Читать книгу What Love does - Tina Köpke - Страница 6

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»Ich werde jeden Mittwoch einschalten«, versprach Erin, die auf meinem Bett saß und die Sachen, die ich ihr reichte, in meinen Koffer sortierte.

»Und ich behalte die Onlinewelt für dich im Auge.« Als wollte sie ihre Ansage untermalen, klebte Jainas Blick auf ihrem Smartphone.

»Ihr seid süß.« Ich hörte seit dem Anruf von Moe nicht mehr auf zu lächeln. Schlagartig rissen die Wolken über meiner Familie auf und ließen ein paar warme Sonnenstrahlen durch.

Zugegeben, die vergangenen Tage waren nicht so einfach gewesen. Meine Eltern hatten nichts von meinem Vorhaben gewusst, und als ich es ihnen nach der Zusage erzählt hatte, wurde mein Dad richtig wütend. Er verstand nicht, wieso ich ihm nicht zutraute, den Karren allein aus dem Dreck zu ziehen.

Seine Worte, nicht meine.

Inzwischen hatte sich die Stimmung in der Bäckerei gebessert und Dad machte es sich zur Aufgabe, mir einzubläuen, dass ich mich auf nichts einlassen sollte, was gegen meine – und damit im Grunde gegen seine – moralischen Werte sprach. Für ihn glich das Fernsehen einem Sündenpfuhl und ich verstand seine Sorgen. Es käme einer Lüge gleich, wenn ich behauptete, nicht nervös zu sein. Meine Freude überwog allerdings trotzdem.

»Das Taxi kommt morgen Früh?«, fragte Erin. Sie stapelte mein Lieblingskleid auf zwei meiner Röcke.

»Um zehn fährt es vor und bringt mich nach Woodbury.«

»Das ist ja gleich um die Ecke.«

Jaina stieß ein lautes Als ob! aus.

»Sie könnte auch nach San Fran müssen«, entgegnete Erin und verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

»Eine Dreiviertelstunde mit einem Taxi ist trotzdem nicht unbedingt nebenan.«

Sie würden mir beide fehlen.

»Es reicht, um euch an den wenigen Tagen zu besuchen, die ich frei habe«, wandte ich ein. »Außerdem wohnen und drehen wir auf einem Anwesen, das wirklich toll aussieht.«

Auf Woodbury Manor heirateten und feierten im Anschluss normalerweise jede Woche zahlreiche Paare, doch dieses Jahr gehörte die beste Saison allein Flour & Butter. Es fiel mir schwer, mir eine Showküche in den holzvertäfelten Räumen vorzustellen, die ich auf Fotos gesehen hatte, aber die Produzenten wussten schon, was sie taten.

Jaina hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Sie drehen auf einem Anwesen?«

»Nach allem, was ich weiß, ja«, sagte ich. »Soweit ich es den Unterlagen entnommen habe, wollen sie ein Setting in einer ländlicheren, aristokratischeren Umgebung als New York. Vermutlich wäre Großbritannien besser gewesen, aber es ist eine amerikanische Show, daher nehmen sie, was verfügbar und in der Nähe ist.«

Ich musterte meinen Kleiderschrank und überlegte, was ich noch mitnehmen sollte. Es war nicht gewünscht, dass wir das Anwesen öfter verließen als unbedingt notwendig, daher könnte ich nicht einfach nach Hause fahren, um meine Kleider auszutauschen.

»Ja, die ganze Crew und die Kandidaten ins Ausland zu fliegen, nur um in irgendeinem Downton-Abbey-Schloss zu drehen, ist schon etwas teurer.« Jaina lachte. »Aber warum müsst ihr unbedingt alle an einem Ort wohnen?«

»Weil Kandidaten aus anderen Bundesstaaten anreisen und sie nebenher Material für die Show drehen wollen. Irgendetwas mit Einspielern, Fototerminen und Interviews stand in den Papieren«, sagte ich.

»Hm«, brummte Jaina, als müsste sie die Informationen erst einmal sacken lassen.

Wenn ich nicht für längere Zeit in Woodbury bleiben müsste, hätte ich weiterhin meinen Eltern in der Bäckerei helfen können. Gleichzeitig wurde ich ganz hibbelig, wenn ich daran dachte, ein paar Wochen aus meinem Alltagstrott zu kommen. Zwar quälte mich das schlechte Gewissen, aber so aufregend wie aktuell war mein Leben schon lange nicht mehr gewesen.

