhig der Fahrer wurde, aber mein Hintern fühlte sich an, als klebte er am Sitz fest. Wenn ich jetzt die Tür öffnete und den Fuß auf den Bordstein stellte, dann gab es für mich kein Zurück mehr.

Okay, das klang etwas melodramatisch.

Ich könnte jederzeit nach Elizabeth zurückkehren und meinen alten Job bei Dad in der Firma machen. Rein metaphorisch gesehen, war ich aber auf mich allein gestellt, wenn ich mich dazu entschied, mit Jaina zusammenzuziehen. Es gab keinen Chuck mehr, an dem ich mein Leben orientieren musste. Keine Mom und kein Dad, die mir sagten, was die richtige Entscheidung war. Es würde an mir liegen. Aussteigen und nach vorne zu schauen, anstatt gedanklich in einer sieben Jahre alten Blase festzuhängen, war der erste Schritt.

Der erste Schritt zu meinem neuen, glücklichen Ich mit dem perfekten Leben und dem verdienten Happy End. Genau das war mein Ziel.

Ich bezahlte den Fahrer, der einen erleichterten Laut ausstieß, und öffnete die Tür. Als ich festen Boden unter meinen Füßen spürte, griff ich nach meiner Tasche und stieg aus. Die Sonne war inzwischen hinter schweren grauen Wolken verschwunden, die aussahen, als würde es jede Sekunde anfangen zu schneien. Ich atmete die Kälte ein, die meine Lungen fast unangenehm füllte, und schaute mich um. Im Erdgeschoss befand sich Hemmingway Bakery, die Bäckerei und Konditorei von Miriams Eltern. Auf diese Weise hatten sich sie und Jaina kennengelernt.

Im Frühling war es hier bestimmt schöner. Der bisher schneelose Winter ließ die Gegend etwas blass und trist wirken, aber die kahlen Bäume und die mageren Sträucher würden, sobald es wärmer wurde, mehr Farbe in das Viertel bringen. Das Haus selbst sah gepflegt aus. Die roten Backsteine hoben sich vor dem grauen Himmel ab und Feuerleitern führten von Wohnung zu Wohnung bis runter zur Straße. In manchen Fenstern hingen Klimaanlagen, und ich betete, dass Jaina auch eine besaß. Im Sommer konnte es in New York unerträglich warm werden.

Ich ging drei Stufen hoch zu einer doppelflügeligen Eingangstür. Daneben befand sich ein Klingelbrett, auf dem ich den Namen Campbell suchte. Bevor ich den passenden Knopf drückte, wurde mir klar, dass dort auch bald meiner stehen würde. Philipps.

Erin Philipps, die in der Crescent Street in Astoria, Queens, wohnte.

In New York City, wo einfach alles möglich war.

Das Gebäude besaß glücklicherweise einen Fahrstuhl. Der machte sogar einen vertrauenserweckenden Eindruck, davon abgesehen, dass er furchtbare Musik in einer immer gleichbleibenden Schleife abspielte.

Während die Zahlen auf dem Display sehr langsam hochzählten, öffnete ich meinen neugekauften schwarzen Wintermantel und lockerte den cremefarbenen Kaschmirschal, den ich mir vom letzten Gehaltsscheck mit einer neuen Garderobe gegönnt hatte. Er war unheimlich weich, warm und viel zu teuer, aber Jaina hatte gesagt, ich sollte endlich leben, also hatte ich das Geld unvernünftigerweise auf den Kopf gehauen. Der Rest war für die Taxifahrt hierher draufgegangen.

Als die Fahrstuhltüren aufglitten, war ich gerade dabei, mir die Mütze runterzuziehen, als ich in jemanden hineinrannte.

Mein erster Tag im neuen Leben und ich tackelte wie ein Quarterback den nächstbesten Menschen fast zu Boden.

Warum überraschte mich das nicht?

