Читать книгу What Love does - Tina Köpke - Страница 7

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»Miriam, was bedeutet Backen für Sie?«

Diese Frage hatte ich beim Casting schon vor der Kamera beantwortet, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was mir am Tag nach meiner Ankunft bevorstand.

Bereits während der Führung lernten wir die Produzentin der Show kennen: Regina Mitchell. Sie begrüßte uns und verkündete, dass wir früh schlafen gehen sollten, weil das Programm direkt am nächsten Morgen startete. Uns erwarteten Interviews, Garderoben- und Maskencheck sowie ein kleines Fernsehcoaching, damit wir uns vor laufender Kamera nicht völlig blamierten.

Um uns auf die Gespräche vorzubereiten, die unter anderem als Vorstellungseinspieler dienten, mussten wir alle früh in die Maske. Für mich war Bodhi verantwortlich, ein Visagist mit kurzen, wasserstoffblonden Haaren, dunkler Haut und einer Vorliebe für Shirts, die ungefähr zwei Nummern zu klein waren, um seine Muskeln zu betonen. Zumindest erzählte er es mir so. Von ihm erfuhr ich zum ersten Mal, was wirklich von mir erwartet wurde.

»Du musst einen bestimmten Platz in der Sendung einnehmen«, erklärte er. Seine Finger fuhren wie ein Kamm durch meine roten Haare. Ich hörte ihm aufmerksam zu und schaute dabei in den großen, breiten Spiegel vor mir. Von erholsamem Schlaf war vor lauter Aufregung nicht die Rede gewesen und das rächte sich bei zwei Nächten hintereinander durch leichte Schatten unter meinen Augen. »Es gibt immer die Schüchterne, den Draufgänger, die super Extrovertierte, das Genie und so weiter. Entweder lieben oder hassen dich die Zuschauer.« Er legte von hinten die Hände auf meine Wangen und drehte meinen Kopf im Licht, als wollte er prüfen, wie sich die Schatten in verschiedensten Blickwinkeln darauf abzeichneten. »Welche Position haben sie für dich vorgesehen, Liebes?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. Ich hörte zum ersten Mal davon, hatte aber allmählich eine gute Vorstellung, in welche Richtung die Sendung gehen sollte. Es war keine, die mir gefiel.

»Dann werden sie das bestimmt nach den Einspielinterviews entscheiden. Ich tippe auf das Mädchen von nebenan. Die Rolle würde gut zu dir passen, findest du nicht?«

Die Frage beschäftigte mich bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Make-up und meine Haare fertig waren und eine Regieassistentin mich in einem anderen Raum führte. Vor einem Erkerfenster mit dem Blick auf den Garten stand eine mit Schnittblumen gefüllte Bodenvase. Grelle Scheinwerferlichter beleuchteten die Stelle und es herrschte leises Stimmengemurmel, das mich an einen Bienenstock erinnerte.

Alles ging so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, mich auf den nächsten Schritt vorzubereiten. Eine junge Frau mit pinken Strähnen führte mich zu der Steinvase und deutete auf ein mit Tape geklebtes Kreuz am Boden, das ich unter keinen Umständen verlassen durfte.

»Sind Sie bereit?«, fragte ein Mann hinter den grellen Lichtern.

Nein, schrie eine Stimme panisch in mir. Ich sah vor lauter Lampen absolut nichts und hob reflexartig die Hand an die Stirn, um nicht weiterhin geblendet zu werden.

»Miriam«, wiederholte der Mann, »sind Sie bereit?«

»Ja«, presste ich unter aufkommenden Magenschmerzen hervor.

»Gut. Wir stellen Ihnen gleich ein paar leichte Fragen, die Sie bitte in die Kamera mit dem roten Lämpchen beantworten. Verhalten Sie sich so natürlich und entspannt wie möglich.«

Natürlich und entspannt widersprach doch dem, was Bodhi mir in der Maske über die verschiedenen Rollen verraten hatte, oder etwa nicht? Sollte ich mich nicht lieber verstellen? Oder doch tun, was sie sagten, damit sie sich ein besseres Bild von meiner Persönlichkeit machen konnten?

»Okay«, stimmte ich zu, obwohl rein gar nichts okay war.

»Dann geht es los in drei, zwei, eins ...«

Plötzlich herrschte absolute Stille. Orientierungslos suchte ich nach einem Gesicht in der Schwärze vor mir, die nur von den Scheinwerfern durchbrochen wurde. Alles war dunkel, finster und gleichzeitig schmerzhaft grell. Ich schwitzte in meinem weißen, schulterfreien Kleid.