Entschlossen machte ich mich daran, Schuhe rauszusuchen, die zu den meisten meiner Sachen passten. Das Geheimnis einer abwechslungsreichen Garderobe lag darin, alles miteinander kombinieren zu können. Das sparte Platz im Koffer.

»Na ja, Hauptsache wir sehen dich noch. Wenigstens digital«, sagte Jaina, kam auf mich zu und streckte mir ihr Handy entgegen.

Ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sie mir da so stolz präsentierte. »Hast du mir etwa ein Instagram-Profil erstellt?«

»Klar. Sobald dich die Zuschauer im Fernsehen entdecken, werden sie deinen Namen googeln. Dann landen sie auf deinem Profil, stellen fest, wie authentisch, kreativ und bezaubernd du bist, und folgen dir. Wenn die Show gut läuft, dürftest du schnell einige Tausend Follower bekommen.«

Hilfesuchend sah ich zu Erin, von der ich wusste, dass sie von Social Media ähnlich viel hielt wie ich. Mir fehlte die Zeit, um mein Leben in quadratischen, digitalen Bildern festzuhalten. Außerdem mangelte es mir eindeutig an spannenden Geschichten. Wer interessierte sich schon dafür, dass ich in aller Herrgottsfrüh in der Backstube stand und Teig knetete?

»Bringt mir das denn irgendetwas außer ... mehr Arbeit?«, fragte ich.

»Kommt ganz darauf an.« Jainas Augen leuchteten. Sie liebte ihren Job in der Onlinewelt, das merkte ich in solchen Momenten umso mehr. »Du musst dich natürlich thematisch positionieren. In deinem Fall das Backen. Du könntest deine Kreationen zeigen und den Standort der Bäckerei angeben, dann besuchen euch vielleicht deine Fans, um mal etwas zu kosten.«

Ich ließ von den silberfarbenen Riemchenpumps ab und wiederholte ihre Worte in meinem Kopf. »Das wäre gute Werbung, oder?«

Sie nickte und musterte mich eingehend. »Und sie ist kostenlos.« Ich hatte weder ihr noch Erin erzählt, wie schlecht es um die Hemmingway Bakery stand, aber etwas sagte mir, dass die beiden es trotzdem ahnten. »Miriam, du solltest die Aufmerksamkeit der Sendung für dich nutzen. Wenn die Leute dich mögen und dir folgen, lockst du möglicherweise auch Firmen an, die mit dir arbeiten wollen. Sie könnten die Bäckerei mit Geräten sponsern, euch Aufträge erteilen und vielleicht darfst du für einen Verlag ein Kochbuch schreiben.«

Die Türen, die sich vor mir auftaten, überforderten mich. »Das klingt alles toll, wirklich, aber ...«

»Aber?«

Ich sah hilfesuchend von Jaina zu Erin. »Ich habe von so was keine Ahnung. Und auch keine Zeit dafür. Wenn die Show vorbei ist, werde ich wieder von morgens bis abends in der Bäckerei stehen.«

»Lass uns einen Deal machen«, schlug Jaina immer noch voller Euphorie vor. Darum beneidete ich sie wirklich. Selbst wenn etwas unmöglich erschien, strotzte sie vor Energie. »Solange du Kandidatin bist, kümmere ich mich um den Account. Alles, was du tun musst, ist mir Fotos während deiner Zeit dort zu schicken.«

»Klingt nicht schlecht«, sagte Erin. »Allerdings sollte der Account nicht zu erfolgreich werden. Am Ende wollen so viele zur Bäckerei, dass für uns nichts mehr übrigbleibt.«

Jaina wackelte zustimmend mit den Augenbrauen.

»Das geht natürlich nicht«, sagte ich und ging wieder in die Hocke, um mich meinen Schuhen zu widmen. Ich besaß eindeutig eine zu große Auswahl. »Aber die Idee ist gut. Ich kann es mir zwar noch nicht richtig vorstellen und ein wenig macht mir das auch Angst, dass mir all diese Menschen folgen könnten, doch ... es ist kostenlose Werbung für die Bäckerei.« Das nicht wahrzunehmen, wäre dumm.