Mein Gegenüber stolperte rückwärts, wir angelten nach der Hand des jeweils anderen und am Ende konnte ich uns nicht beide halten und wir flogen hin. Ich fiel zum Glück auf ihn und damit weich, aber er stieß ein Geräusch aus, dass sofort Sorge und Mitleid in mir hervorrief.

»Mist«, fluchte ich und stützte mich mit den Händen links und rechts neben seinem Gesicht ab, um seinen Blick zu suchen. Erst jetzt bemerkte ich, dass das nicht irgendein Fremder war, sondern Paul – Jainas Bruder. »Shit. Hast du dir wehgetan?«

Er blinzelte überrascht und schüttelte zu meiner Erleichterung den Kopf. Braune Locken fegten über seine Stirn. »Alles gut, aber deine Haare kitzeln in meiner Nase.« Er strich meine Strähnen aus seinem Gesicht.

»Ach herrje.« Ich setzte mich auf, nur um festzustellen, dass ich damit auf Paul saß und sich die Situation dadurch von unangenehm-schmerzhaft in unangenehm-peinlich verwandelte. Rasch stieg ich von ihm runter und reichte ihm eine Hand, die er ergriff. »Es tut mir furchtbar leid. Ich habe dich nicht gesehen.«

Er lachte und zog seine dunkelgrüne Outdoorjacke zurecht. »Dabei dachte ich, einsachtzig ist groß genug, um nicht von den Frauen über den Haufen gerannt zu werden.«

»Ich glaube, dass Problem bist nicht du, sondern ich«, gestand ich mit einem entschuldigenden Lächeln. Es war beinahe mehr Glück als Verstand, dass es Paul erwischt hatte und nicht irgendeinen zukünftigen Nachbarn. Jainas Bruder kannte ich bereits aus Collegezeiten ganz gut. Er würde mich wohl nicht verklagen, sollte bei unserem Sturz irgendetwas zu Bruch gegangen sein.

»Sieh dir das Chaos an«, sagte ich und deutete auf den Inhalt seiner Kiste, der sich auf dem dunkelblauen Flurteppich verteilte.

Ich entdeckte leichtes, nicht allzu teuer wirkendes Kameraequipment, einen Kulturbeutel, ein paar Klamotten und einen großen Teddybären. Instinktiv beugte ich mich runter und griff nach Letzterem. »Ist das deiner?«, fragte ich schmunzelnd.

»Nein, Mr Bubbles gehört Jaina.« Ich könnte darauf wetten, dass meine Freundin alles dafür tat, um die Existenz dieses Kuscheltieres vor der Welt geheim zu halten. »Sie wollte, dass ich ihn mitnehme.« Er zuckte die Schultern und schenkte mir ein unschuldiges Großer-Bruder-Lächeln. »Ich schätze, sie hat Angst, dass ich in der neuen Wohnung vereinsame.«

»Bestimmt«, erwiderte ich voller Behaglichkeit im Herzen. Jainas und Pauls Beziehung zueinander war beneidenswert. »Komm, lass uns deine Sachen einsammeln.«

Wir gingen in die Hocke und in wenigen Minuten hatten wir alles, was er bei sich getragen hatte, zurück in die Kiste geräumt. Ich griff nach einer kleinen Plastikdose, in der Speicherkarten klapperten, als Paul etwas sagte, womit ich nicht gerechnet hatte.