»Miriam, bitte stellen Sie sich kurz vor. Name, Alter, Beruf und warum Sie hier sind.« Die Frauenstimme kam von irgendwoher, aber ich versuchte, mich an ihre für mich körperlose Präsenz zu klammern.

Aus einer Gewohnheit heraus strich ich über meinen hellen Rock, an dessen Saum sich rote Klatschmohnblüten entlangzogen. Tief durchatmen. Du kannst das. Als ich meinen Blick auf die kleine, rotleuchtende Glühbirne richtete – das Einzige, was mir in dem ganzen Licht- und Schattenspiel auffiel –, lächelte ich.

»Ich bin Miriam, dreiundzwanzig Jahre alt und ich arbeite als Konditorin in der Hemmingway Bakery, die meinen Eltern gehört.« Luft holen, ermahnte ich mich. Allmählich fingen meine Wangen an zu glühen. Hoffentlich lief ich nicht rot an. Das stand meiner Freundin Erin deutlich besser als mir. »Ich möchte bei Flour & Butter gewinnen, um meine Familie zu unterstützen. Mit dem Preisgeld könnte ich ihr einen Teil der Last von den Schultern nehmen.«

Die Fragestellerin wartete kurz, doch das war alles, was ich ihnen bieten konnte: Name, Alter, Beruf und wieso ich teilnahm. So unspektakulär, wie ich eben war. Sollten sie die Rolle der Zicke oder der unschuldigen Jungfer doch an jemand anderen vergeben. Wenn ich versuchte, mich zu verstellen, würde ich mich nur blamieren. Die sicherste Tour fuhr ich, in dem ich mich gab, wie ich nun einmal war. Freundlich, nett, langweilig.

»Miriam, was bedeutet Backen für Sie?«

Ich senkte nachdenklich den Blick und horchte in mich hinein. Wo zuvor Angst und Aufregung geherrscht hatten, fühlte ich mich auf einmal ruhig. Es lief gut oder wenigstens kam es mir so vor. Kein Grund zur Sorge. Irgendwie würde ich das hinbekommen.

»Ruhe. Wenn ich morgens in der Backstube neben meinem Dad stehe, dann herrscht absolute Ruhe. Ich genieße das sehr, denn New York ist ziemlich laut und hektisch. Wenn ich aber backe, dann ist das für mich wie meditieren.«

Gab es etwas Seltsameres, als vor fremden Menschen sein Innerstes nach außen zu stülpen? Wenigstens gewöhnten sich meine Augen allmählich an die Beleuchtung und ich erkannte schemenhafte Umrisse. Das machte es etwas leichter, aber nicht weniger eigenartig.

»Was ist Ihre Geheimwaffe?«

Ich blinzelte irritiert. »Was genau meinen Sie?«

»Wie wollen Sie gegen die anderen gewinnen?«

Das zog mir ein wenig den Boden unter den Füßen weg. »Ich ... ich weiß es nicht.«

Von irgendwo vernahm ich einen frustrierten Laut und spürte, wie die anfängliche Befangenheit zurückkehrte. »Miriam.« Die Frauenstimme bemühte sich hörbar um Geduld. Du hältst alle auf. »Gibt es etwas, von dem Sie glauben, dass es Sie von den restlichen Teilnehmern abhebt?«

Zuerst wollte ich entschieden nein sagen. Ich kannte meine anderen Mitstreiter so gut wie gar nicht. Das Einzige, was ich von ihnen wusste, war, dass ein Teil von ihnen nicht vom Fach war. Ihnen gegenüber hatte ich vielleicht einen Vorteil, wenn Talent hier zählte. Aber ansonsten?

»Qualität«, antwortete ich nach einem Moment der absoluten Stille. Das war das Einzige, was mir einfiel, auch wenn ich nicht sagen konnte, ob ich wirklich besser war als alle anderen. »Ich denke, ich werde gewinnen, weil ich bei dem, was ich tue, Herz und Handwerk vereine. Alles, was ich backe, bedeutet mir so viel wie einem Maler seine Gemälde oder einem Musiker seine Lieder. Deswegen werde ich gewinnen, denn das Backen ist nicht nur einfach mein Job, sondern meine große Liebe.«

»Super, herzlichen Dank.«

Mehr Feedback bekam ich nicht. Stattdessen tauchte wieder die junge Frau mit den pinken Strähnen auf und deutete mir an, das Feld zu räumen. Vermutlich wartete der nächste Teilnehmer bereits. Mir war das nur recht. Ich floh regelrecht vom Set und lief dabei an Henry vorbei. Unsere Blicke trafen sich, aber es ging so schnell, dass ich kaum darüber nachdenken konnte, wie lang er dort schon gestanden hatte. Hatte er mir zugehört? Gesehen, wie ich mich wie der letzte Mensch anstellte?