Jainas Wangen glühten vor Freude. »Ich liebe Projekte.«

»Danke dir. Euch beiden. Wirklich.«

»Du wirst das schaffen.« Erin schob sich lächelnd eine Haarsträhne hinters Ohr. »Und wenn du eine berühmte Bäckerin mit eigenem Buch bist, kommst du zu Donovan Records und wir gucken, ob in dir auch musikalische Talente schlummern.«

»Armer Adam.« Ich schüttelte den Kopf. »Ihm bluten die Ohren, sobald er mich singen hört.«

»Er weiß, wie ich unter der Dusche klinge. Glaub mir, er kann unmöglich noch lauter lachen.«

Jaina, die schon wieder auf dem Handy herumtippte, nickte, ohne aufzusehen. »Stimmt. Erin klingt wie ein Wurf gequälter Hundewelpen, wenn sie zu Shawn Mendes singt.«

Damit flog das erste meiner Dekokissen durch den Raum.


Am nächsten Morgen stand das Taxi pünktlich vor der Tür. Der Fahrer lud mein Gepäck ein – immerhin nur zwei Koffer, die dafür bis zum Bersten gefüllt waren – und fuhr mich nach Woodbury auf Long Island. Auf dem Weg dahin schlug mein Puls so schnell, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich schrieb ein wenig mit Erin und Jaina, aber das lenkte mich nicht von dem ab, was mir bevorstand. Es gab zu viele offene Fragen.

Werde ich die Erste vor Ort sein? Bitte nicht!

Bin ich spät dran? Gut möglich. Die Dreiviertelstunde Puffer, die ich eingeplant hatte, fiel dem dichten Vormittagsverkehr zum Opfer.

Sind die anderen Kandidaten nett? Ich hoffte es.

Jaina hatte noch am Vorabend versucht, über die richtigen Suchworte einige meiner Mitbestreiter im Internet ausfindig zu machen, aber sie war gescheitert. Ich vermied es, ihr gegenüber Henry zu erwähnen. Nach meiner eigenen, kleinen Recherche wusste ich, dass er sich jobtechnisch mit vielen Dingen über Wasser hielt, vor allem aber mit der Schauspielerei. Er hatte schon in dem einen oder anderen Werbespot mitgespielt, aber auch ein paar Wochen als Barista gearbeitet. Er wohnte laut seinem Facebook-Profil außerhalb von New York und ich vermutete, dass irgendein Bekannter aus der Branche ihm von dem Casting erzählt hatte. Was er bei einer Backshow wollte, war mir nach wie vor ein Rätsel, aber diese ersten Informationen reichten mir, um meine Neugierde vorerst zu befriedigen. Ich wollte, wenn möglich, nicht an ihn denken und mich permanent fragen, ob er heute auftauchen würde oder nicht.

Die für mich schlimmste Frage war jedoch, ob ich gewinnen konnte. Sie spukte wie ein Schatten durch meinen Kopf und hielt mich beinahe die ganze Nacht wach. Handwerklich rechnete ich mir durchaus Chancen aus, doch wenn noch andere Faktoren eine Rolle spielten? Zwar verrieten die Unterlagen, die wir vorab bekommen hatten, nichts darüber, aber das Casting und Henrys Bewerbung hatten in mir Zweifel geweckt, wie wichtig meine Fähigkeiten für diesen Wettbewerb wirklich waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Fernsehsendung nicht das war, was sie vorgab zu sein. Aber darüber hätte man mich informiert, oder?

Woodbury Manor lag mitten im Stillwell Woods Park. Ich kannte die Gegend nicht, aber als wir die Hauptstraße verließen und vor einem hohen, schmiedeeisernen Tor mit einer langen Auffahrt dahinter ankamen, bemerkte ich die Ruhe an diesem Ort. Sofort ließ ich die Scheibe runter und streckte meinen Kopf aus dem Fenster. Keine Sirenen durchschnitten die Gesänge der Vögel, kein Abgasgeruch unterdrückte die herrlich duftenden Frühjahrsblüher. Die rote Ziegelsteinmauer, die das Grundstück umschloss, wurde von lilafarbenen Büschen flankiert. Bienen summten hektisch in den Blütenköpfen, als bekämen sie gar nicht genug davon.