»Es ist übrigens toll, dass du wieder in New York bist.«

Ich schob mir ein paar lose Haarsträhnen hinters Ohr, die bei der Zusammenräumaktion abermals in mein Gesicht gefallen waren und nun drohten, in meinen Wimpern hängenzubleiben »Oh, echt?«

Er nickte. »Jaina hat dich sehr vermisst.«

»Ich sie auch. Mit ihr zusammenzuwohnen, ist einfach nie langweilig.« Ich stieß ein knappes Lachen aus, als mir klar wurde, wem ich das erzählte. »Aber das weißt du ja selber am besten.«

»Allerdings.« Er rieb sich mit der freien Hand am Hals. »Es tut mir natürlich für dich und deinen Freund leid.«

»Ja, es kam sehr ... unerwartet.« Ich umschloss den Henkel meiner Reisetasche fester. Auf einmal kam es mir vor, als hätte sich das Gewicht der darin befindlichen Sachen verdreifacht. »Aber ich denke, es ist besser so. Ich wünsche Chuck, dass er findet, wonach er sucht.«

»Du nimmst das erstaunlich gut auf.« In seiner Stimme lag weder Argwohn noch Skepsis. Er wirkte eher beeindruckt, und zwar auf eine positive Art, wobei das auch Einbildung sein konnte. So gut kannte ich ihn nicht, um seine unausgesprochenen Gefühlsregungen punktgenau zu deuten.

»Mir bleibt nichts anderes übrig«, schlussfolgerte ich mit einem tapferen Lächeln. So cool ich nach außen blieb, umso schwerer fiel es mir trotz aller Einsicht, in mir drinnen die Fassung zu wahren.

Es waren immerhin sieben Jahre gewesen. Sieben verdammte Jahre. Das hinterließ eine große Wunde, die jederzeit wieder bluten konnte. Aktuell tat sie nur weh und ich hatte nicht das Bedürfnis, sie durch Erinnerungen und Gespräche über Chuck aufzureißen. Das fanden nur Masochisten toll.

»Er muss ein ziemlicher Idiot sein, wenn er mit dir Schluss gemacht hat.« Paul drückte den Knopf zum Fahrstuhl, während mir seine Worte und ihre Bedeutung noch einmal durch den Kopf gingen. Die Aufzugtüren glitten hinter mir auf. Ich machte einen Schritt zur Seite und ließ Paul vorbei. Er blieb mit seiner Kiste im Arm auf den Schienen stehen, sodass die Türen im Rahmen verweilten. »Falls du mal Lust hast und meine Schwester dich doch langweilt, könnten wir irgendwann einen Kaffee trinken gehen.«

Oh. Das kam unerwartet.

»Gerne.« Was hätte ich sonst sagen sollen? »Irgendwann klingt ... gut.«

»Super. Ich denke, wir dürften uns nun öfter über den Weg laufen.« Aus dem hinteren Teil des Flures erklang ein hohes, ungeduldiges Bellen, was Paul als auch mir ein Lachen entlockte und die ganze Situation auflockerte. »Geh jetzt besser. Gypsy wartet schon.«

Ich nickte, hob die Hand zum Abschied und drehte mich weg. Hinter mir vernahm ich das typische Geräusch von sich schließenden Fahrstuhltüren. Erleichtert schnappte ich nach Luft. Sicher irrte ich mich, aber mit Paul – und zwar nur mit Paul – einen Kaffee zu trinken, fühlte sich ein bisschen wie ein Date an. Mir fiel es vielleicht schwer, allein zu sein, doch mit dem Bruder meiner besten Freundin auszugehen, schien mir nicht allzu clever. Davon abgesehen, dass ich bis heute nie den Eindruck hatte, er wollte mit mir ausgehen – und zwar nur mit mir.

Kopfschüttelnd lief ich den Flur hinunter. Meine Fantasie spielte mir einen Streich. Generell war mein Gehirn die letzten Tage nicht unbedingt mein bester Freund gewesen, aber wir hatten keine andere Wahl. Wir hingen aneinander fest und mussten irgendwie miteinander klarkommen.

Plötzlich hielt ich mitten auf dem Flur etwas Großes, Goldblondes mit kalter Nase und leichtem Mundgeruch im Arm. Gypsy. Ich war vor der Haustür in die Hocke gegangen, um mir von Jainas Golden-Retriever-Dame einen feuchten Begrüßungskuss abzuholen.