Keiner von uns hatte vorab die Gelegenheit dazu erhalten, sich auf das Interview vorzubereiten. Niemand außer Henry, der mir zugesehen hatte und nun ganz genau wusste, was auf ihn zukam. Brachte ihm das einen strategischen Vorteil, weil er seine Antworten besser formulieren konnte?

Ich schaute kurz über die Schulter und sah, wie er sich in einem weißen Shirt, dunklen Jeans und einer Lederjacke dort positionierte, wo ich zuvor gestanden hatte. Das Outfit passte viel besser zu ihm als dieser helle Anzug vom Vortag. Ob ihm jemand in der Maske dazu geraten hatte, weil es authentischer rüberkam?

Unweigerlich fragte ich mich, welche Rolle er in der Show übernahm. Vielleicht die des sexy Bad Boys?

Sollte er nervös sein, merkte man ihm das nicht an. Er sagte irgendetwas und alle in seiner näheren Umgebung lachten. Typisch Henry. Er wickelte jeden um den kleinen Finger.

Ich wurde einer Frau mit glatten, schwarzen Haaren übergeben. »Bereit für das Fotoshooting?«

»Nein«, erwiderte ich ehrlich. »Aber das ändert bestimmt nichts daran, dass ich es tun muss, oder?«

Ihr Ausdruck, in dem unerwartet viel Verständnis lag, reichte mir als Antwort.


Wir gingen in den Teil des Gartens, der voller dickstämmiger Eichen und bunter Tulpenbeete war. Die Pflanzen streckten ihre Blütenköpfe gierig in Richtung der Sonne und überall auf den Wegen wuselten Mitglieder des Produktionsteams herum. Ich entdeckte eine andere Kandidatin – Cheryl, wenn ich mich recht erinnerte –, die sich mit jemandem unterhielt. Sie sah in ihrem cremefarbenen Hosenanzug und dem dunklen Haar eher nach Business-Meeting aus als nach Fototermin, aber das musste nichts heißen. Ich gab für manche bestimmt auch nur das Bild einer jungen Vorstadthausfrau ab anstatt das einer Bäckerin aus Queens.

Ein Mann mit raspelkurzen Haaren und beinahe schneeweißem Ziegenbärtchen kam auf mich zu. In der einen Hand hielt er eine Fotokamera, die andere streckte er mir entgegen. »Miriam?« Ich nickte und ergriff sie. »Freut mich, ich bin Jagger McMaroy, der Fotograf, der die Ehre hat, mit dir zu flirten.«

Seine offenherzige Ansage entlockte mir ein irritiertes Lächeln. Wie alt war er? Der Farbe seiner Gesichtsbehaarung nach zu urteilen, vermutlich einiges älter als ich, aber seine Ausstrahlung hatte etwas Jungenhaftes.

»Okay«, sagte ich langsam und sah mich mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube um. Jagger und ich waren nicht mehr allein. Zwei junge Männer hetzten hin und her, während sich ein anderer mit einem großen, schimmernden Reflektor in Position brachte.

Jagger, dem wohl auffiel, wie nervös ich war, winkte mich heran, ehe sich die unangenehme Stille zwischen uns vertiefen konnte. »Ich habe mir überlegt, dass wir dich vor dem Brunnen oder im Pavillon fotografieren.« Er legte mir die Hand auf den Rücken und lotste mich zuerst zu dem kreisrunden Steinspringbrunnen, dessen Plätschern in dem geschäftigen Gewusel unterging.

»Wofür sind die Bilder?«, fragte ich.

»Promotion.« Er zuckte die Schulter und hielt die Kamera demonstrativ hoch. »Für Digital- und Printmedien. Wenn du Glück hast, hängt dein Gesicht bald irgendwo am Times Square.«

Nicht hilfreich. So ganz und gar nicht. Es lag mir nichts ferner, als auf diese Art präsent auf der Straße zu sein, aber es wäre sinnlos, das zu äußern. Da musste ich jetzt durch und hoffen, dass ich mich nicht völlig blamierte – oder nicht ausgerechnet mein Bild für die Werbung benutzt wurde.