Ein Wachmann trat vor und wechselte einige Worte mit dem Taxifahrer, die ich nicht mitbekam, weil ich damit beschäftigt war, die warmen Strahlen der Maisonne und die klare Luft zu genießen. Kurz darauf öffnete sich das Tor und gab den Weg frei.

Kies knirschte unter den Reifen, während wir die Auffahrt hoch zum Anwesen nahmen. Laut der Website war das Herrenhaus im späten neunzehnten Jahrhundert mit damals noch achtzehn Zimmern sowie Stallungen erbaut worden. Bis heute wanderte es durch diverse Hände und erlebte einige Umbauarbeiten. 2005 ging es an seinen heutigen Besitzer über, der es restaurierte, um den Charme einer längst vergangenen Zeit für die Nachwelt zu erhalten. Das reichte von Backsteinsäulen mit Kalkstein-Ornamenten bis zu Gaslaternen, die die Zufahrt säumten.

Ich entdeckte eine großzügige Gartenanlage – eine von sechs, soweit ich mich erinnerte. Es gab Teiche, Pavillons und Wasserfälle. Saisonale Pflanzen wie Geranien, Petunien und Lavendel bereicherten den Anblick. Der Ort entsprang einem Traum. Einem viktorianisch angehauchten Traum. Kein Wunder, dass Paare hier heirateten.

Meine Aufmerksamkeit glitt von dem zweistöckigen Anwesen zu einer Gruppe Menschen vor der breiten Eingangstür. Als das Taxi zum Halten kam, drehten sie ihre Köpfe in meine Richtung und ich spürte, wie mich das Gewicht ihrer Neugierde erdrückte.

Tief durchatmen. Ein, aus. Ein, aus.

Ich musste hier keine Freunde finden. Schön wäre es trotzdem, wenn sich die anderen als nett herausstellten.

Ein letztes Mal strich ich mein Kleid glatt, was nach über einer Stunde Fahrzeit zwecklos war. Dank des bunten Blumenmusters fielen die kleinen Falten aber nicht allzu sehr auf und die zitronengelbe Strickjacke, die ich trug, verdeckte hoffentlich das knittrige Chaos auf meinem Rücken.

Ich stieg aus und zählte acht Kandidaten und Kandidatinnen. Bereits aus dem Casting wusste ich, dass es zehn Teilnehmer geben würde, die um das Preisgeld kämpften. Das hieß also, ich war nicht die Letzte – außer die fehlende Person hielt sich bereits drinnen auf.

Für mich gab es kaum Unangenehmeres, als zu einer großen Gruppe hinzuzustoßen. Die anderen mochten sich noch nicht allzu lange kennen, aber sie hatten schon ein paar Minuten miteinander verbracht, um sich zu beschnuppern. Nun starrten sie mich abwartend an, daher hob ich unbeholfen lächelnd die Hand.

»Hey.« Ich klang viel zu nervös. »Ich bin Miriam.«

Das brach den Bann des Schweigens. Gefühlt alle stellten sich auf einmal vor. Kurze Zeit später kannte ich meine Mitstreiter unter den Namen Elaine, Sam, Taylor, Kyle, Cheryl, witzigerweise gleich zwei Emilys – Emily R. und Emily C. – sowie Gordon und befürchtete, sämtliche Namen bis zum Ende des Tages wieder vergessen zu haben.

Trotzdem erleichterte mich der warme Empfang und sollte es Konkurrenzgedanken geben, suchte ich sie vorerst vergeblich. Es kam mir eher vor, als lernte ich eine Reisegruppe kennen und dabei gab es auf den ersten Blick schlimmere Menschen als die vor mir. Die Tatsache, dass wir fast alle zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahre alt waren, half ungemein, auch wenn es mich wunderte, dass offensichtlich nicht alle vom Fach waren. Das befeuerte meine Skepsis und Sorge bezüglich des Formates nur noch mehr.

Wir plauderten über unsere Castings, die landesweit stattgefunden hatten, sowie die Anreise. Manche kamen aus Kalifornien, Louisiana oder Utah. Andere wiederum – so wie ich – stammten aus New York und hatten das Glück, dass genau hier gedreht wurde. Es freute mich zu sehen, wie gut sich alle verstanden, und für den Augenblick glaubte ich sogar fest daran, dass es ganz lustig werden könnte.