Gypsy war einer meiner absoluten Lieblingshunde. Sie musste ungefähr ein Jahr alt sein, und ich hatte sie das letzte Mal gesehen, als Jaina und ich uns mit ihr vor ein paar Monaten im Central Park getroffen hatten. Damals war Gypsy noch ein Welpe gewesen und größentechnisch nicht mit dem Hund zu vergleichen, der jetzt auf den Hinterbeinen stand, seine Pfoten auf meine Schultern legte und mir am liebsten komplett auf den Schoß gekrochen wäre. Ihr menschenliebendes Wesen hatte sich nicht verändert.

»Gypsy, runter«, befahl Jaina mit strenger Stimme. Sie wartete in einer kurzen, dunkelblauen Jeanslatzhose im Türrahmen und sah die Hündin aus zusammengekniffenen Augen an. Gypsy folgte dem Befehl etwas zögerlich, aber lief, bevor es noch mehr Ärger gab, schwanzwedelnd zu ihrem Frauchen.

Ich lachte. »Verrückt, wie groß sie geworden ist«, stellte ich fest und begrüßte meine Freundin mit einer innigen Umarmung. Danach trat sie zur Seite und ließ mich in die Wohnung.

»Ja, das stimmt. Sie ist gewachsen wie Unkraut und hat darüber hinaus irgendwie immer noch nicht verstanden, dass sie längst keine fünfzehn Kilo mehr wiegt.«

Was, wie ich fand, auch schon ein ziemliches Kampfgewicht war.

»Das habe ich gemerkt.« Grinsend zog ich meinen Mantel aus und legte ihn über meine Armbeuge. Gypsy war bereits in das Herzstück der Wohnung gelaufen, wo ein Napf mit Wasser auf sie wartete.

»Wow«, stieß ich aus und ließ meinen Blick über den offenen Eingangsbereich wandern. Die Wohnung sah live noch viel atemberaubender aus. Der Flur war kaum als solcher zu bezeichnen, aber dadurch, dass er direkt in das Wohnzimmer mit der Küche überging, wirkte der ganze Raum hell und weitläufig. Jaina und Paul hatten sich dazu entschieden, das rote Backsteinmauerwerk größtenteils hinter weißen Tapeten zu verstecken. Demzufolge reflektierte selbst im Winter das hereinfallende Licht von den Wänden und schenkte der Wohnung somit zumindest optisch etwas an Größe.

Die Möbel waren eine Mischung aus Flohmarktfund und Pottery Barn, die im Grunde auch nichts anderes taten, als teure neue Einrichtung nach altem Stil zu bauen. Und doch passten die Couch, der kleine Tisch – es war mehr eine abgewetzte Reisetruhe, die als Tisch fungierte –, die Stehlampe mit dem übergroßen Lampenschirm und der cremefarbene Teppich mit marokkanischem Muster unheimlich gut zusammen. Meine Abneigung gegen Secondhandmöbel verschwand augenblicklich. Begeistert saugte ich die Eindrücke der hellen Einrichtung mit den dunklen Holzakzenten wie ein Schwamm auf.

Bevor ich mehr sehen konnte, zog mich Jaina in die entgegengesetzte Richtung. »Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«

Der Raum, der mir gehören sollte, passte optisch zum Wohnzimmer. Weiße Wände, ein frisch gebohnerter Boden. Mein neues Reich.

»Es sind nur knapp vierzehn Quadratmeter, aber ...«

»Es ist perfekt«, fiel ich ihr ins Wort. Ich wandte meinen Blick von dem Zimmer ab und sah meine Freundin an. »Wirklich. Daraus kann man viel machen. Daraus kann ich viel machen.«

Jaina grinste. »Na dann – leg los.«

Okay, mein Enthusiasmus wurde dadurch etwas ausgebremst, dass ich praktisch keine Einrichtung besaß. Außer einem Einbauschrank und dem Bett, das Paul netterweise dagelassen hatte, stand in dem Raum absolut nichts und ich selbst hatte auch alle Möbel in der Wohnung – nunmehr Chucks Wohnung – zurückgelassen.