Eine Frau puderte mich ein letztes Mal in Windeseile ab und zog meinen roten Lippenstift nach, dessen Ton perfekt zu dem Klatschmohn auf meinem Kleid passte. Währenddessen versuchte ich, nicht an meinen Fingernägeln herumzufummeln. Eine blöde Angewohnheit, wenn mich die Aufregung zu übermannen drohte.

Als endlich alle fertig waren, stand ich unbeholfen vor dem Springbrunnen und wusste nicht recht, wohin mit meinen Händen.

»Entspann dich einfach und mach, was du immer tust«, instruierte Jagger mich.

Klar, ist für mich auch ganz natürlich, vor einem Brunnen herumzustehen und wie eine Irre vor mich hinzugrinsen. »Ist es so okay?«

Es war schrecklich. Ich hörte das Klicken der Kamera, lächelte so breit ich konnte und drehte mich, eine Hand in die Taille gestemmt, immer wieder ein wenig zur Seite. Jagger gab mir Positionsanweisungen, aber je mehr Minuten verstrichen, desto stiller wurde er. Als er auch noch anfing, sich mit einem der Assistenten über dem Kameradisplay leise auszutauschen, wurde der Stein in meinem Magen zu einem Felsbrocken.

»Ich glaube, der Brunnen eignet sich nicht so gut«, schlussfolgerte Jagger und wir zogen zum zweiten Setting, das neben dem Pavillon aufgebaut worden war. Ein roter Backsteinweg, flankiert von stark duftenden, hüfthohen Fliedersträuchern, führte zu einem achteckigen Podest. Weiß gestrichene Holzsäulen stemmten das kuppelförmige Spitzdach, von dem Spatzen hochschreckten, als wir dort ankamen.

»Wie wäre es, wenn du dich mit der Schulter an die Säule neben dem Durchgang lehnst? Ganz entspannt.«

Ich wollte Jagger sein ganz entspannt um die Ohren hauen, denn nichts an dieser Situation kam der Bezeichnung auch nur im Ansatz nahe. So viele Eindrücke prasselten auf mich ein und jeder der Anwesenden schien zu erwarten, dass ich eine bühnenreife Performance hinlegte. War ich etwa die Einzige, die solche Probleme damit hatte?

Brav und auch ein bisschen frustriert folgte ich Jaggers Anweisung. Ich lehnte mich so locker wie möglich an den Balken, stemmte mangels einer alternativen Haltung die rechte Hand in die Hüfte und lächelte in die Kamera. Gerade als ich glaubte, es würde klappen, gab Jagger einen genervten Laut von sich.

»Miriam, was können wir tun, damit du nicht so verkrampft bist?«

Ich sog scharf die Luft ein. »Ich ... ich weiß es nicht.«

Jaggers Mundwinkel bogen sich nach unten. »Das ist schlecht.«

»Aber ich lächle doch«, wandte ich ein. Mich beschlich die Panik, dass ich mich für ihn zu einem Problemkind entwickelte. Das war definitiv nicht die Rolle, die ich wollte.

»Dann sag das deinen Augen. Und deinem Körper. Du stehst da, als hätte ich dir gesagt, du sollst Nacktfotos machen.«

Ich schluckte und kämpfte gegen meine Wut an. Wut auf ihn, weil seine anfängliche Freundlichkeit schnell der Ungeduld wich, und Wut auf mich, weil ich es nicht einmal schaffte, für Fotos meine Nervosität zu überspielen. Wie sollte das erst vor laufender Kamera werden?

»Und jetzt?«, fragte ich leise.

»Bitte?«

»Was passiert als Nächstes?«, wiederholte ich lauter.

»Tja, das hängt von dir ab. Kriegst du es hin, wenigstens ansatzweise auszusehen, als hättest du Spaß bei der Sache?«

»Ja. Ich meine ... ja, ich kann das.«

Ich hasste es, wie ein kleines Mädchen zu klingen, aber Jagger ähnelte den zwei Seiten einer Münze. Freundlich und ein bisschen flirtend oder knallhart und direkt.

»Gut, ansonsten nehmen wir eines, das wir vorhin geschossen haben. Vielleicht können wir in der Nachbearbeitung noch was herausholen.«

Ich atmete tief ein und aus. Nachbearbeitung. Unweigerlich dachte ich an die schlecht retuschierten Bilder von Promis in Klatschzeitungen. Am Ende besaß ich unnatürlich lange Beine und eine Oberweite, die fern jeder Realität lag. Nein, ich musste das hinkriegen. Für mich und für Mom und Dad.