Das änderte sich, als ein weiteres Taxi vorfuhr und Henry ausstieg. Sein dunkles Haar schimmerte in der Sonne, seine Augen versteckte er hinter einer Brille mit dunkel getönten Gläsern. Völlig untypisch für ihn – zumindest für sein sechzehnjähriges Ich – trug er einen hellen Anzug, der ihm etwas Italienisches verlieh. Soweit ich wusste, hatte er mit Italien so viel gemein wie ich mit China, aber sei es drum. Wen auch immer er damit beeindrucken wollte, es gelang ihm.

Er sieht halt verdammt gut aus.

Nichts Neues, liebes Gehirn.

Ich seufzte, während sich die jungen Frauen um mich herum anscheinend bemühten, nicht in Ohnmacht zu fallen. Leises Tuscheln erklang, als er sein berühmtes Lächeln aufsetzte, das mich damals schon in Schwierigkeiten gebracht hatte. Henry gehörte tatsächlich zu den Teilnehmern, genau wie von ihm vorhergesagt.

»Bin ich zu spät?«, fragte er gut gelaunt in die Runde.

»Nein, wir warten alle noch auf Instruktionen.« Die glockenklare Stimme gehörte einer brünetten Frau, die ungefähr in meinem Alter sein musste. Emily R., wenn ich mich nicht irrte. Sie machte einen netten, fürsorglichen Eindruck und war eine der Ersten gewesen, die mich begrüßt hatte.

Ich trat ein Stück zurück, als auch Henry die Begrüßungszeremonie über sich ergehen ließ. Wir mussten uns einander nicht mehr vorstellen, und wenn es nach mir ginge, wäre mir so wenig Kontakt wie möglich am liebsten. Das Ding mit ihm war, dass er Ärger anzog wie ein Magnet, und das brauchte ich nicht. Nicht hier, nicht sonst wo. Ich hatte genug Aufwand betrieben, damit diese Seite von mir begraben blieb.

Als sich alle vorgestellt hatten, traf sein Blick meinen. Für den Bruchteil von Sekunden verstummte die Welt um uns herum und ich fühlte mich wieder nackt. Seinen dunklen Augen ausgeliefert und schwach gegenüber seinem Lachen.

Die Flügeltüren von Woodbury Manor öffneten sich gerade rechtzeitig und heraus trat eine ganze Armee von Leuten. Dankbar, dass sie mich von meinem möglichen Problem ablenkten, wandte ich mich ihnen wie alle anderen zu. Moe und ihre zwei Kollegen vom Casting befanden sich in der Gruppe, die ausschwärmte und sich wie eine Insektenplage über dem Grundstück verteilte. Zwei Männer trugen schwere Kameras und richteten sie auf uns.

Filmten sie etwa bereits?

Es hatte zwar in den Unterlagen gestanden, dass man uns bei unserer Ankunft und auch immer wieder während unseres Aufenthaltes aufnehmen würde, aber ich hatte gehofft, wir könnten uns erst einmal einfinden, bevor es losging. Ich sah von der ganzen Aufregung bestimmt furchtbar aus, gleichzeitig erinnerte ich mich daran, nicht bei einer Modelsendung, sondern bei einem Backwettbewerb mitzumachen. Meine Optik sollte zweitrangig sein. Theoretisch.

»Liebe Kandidatinnen und Kandidaten«, begrüßte uns eine Frau in einem perfekt sitzenden, dunkelbraunen Kostüm. Ihr schneeweißes Haar, das ihr schmales Gesicht in kleinen, kinnlangen Locken umrahmte, wollte nicht ganz zu ihrem augenscheinlichen Alter passen. »Herzlich willkommen auf Woodbury Manor.«


Die Frau, die sich uns als Mrs Eleanore Alderidge vorstellte, entpuppte sich als die Verwalterin des Herrenhauses. Für die nächsten Wochen würde sie unsere Ansprechpartnerin in allem sein, was das Anwesen und dessen Personal betraf. Bestahl uns das Zimmermädchen, konnten wir uns bei ihr beschweren. Schmeckte uns das Essen nicht, ging diese Information direkt an sie.