Was rückblickend nicht allzu schlau war. Zumindest wäre ein Tisch nicht schlecht gewesen. Oder eine Lampe, denn aktuell baumelte nur eine trostlose Glühbirne von der Decke. Und ich brauchte dringend Vorhänge. Zurzeit konnte mir der Nachbar von gegenüber ins Zimmer schauen, und ich war nicht darauf aus, kostenlose Peepshows zu geben.

Nachdem ich mich ausgezogen und Gypsy noch einmal ausgiebig den wuscheligen Bauch gekrault hatte, ließ ich mich auf das Sofa fallen. Was ich bei meiner Ankunft nicht gesehen hatte, war der hübsche, aber falsche Kamin gegenüber der Couch, und den darüber angebrachten Flachbildfernseher an der Wand. Diese Wohnung war wirklich traumhaft. Kein Wunder, dass Jaina trotz der hohen Miete nicht gezögert hatte, hier einzuziehen.

Zumal die Kosten im Vergleich zu anderen Bezirken in New York fast schon geschenkt waren. Aber auch nur fast.

»Okay, ich brauche Möbel«, stellte ich fest und setzte mich aufrecht in den Schneidersitz. Gypsy legte den Kopf flehend auf das Sofakissen. Fragend schaute ich zu Jaina, die mir mit einem stillen Nicken zu verstehen gab, dass sie auf die Couch durfte. Ich klopfte auf den Stoff und schon hing die Hündin halb auf mir und ließ sich den Nacken kraulen.

»Sie hat dich viel zu schnell um den Finger gewickelt«, bemerkte Jaina und reichte mir eine Tasse mit frisch gekochtem Kaffee.

Ich senkte den Blick und schaute lieber in Gypsys braune Augen als in Jainas Gesicht, das mir hochgradige Schwäche gegenüber süßen Hunden attestierte. Es war sowieso sinnlos, es zu leugnen. »Hättest du dir eine Schlange geholt, wäre ich deutlich willensstärker.«

»Hätte ich mir eine Schlange geholt, würde die hier alleine wohnen, was unfassbar teuer und unfassbar blöd für uns alle wäre.«

Da hatte sie recht. Sowohl Jaina als auch ich hatten echt Angst vor Schlangen. Darüber würde es also keinen Streit geben.

»Aber zurück zu der Möbelfrage.« Jaina setzte sich in einen Sessel, der schräg neben der Couch stand. »Wie groß ist dein Budget?«

»So klein, dass es dem Wort Budget wohl eher nicht gerecht wird.«

»Dachte ich mir.« Sie brummte nachdenklich. »Du könntest auf dem Flohmarkt welche kaufen. Morgen findet in der Nähe einer statt. Die Sachen sind nicht schlecht, aber manchmal muss was dran gemacht werden. Ansonsten gibt es auch noch die Sozialkaufhäuser.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Flohmarkt ist okay. Sozialkaufhaus kommt nicht in Frage.«

»Nur ... du hast praktisch kein Geld und keinen Job.«

»Trotzdem. Ich will nicht Leuten etwas wegnehmen, die es dringend gebrauchen könnten.«

Jaina zuckte die Schultern. »Okay, dann geht es morgen Früh auf den Flohmarkt. Weißt du denn schon, was du alles brauchst?«

»Nicht so richtig. Ein paar Dinge wie ein Lampenschirm, Vorhänge ... so was halt.« Ich biss mir auf die Unterlippe und sah hilfesuchend zu Gypsy, deren Kopf auf meinen Oberschenkel lag und die drohte, jeden Augenblick ins Reich der Träume zu verschwinden. »Was hatte Paul denn im Zimmer?«