»Okay, stell dich noch mal entspannt hin ...«, begann Jagger und ich ballte die Hände zu Fäusten, besann mich aber meiner inneren Ruhe. »... und denk an etwas, das dich glücklich stimmt.«

Ich befolgte den Rat und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Mit aller Macht schob ich meine Sorgen und Ängste beiseite und rief jene Bilder auf, die mir besonders viel Freude bereiteten. Mit Jaina und Erin abends auf der Couch sitzen und eine Pizza essen, während irgendein mittelklassiger Film lief. Kunden helfen, die Torte für ihren großen Tag zu kreieren. Meinen Eltern dabei zusehen, wie sie sich selbst nach Jahren noch romantische Blicke zuwarfen, egal wie sehr die Welt um sie herum brannte.

Meine Brust füllte sich mit Wärme und ich öffnete die Augen. Aus diesem behaglichen Gefühl heraus holte ich ein Lächeln hervor wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Hut. Es würde klappen. Definitiv.

»So wird das nichts.« Jaggers Bemerkung traf mich wie eine Ohrfeige. »Ich meine, ja, du lächelst, aber du stehst immer noch steif wie eine Statue da. Beweg dich wenigstens ein bisschen.«

Meine Augen brannten. Ich gab mir alle Mühe, zu tun, was er wollte, und trotzdem klang er, als wäre ich die größte Bürde, die er in seinem Job jemals auf sich nehmen musste.

»Darf ich mal?«

Ich wusste nicht, woher er kam und wie lange er schon in der Nähe war, aber Henry ging an Jagger, dem Assistenten und dem Halter des Reflektors vorbei, direkt auf mich zu.

»Was tust du hier?«, fragte ich leise, zu verwirrt und verzweifelt, um sauer darüber zu sein, dass er mein katastrophales Fotoshooting sprengte.

Er drehte Jagger den Rücken zu. »Ich helfe dir, also spiel mit.«

Ich hob den Blick und schaute ihm direkt ins Gesicht. Er wirkte völlig locker, aber auch, als würde er das, was er sagte, ernst meinen. »Du kannst mir nicht helfen«, erwiderte ich, doch anstatt darauf zu reagieren, hielt er mir seine Hand hin.

»Tanz mit mir.«

»Ich soll was

Ein flüchtiger Ausdruck von Freude huschte über seine Gesichtszüge. »Du hast mich schon verstanden, Miriam. Tanz mit mir.«

»Aber was ...?«

»Nicht reden, tanzen.« Er griff nach meiner Hand, legte seine andere an meine Hüfte und zog mich eng an sich. Aus einem Reflex heraus klammerte ich mich an seine Schulter und verdrängte das Klopfen meines Herzens. Hoffentlich spürte er es nicht. Es war der völlig falsche Zeitpunkt, um meine uralten Gefühle für ihn zu reaktivieren.

Plötzlich erklang Musik, blechern und kraftlos, vermutlich von einem Handy. Lover von Taylor Swift im Duett mit Shawn Mendes. Ich erkannte es sofort, weil ich das Album, von dem es stammte, liebte. Es war das perfekte Lied für einen Abschlussball.

Witzig, dass es genau jetzt lief. Mit sechzehn hatte ich darauf gehofft, mit Henry beim Prom zu tanzen. Und nun waren wir hier, mein Blick hing an ihm und alles in mir schrie nach alten Träumen und Sehnsüchten. Ich verfluchte mich dafür, denn damals hatte Henry mir in aller Regelmäßigkeit das Herz gebrochen, ohne es gewusst oder beabsichtigt zu haben. Jedes Mal, wenn er seinen Arm um ein anderes Mädchen legte oder es in aller Öffentlichkeit geküsst hatte.

Gott, ich hatte damals mein Herz an ihn verloren. Als er von heute auf morgen weggezogen war, glich das dem größten Schmerz, den ich bis dahin je gespürt hatte. Die Zeit hatte diese Wunde geheilt und die Erinnerungen an ihn verblassen lassen. Doch nun, da er zurück in meinem Leben war, riss sie wieder auf und brachte all die schwärmerischen, pubertierenden Wünsche zurück, die ich als erwachsene Frau gerne belächelt hätte. Stattdessen fühlte ich nur das, was wir nie gehabt hatten, und dieser Tanz führte mir vor Augen, wie es hätte sein können, mit ihm auf dem Abschlussball zu gehen.