Ihr gouvernantenartiger Blick ruhte auf uns wie auf einer Horde wilder Kinder, die es zu erziehen galt. Egal was kam – ich würde über nichts und niemanden meckern. Am Ende wäre ich noch dafür verantwortlich, wenn sie gegenüber den Pagen, die sich um unser Gepäck kümmerten, den Rohrstock rausholte. Zuzutrauen wäre es ihr.

Unser Flour & Butter-Abenteuer begann mit einer kleinen Führung durch das Haus, die Mrs Alderidge augenscheinlich liebend gern übernahm. Ich merkte mir nichts von dem, was sie dabei erzählte. In meinem Kopf schwirrten all die neuen Eindrücke wie Kolibris. Vielleicht lag es daran, dass ich nie viel herumgekommen war. Dieses Anwesen wirkte wie aus einem alten Roman gegriffen. Holzvertäfelte Wände, dunkel gemusterte Stofftapeten, gemütliche Sessel vor großen Kaminen. Überall hingen Ölgemälde mit mir fremden Landschaften oder Gesichtern. Frische Blumengestecke auf polierten Kommoden erfüllten die Räume mit einem angenehmen Duft.

Doch nicht nur die neue Umgebung sorgte für mein inneres Chaos. Eine Teilschuld trug auch Henrys Anwesenheit, die ich selbst dann noch spürte, als er am anderen Ende der Gruppe lief, also so weit wie möglich von mir entfernt. Immer, wenn ich zu ihm hinsah, schien er ganz vertieft in die Erzählungen der Verwalterin zu sein. Das passte so gar nicht zu ihm. Er war damals bekannt dafür gewesen, in jedem Schulfach – okay, den Sportunterricht einmal ausgenommen – zu schlafen.

Zuspätkommen und Schlafen hatten zu seinen Markenzeichen gehört. Das und die guten Noten, die er trotz allem schrieb. Die waren auch der Grund dafür gewesen, wieso die Lehrer ihn irgendwann einfach hatten gewähren lassen. Hauptsache, er störte den Unterricht nicht.

Ich wandte den Blick von ihm ab und konzentrierte mich wieder auf Mrs Alderidge. Ihre monotone Stimme lullte mich zunehmend ein, doch als wir den Hauptsaal betraten und dort eine Showküche vorfanden, ergriff mich die Vorfreude.

Zugegeben – noch sah alles ziemlich nach Baustelle aus, nur dass die Handwerker gerade nicht hier herumwirbelten. Das Setting wurde auf einer Art Podest aufgebaut, bestimmt um den alten Parkettboden zu schützen und all die Kabel, die aktuell ein riesiges Chaos bildeten, darunter zu verstecken. Trotzdem erkannte ich, worauf es hinauslief: zehn Theken, je fünf zu meiner Linken und fünf zu meiner Rechten. Das wären unsere Arbeitsplätze. Hier traten wir bald gegeneinander an. Ob danach die Stimmung kippte? Würden wir uns spätestens dann auch außerhalb der Kameras als Konkurrenz betrachten oder behielten wir uns das für die Liveshows vor?

Mrs Alderidges sauertöpfisches Gesicht verriet ihre Meinung zu dem Spektakel. Ich schob es darauf, dass sie sich um das Haus sorgte. So liebevoll, wie sie davon sprach, gefiel es ihr bestimmt nicht, wenn die Handwerker mit ihren schweren Bohrmaschinen auch nur in die Nähe der Wände oder Böden kamen.

Nachdem sie uns durch den Nebenraum geführt hatte, der wie eine Art kleiner Supermarkt oder sehr große Speisekammer aufgebaut war und alles beherbergte, was wir zum Backen brauchten, schob sie uns raus zum Eingangsbereich. »Als Nächstes zeige ich Ihnen unsere preisgekrönten Gärten«, rief sie über den Baulärm hinweg. Ich bildete mir ein, sie schwer seufzen zu hören. Sie mochte wirklich nichts von dem, was hier passierte.

Sie schickte uns durch den langen Korridor, der in der Lobby begann und an einem Salon endete. Von dort aus führte eine große, doppelflügelige Glastür in die hinteren Gärten. Breite Stufen leiteten uns über Steinplatten zu einer Terrasse, neben der ein runder Springbrunnen mit Wasserrosen plätscherte.