»Einen Arbeitsplatz mit PC, einen Sessel, auf dem er seine Klamotten immer abgeworfen hat, und ein paar Regale, in denen er seine Bücher, Fotozeitschriften und Kameras aufbewahrte. Er war die meiste Zeit sowieso unterwegs und hat sich nur zum Arbeiten und Schlafen in sein Zimmer zurückgezogen.«

»Verstehe.«

»Die Frage ist also, was du mit deinen vier Wänden anstellen willst.«

»Was wiederum die Frage aufbringt, was ich generell anstellen will.«

Jaina nickte. »Gut möglich, ja. Da du dich aber nicht selbstständig machen möchtest, wird es vor allem als Schlafzimmer dienen. Ich habe gesehen, dass du auch nicht viel aus der alten Wohnung mitgenommen hast.«

»Nein, das meiste sind Klamotten, den einen oder anderen Film ... so was halt.«

»Wie wäre es dann, wenn wir drei Regale an der Wand anbringen, dir einen hübschen Sessel mit Fußhocker besorgen und eine Stehlampe? Oh, und ein paar pflegeleichte Zimmerpflanzen.«

Bei jedem ihrer Worte füllte sich der Raum in meinen Gedanken mit den erwähnten Stücken. Mir gefiel das Bild sehr, das sich daraus ergab. »Klingt gut. Aber du musst morgen mitkommen. Du hast ein unglaubliches Händchen für so was.«

Sie zog die Beine an und kuschelte sich tiefer in ihren Platz. »Ich verdiene damit quasi mein Geld. New Yorker Lifestyle ist nicht nur Lokalpolitik und das neueste Restaurant, sondern auch Ästhetik. Die Menschen lieben es, sich online anzusehen, wie Wohnungen eingerichtet sind.«

»Tja, das ist ein Grund mehr, wieso du damit Karriere machst und mir auf Instagram außer dir nur noch meine halbe Familie folgt.«

Worüber ich nicht traurig war. Ich bewunderte Jaina für ihr Business, aber die Onlinewelt war einfach nicht die meine. Mir graute schon davor, womöglich auf Dating-Apps zurückgreifen zu müssen, um jemanden kennenzulernen.

Ein Geräusch im Hausflur ließ Gypsy aufschrecken. Noch bevor wir wussten, was los war, sprang sie von der Couch, rannte zur Tür und blieb erwartungsvoll stehen. Ich sah fragend zu Jaina, die wiederum nur auf ihre schmale Armbanduhr schaute und nickte. Dann öffnete sich die Wohnungstür und Miriam trat in einer engen Jeans, Ankle Boots und einem dunkelgrünen Sweater ein.

»Ah, hey Erin«, begrüßte sie mich gut gelaunt. Ihre Aufmerksamkeit lag nicht lange auf mir. Gypsy nahm sie sofort für sich ein und es dauerte ein paar Minuten, bis sie Miriam wieder freigab.

Ich warf Jaina derweil einen fragenden Blick zu. »Miriam bringt einmal am Tag was aus der Bäckerei hoch. Da Paul und ich nicht immer da waren, hat sie einen Schlüssel.«

Das fand ich erstaunlich unkonventionell. Wäre es nicht seltsam, wenn einer der beiden mal Besuch gehabt hätte und Miriam plötzlich auftauchte? Obwohl ... dafür besaß ja jeder sein eigenes Zimmer.

»Ich habe Torte und frisches Brot dabei«, erklärte Miriam, die sofort in die Küche lief, dicht gefolgt von Gypsy. »Dad hat dein Lieblingsbrot gebacken«, sagte sie an Jaina gewandt.

»Uh«, stieß sie aus und erhob sich. »Ist es noch warm?«

Miriam warf ihr ein Lächeln über die Schulter zu. »Wärmer kann es kaum sein, daher ist es auch nicht geschnitten. Und da ich nicht wusste, wann Erin kommt, habe ich Erdbeertorte mitgebracht. Ich hoffe, das schmeckt dir?«

Nun war ich diejenige, die am liebsten freudestrahlend aufgesprungen wäre. Aber ich blieb sitzen, um nicht noch mehr Hektik in die Runde zu bringen. Jaina tänzelte bereits zusammen mit Gypsy um die Lieferung herum.