Ich nahm das mechanische Klicken in der Ferne wahr. Selbst als Henry mich unter dem Pavillondach in eine ausladende Drehung entließ und gleich darauf wieder an sich zog, hatte ich keine Blicke für meine Umgebung. Alles verschmolz ineinander, als wären wir die einzigen Menschen auf diesem Planeten.

»Wo hast du so tanzen gelernt?«, fragte ich etwas atemlos, als wir wieder dicht zusammenstanden.

»Jeder Mann sollte wenigstens einige leichte Schritte beherrschen.«

»Dann kannst du keinen Tango? Ich bin enttäuscht.«

Er schmunzelte, legte einen Arm in meinen Rücken und drückte mich vorsichtig nach hinten. Ich musste ganz darauf vertrauen, dass er mich hielt, und dabei kam er mir so nah, als wollte er mich gleich küssen.

»Der Trick ist, von allem ein wenig zu können und andere glauben zu lassen, man wäre ein Profi auf dem Gebiet.«

Die Aussage passte so gut zu ihm. Vielleicht hatte er es damit in die Show geschafft. Wie ein Bühnenzauberer gab er vor, gut in etwas zu sein, was er nicht beherrschte. Er erweckte die Illusion, tanzen zu können, dabei waren es nur ein paar gute Schritte, die das Schauspiel aufrechterhielten.

Gott, ich musste mich wirklich in Acht nehmen, doch das vertraute Kribbeln in mir ließ selbst dann nicht nach, als er mich wieder hochzog und unsere Tanzhaltung löste.

»Ich glaube, sie ist jetzt das, was Sie entspannt nennen«, sagte er an Jagger gewandt. Erst da bemerkte ich, dass der Fotograf gar nicht mehr aufhörte zu knipsen. Henry schob die Hände in seine Hosentaschen und ließ mich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, unter dem Pavillondach zurück. Völlig durcheinander schaute ich ihm hinterher. Ich lächelte, auch wenn ich es gar nicht wollte.


Am späten Abend saß ich mit einem Pfefferminztee auf der Terrasse und beobachtete den Abendhimmel. Hier draußen auf Long Island war der Lichtsmog nicht stark genug, um die Sterne komplett zu überdecken. Sie schimmerten schwach, aber wie hunderte kleiner Diamanten über mir, während der Mond sein Licht auf das Gelände von Woodbury Manor warf. Der Anblick heilte mich von den Strapazen des Tages. Nach dem Fototermin hatte ich zuerst das Make-up loswerden wollen, das in dicken Schichten auf meiner Haut klebte. Es hatte seinen Zweck erfüllt, und nachdem mich niemand mehr von A nach B lotste, hatten sich wohl meine Pflichten für den Tag erledigt.

Die Erleichterung darüber sorgte dafür, dass aus fünf Minuten auf dem Bett ausruhen ganze sechs Stunden Schlaf wurden. Ich verpasste das Mittagessen und wachte erst am frühen Abend wieder auf. Zum Essen versammelten wir uns alle in einem der Salons und aßen Pizza, die die Küche frisch und individuell nach unseren Wünschen zubereitet hatte.

Ein wenig fühlte es sich wie eine Klassenfahrt mit Fremden an. Beim Essen tauschten wir uns über die Interviews und Fotoshootings aus, wodurch ich erfuhr, dass manche von meinen Mitstreitern richtig Spaß gehabt hatten. Andere waren wie ich froh gewesen, als es endlich vorbei gewesen war.

Andauernd fiel mein Blick auf Henry, der mir jedoch nur wenig Beachtung schenkte und sich wie so oft prächtig mit den anderen amüsierte. Meine Gedanken schweiften zu unserem Tanz unter dem Pavillon ab und den alten Gefühlen, die Henry geweckt hatte. Ob er mich als Konkurrentin betrachtete? Gehörte das zu einer ausgeklügelten Masche, mir den Kopf zu verdrehen, weil ich aufgrund meiner Expertise eine ernstzunehmende Gefahr darstellte?

Nein. Unmöglich. Ich war schließlich nicht die Einzige mit Erfahrung. Zwei Kandidaten – die blonde Emily C. und der Älteste in der Runde, Tyler – kamen direkt von einer renommierten Culinary School. Dort landete niemand, der nicht richtig viel Talent vorweisen konnte.