Ich hatte zwar einige Bilder von den Grünanlagen gesehen, aber die Realität traf mich trotzdem unvorbereitet. Efeu bedeckte die Mauern, die das Grundstück auf dieser Seite umschlossen, und eine Weide wiegte sich sanft im warmen Wind der Mittagssonne. Überall wuchsen wahllos bunte Blumen, voluminöse Sträucher und Büsche. Bäume, vermutlich Birken – ich erkannte es nicht genau, da sie etwas weiter weg standen –, spendeten den Gästen Schatten.

Schräg zur Seite verlief ein weiterer Steinpfad, über den uns Mrs Alderidge lotste. Maximal zwei Leute fanden hier nebeneinander Platz, der Rest gehörte dichten Stauden, deren Blätter saftig grün leuchteten. Wir erreichten einen Naturteich, auf dem Enten unter einer kleinen Brücke durchschwammen, um vor uns zu fliehen. Die Baumkronen raschelten leise und rosafarbene Kirschblütenblätter sanken auf uns herunter.

Magisch. Mir fiel kein Wort ein, das diesen Ort besser beschrieb. Eines Tages, so schwor ich mir, würde ich hier auch heiraten. Ich würde das Grundstück und das Haus für ein Wochenende, nein, vielleicht sogar für eine ganze Woche mieten, und jemandem versprechen, für immer an seiner Seite zu bleiben, in guten wie in schlechten Zeiten. Danach gäbe es unzählige romantische Picknicks und Lesestunden unter den Bäumen, während Vögel zwitschernd in ihren Tränken badeten und wir Woodbury Manor durch unsere Liebe in den Himmel auf Erden verwandelten.

»Du siehst aus, als würdest du planen, von dem Preisgeld hier ein Zimmer zu kaufen«, hörte ich Henrys raue Stimme hinter mir. Erst jetzt bemerkte ich, wie ich durch meine Begeisterung für die Umgebung hinter der Gruppe zurückgefallen war.

Ich drehte mich um und musterte ihn. Er lehnte an einem Kirschbaum und nahm seine Sonnenbrille ab, um mich mit einem vagen Lächeln auf den Lippen zu beobachten.

»Du solltest aufpassen«, sagte ich und deutete fahrig auf seinen hellen Anzug. »Der bekommt sonst noch Flecken.«

Betont gleichmütig zuckte er die Schultern. »Du hast doch die Worte des alten Drachen gehört – sie haben eine ausgezeichnete Wäscherei im Keller.«

Das hatte ich ehrlich gesagt nicht mitbekommen, aber trotz dieser Info stieß sich Henry vom Baum ab. Er schob eine Hand in die Hosentasche und kam auf mich zu. Vereinzelte rosa Blütenblätter regneten auf uns herab.

»Du hast es also in die Show geschafft.«

»Offenbar«, erwiderte ich und hielt seinen Blick fest. Ich konnte nicht den Finger darauflegen, aber etwas an seiner Art hatte mich immer schon gereizt. Nicht auf die verliebte Weise, sondern auf eine, die mein Blut vor Wut hochkochen ließ. In allem, was seine schmalen, geschwungenen Lippen verließ, schwang oft viel Provokation mit, und aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, in seiner Nähe Ruhe zu bewahren.

»Wundert mich nicht.« Sein Lächeln verzog sich zu einem Grinsen. »Du sollst eine ausgezeichnete Konditorin sein.«

Wachsam musterte ich ihn. »Woher weißt du das?«

»Deine Mom hat es mir erzählt.« Mir fiel fast die Kinnlade runter, was ihn sichtbar amüsierte. »Sie hörte gar nicht mehr auf, von ihrer überaus talentierten und bildhübschen Tochter zu schwärmen.«

»Wann ... Ich meine, wieso ...« Ich bekam keinen vernünftigen Satz zustande. Hatte er mich gerade tatsächlich bildhübsch genannt?

Nein. Mom hatte das getan und sie musste das sagen. Schließlich verdankte ich einen Großteil meines Aussehens ihren Genen.