»Wenn ich auf diese Frage jemals mit nein antworte, müsst ihr mich erschießen«, sagte ich mit einem Lächeln und beobachtete das bunte Treiben.

Die offene Küche bestand aus einer Theke mit Unter- und Hängeschränken sowie einer schmalen Insel, die als Essplatz und Raumtrenner diente. Es gab einen großen Kühlschrank, einen Herd mit Dunstabzugshaube, sogar eine Mikrowelle und einen Geschirrspüler. Damit gab es eine bessere Ausstattung als in meiner alten Wohnung.

Nachdem Miriam Jaina und Gypsy vom Brot verscheucht hatte, servierte sie uns die Tortenstücke. Aus Platzgründen musste die Hündin dieses Mal mit dem Boden vorliebnehmen, denn Miriam setzte sich neben mich aufs Sofa. Ausgestattet mit Kaffee und Torte, wandte sie sich mir zu.

»Wie gefällt es dir hier?«, fragte sie mit diesem freundlichen Ausdruck in den Augen, der offenes Interesse widerspiegelte.

»Ganz gut. Die Wohnung ist wahnsinnig schön«, gab ich zu und kostete den Kuchen. Optisch sah er wie jede andere Torte aus. Drei Reihen mächtige Sahne wechselten sich mit drei Reihen Biskuitboden ab. Erst im Mund entfaltete sich der geschmackliche Zauber, denn die Schichten wurden von einem feinen Erdbeeraufstrich voneinander getrennt.

Ich hätte mich am liebsten in dem Tortenstück gewälzt, so lecker war es.

»Wir wollen morgen zum Flohmarkt«, erzählte Jaina. »Erin braucht dringend ein paar günstige Möbel.«

Miriams Lächeln wurde zu einem Strahlen. »Kann ich mitkommen?«

Ich sah zu Jaina. Sie nickte. »Klar. Sechs Augen sehen mehr als vier.«

Wir verabredeten uns für die frühen Morgenstunden – nur da gab es angeblich die wirklichen Schätze, darin waren sich beide einig. Ich dagegen konnte noch nicht so richtig glauben, dass ich dort etwas fand, dass mir gefallen würde. Meine Flohmarkterfahrungen mit Chuck hatten mich dahingehend irgendwie traumatisiert, doch ich wollte zuversichtlich bleiben. Jaina hatte in der Vergangenheit offenbar einige tolle Stücke ergattert.

»Hast du eigentlich schon Vorstellungsgespräche?«, fragte Jaina zwischen einem Bissen Torte und einem Schluck aus einer Kaffeetasse, auf der ein Foto von Gypsy abgedruckt war.

Ich schüttelte den Kopf und spürte einen Anflug von Unsicherheit in mir. »Direkt nach Neujahr sind die meisten Firmen noch gar nicht richtig besetzt.«

»Auch wieder wahr«, stimmte Jaina zu. »Aber ich halte mal die Augen offen. In New York gibt es eigentlich immer etwas zu tun.«

»Bestimmt«, murmelte ich und zerpflückte dabei gedankenverloren mein Stück Torte. Ich wollte definitiv arbeiten. Beschäftigung war genau das, was ich jetzt brauchte, nur wollte ich auch anständig bezahlt werden. Jaina hatte recht – in der Stadt gab es Unmengen an Jobs, aber nur ein Bruchteil bot faire Konditionen. Wenigstens eine Krankenversicherung und Mindestlohn waren mir wichtig, und damit siebte sich leider schon ein ziemlich großer Teil der offenen Stellen aus.

Es brauchte eben nicht nur in der Liebe eine Portion Glück.

What Love does

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