Allerdings wäre Henry zumindest eine Gefahr los, wenn er mir den Kopf so sehr verdrehte, dass ich nicht mehr wusste, wie man Eischnee überhaupt buchstabierte.

Ich seufzte unzufrieden und nippte vorsichtig an meinem Tee. Die heiße Pfefferminze verdrängte die abendliche Kälte in mir. Tagsüber schien die Sonne erbarmungslos auf uns herab, sobald sie jedoch unterging, zogen kühle Winde über diese Ecke von New York. Ich bereute, mir keine der dicken Decken aus dem Salon mitgenommen zu haben, aber unsere Runde hatte sich so plötzlich aufgelöst, dass ich daran nicht gedacht hatte.

Hinter mir hörte ich ein leises Knacken. Als ich mich ungeschickt umdrehte, erblickte ich Henry, der lässig auf mich zugelaufen kam.

»Stalkst du mich?«, fragte ich und meinte es nicht ganz ernst. Wobei es schon auffällig wirkte, dass er dauernd meine Nähe suchte.

Vorsicht, warnte meine innere Stimme mich, doch ich verdrängte sie.

»Wenn das in deiner Welt bedeutet, dass ich mich langweile und deswegen spazieren gehen wollte, dann ja.« Er setzte sich auf den Liegestuhl, der eine Armlänge entfernt neben mir stand. »Solltest du nicht deinen Schönheitsschlaf halten?«

Ich sah ihn mit gehobener Braue an. »Habe ich das denn nötig?«

Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Nein, aber vielleicht ist das ja dein Geheimnis.«

»Nur gute Gene.«

»Stimmt.« Sein Nicken wirkte ernst. »Du siehst deiner Mom ziemlich ähnlich.«

»Nur weil wir beide rote Haare haben.« Das war zumindest das, was allen zuerst auffiel.

»Nicht nur. Du könntest ihr jüngerer Klon sein, nur dass deine Lippen ein bisschen voller sind und deine Augen aussehen, als hätte man sie deinem Vater geklaut. Groß und braun wie Vollmilchschokolade.«

Dass er sich so genau damit beschäftigte, wie ich aussah, ließ mich sprachlos zurück. Ich dachte wieder an früher. Schon damals hatte er mit seiner Art das Interesse der Mädchen geweckt. Ich hatte keine Ausnahme gebildet, aber nie den Eindruck gehabt, dass er mich jemals lang genug auf diese Art beachtet hatte, um überhaupt zu wissen, welche Farbe meine Augen besaßen. Und doch war er hier, den Blick zum Himmel gerichtet, und verglich sie mit einer meiner liebsten Backzutaten.

»Ich hatte vorhin keine Gelegenheit mehr, mich bei dir für deine Hilfe zu bedanken.«

Er schenkte mir ein ruhiges Lächeln. »Es war nicht ganz uneigennützig.«

Ich hatte es gewusst. »Inwiefern?«, fragte ich und unterdrückte etwas, das sich wie Enttäuschung anfühlte.

Süße, bittere Enttäuschung.

Henry sah wieder schweigend zum Himmel und gerade, als ich dachte, ich würde vor Neugierde platzen, verschränkte er die Hände hinter dem Kopf. Da er noch die Klamotten vom Shooting trug, fielen mir die Muskeln seines Bizepses auf, die sich bei der Bewegung anspannten.

»Hast du schon von den Rollen hier gehört?«

»Das mit der Zicke oder dem Draufgänger?« Sein Nicken bestätigte meine Annahme. »Ja. Bodhi, mein Visagist, hat es mir vor dem Interview erzählt.« Ich hielt kurz inne und fügte leiser hinzu: »Ich finde das Konzept blöd.«

In seinem Lächeln lag etwas Wissendes. »Es geht darum, dass man sich beim Publikum beliebt oder unbeliebt macht. Polarisieren ist das Stichwort.«

Mir fielen wieder Bodhis Worte ein. Entweder lieben oder hassen dich die Zuschauer. »Wieso ist das so wichtig? Es geht doch darum, wer die besten Sachen backt.«

Henry lachte, vermutlich über meine Naivität. »Die Leute schalten entweder ein, weil ihnen Menschen sympathisch sind und sie diese gewinnen sehen wollen, oder weil sie einzelne Teilnehmer hassen und darauf hoffen, dass sie Scheiße bauen. So oder so sind die Produzenten daran interessiert, besagte Kandidaten besonders lange in der Show zu behalten, damit die Einschaltquoten stimmen. Niemand schaut schließlich weiter, wenn ihm die Teilnehmer egal sind.«

Das leuchtete mir tatsächlich ein und gleichzeitig legte es sich wie ein schweres Gewicht auf meine Brust. Das hier konnte nicht nur ein Beliebtheitswettbewerb sein. Oder doch? Das würde meine Befürchtungen verschlimmern. Musste ich mich wirklich verstellen, um zu gewinnen?