»Letztes Jahr. Ich war zufällig in der Gegend, bin an der Bäckerei deiner Eltern vorbeigekommen und dachte mir, ich schaue mal hinein. Leider warst du nicht da.«

Ich spürte ein nervöses Flattern im Magen. »Ganz zufällig, ja?«

»Natürlich.« Er hob die Hand zum Schwur. Ich erkannte nicht, ob er log. Eine seiner vielen Fähigkeiten. »Heute wäre das weniger ungeplant, aber damals ...«

»Weil wir jetzt Konkurrenten sind.«

»Gut geschlussfolgert, Watson.«

Ich schnaubte und sah mich um. Unsere Gruppe war längst verschwunden. Hoffentlich verpasse ich nichts Wichtiges. »Henry, was willst du?«

»Da musst du schon genauer werden.«

Vertrauter Frust stieg in mir auf. »Ich meine hier. In der Show. Kannst du überhaupt backen?« Eigentlich hätte meine Frage anders gelautet: Kannst du den Kühlschrank öffnen, ohne dass er explodiert? Oder: Du wusstest damals noch nicht einmal, was der Unterschied zwischen Umluft und Ober- und Unterhitze ist! Doch das alles hätte die alte Miriam gesagt. Heute riss ich mich zusammen.

»Man sagt mir, ich mache ausgezeichnete Chocolate Chip Cookies.«

Fast hätte ich gelacht, entschied mich aber für ein Räuspern. »Ich glaube nicht, dass das reichen wird, um zu gewinnen.«

»Wer weiß.« Das wissende Lächeln auf seinen Lippen strahlte etwas Gefährliches aus. Vorsicht. Er hatte immer ein Ass im Ärmel. »Ich sagte ja, dass ich noch andere Qualitäten besitze, die offenbar begeistern.«

Na sicher doch. »Ja, ich erinnere mich.« Abermals schaute ich in die Richtung, in die unsere Gruppe verschwunden war. »Wir sollten besser weiter, bevor wir etwas Wichtiges verpassen.«

Ich wollte gehen, als Henry nach meinem Handgelenk griff. »Warte mal.«

Mit klopfendem Herzen blieb ich stehen und drehte mich um. Er stand so nah, dass sein warmer Atem meine Wangen streifte. »Was ist?«, fragte ich leise.

Für einen Augenblick betrachtete er mich schweigend. Das dunkle Braun seiner Augen verschmolz mit seinen Pupillen, und als er die Hand hob, hielt ich vor Anspannung die Luft an.

»Du hast da was.« Behutsam zupfte er mir ein rosafarbenes Blütenblatt aus dem Haar und zeigte es mir mit einem Lächeln, das nicht wie sonst vor Selbstgefälligkeit strotzte. Es unterschied sich von diesem wie Tag und Nacht

Etwas Undeutbares.

»Danke«, murmelte ich und wandte den Blick ab, um auf seine langen, schlanken Finger zu schauen, mit denen er sich früher auf Mauern hochgezogen oder Schlösser geknackt hatte.

Er ließ das Blatt los. »Und nun wieder zurück zu deiner Herde, du braves Lämmchen.«

Der Satz wirkte wie ein Kübel Eiswasser, das er mir über den Kopf kippte. Was sollte das heißen? Machte er sich über mich lustig? Bevor ich die Gelegenheit bekam, ihn zu fragen, ging er bereits davon.

Ich rannte ihm nicht hinterher. Warum auch immer er das gesagt hatte, ich würde mir nicht die Blöße geben und ihn zur Rede stellen. Vermutlich hatte er sich dabei nichts gedacht. Oder er hielt mich wirklich für ein dämliches Schaf, das blind und blökend dem Herdentrieb folgte.

Egal. Henrys Meinung interessierte mich nicht. Nicht mehr. Er spielte seine Spielchen und ich würde mich zurückhalten, um aus der Stille heraus den Sieg zu holen.

Henry entfachte mit seinen Provokationen eine alte Flamme in mir, die ich lange Zeit verdrängt und vergessen hatte. Meinen Kampfwillen. Ich würde gewinnen, um meinen Eltern das Leben leichter zu machen – und um Henrys Gesicht zu sehen, wenn ihm dämmerte, dass er verloren hatte.

Ausgerechnet gegen mich. Sein braves Lämmchen, das er unterschätzt hatte.

What Love does

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