»Sie haben mich eingeladen, weil ich immerhin wirklich backen kann. Nur Amateure dabeizuhaben, würde das Konzept unglaubwürdig erscheinen lassen«, schlussfolgerte ich und dieses Mal konnte ich meine Enttäuschung kaum verbergen. Es ging ihnen tatsächlich nicht darum, wie gut ich mein Handwerk beherrschte, andernfalls hätten sie beim Casting meine Muffins probiert. Sie brauchten Strohpuppen, die der Show zumindest ein wenig Seriosität verliehen. Obwohl ich etwas in die Richtung geahnt hatte, hatte ich gehofft, danebenzuliegen.

Henry nickte langsam. »Am Ende gibt es keine Votings, sondern echte Profis, die die Ergebnisse bewerten. Wobei sie sicherlich darauf hingewiesen werden, wer besser weiterkommen sollte und wer nicht.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich kenne ein paar Leute, die bei solchen Produktionen mitwirken. Es ist im Grunde immer das gleiche. Die Quote ist alles, was zählt.«

»Warum ... Ich meine, was hast du davon, mir vorhin geholfen zu haben?« Ich musterte sein Profil. Seine Nase war nicht zu groß und nicht zu klein und in der Dunkelheit wirkte das, was ich von seinen Augen erkannte, schwarz wie Teer. Gleichzeitig strahlte er eine Gelassenheit aus, um die ich ihn beneidete. Er wusste über all das hier so viel mehr als ich. Ich tappte herum wie eine Blinde.

»Weil ich denke, wir könnten einander nützlich sein«, sagte er in einem prophetischen Ton, der mich hellhörig machte. »Sie werden niemals jemanden ins Finale lassen, der nicht im Ansatz backen kann.« Er drehte den Kopf in meine Richtung. »Wie du schon richtig geschlussfolgert hast: Gute Kekse machen noch keinen Bäcker aus mir.« Er lächelte unschuldig und bestätigte damit seine Aussage, dass er aufgrund anderer Qualitäten hier gelandet war.

»Ich verstehe immer noch nicht, wie meine Backfähigkeit dir helfen soll«, gab ich verwirrt zu bedenken. Worauf wollte er hinaus?

»Doch, wenn wir zusammenarbeiten, schon. Hey, sieh mich nicht so an.« Sein Lachen über meinen offenbar hilflosen Gesichtsausdruck hallte durch die klare Nacht.

»Tut mir leid, aber ich verstehe nicht, was du mir sagen willst. Wir treten schließlich gegeneinander an.«

»Ganz einfach. Wir sollen Rollen spielen. Und wir kennen uns ziemlich gut. Wir sind zwei durchaus attraktive Menschen. Du kannst backen, ich bin ein Geschenk für jede Kamera ...«

»Halt mal.« Ich hob eine Hand. »Deutest du etwa ... Ich meine, das kannst du nicht wirklich ...«

»Ich will, dass wir vor der Kamera so tun, als wären wir ein Paar.«

Ich starrte ihn fassungslos an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder.

Du willst mich doch reinlegen? Ich schluckte diese Frage hinunter. Er beobachtete mich abwartend, aber entschlossen, und ohne jeden Funken seines amüsierten Grinsens, sodass ich beinahe glaubte, es wäre ihm ernst.

»Du und ich?« Ich lachte schriller als gewollt. »Am besten haben wir uns während des Castings kennen- und über den Wettbewerb lieben gelernt.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Im Idealfall wird das unsere Geschichte sein, ja.«

Darüber musste ich gar nicht lange nachdenken. »Nein.« Ich schüttelte so energisch den Kopf, dass meine kupferroten Strähnen flogen. »Ich werde der Welt bestimmt nicht irgendeine Liebesgeschichte vorlügen. Ich bin Bäckerin, keine Schauspielerin.«

»Aber du bist vor der Kamera nicht wahnsinnig ... eindrucksvoll.«

»Wie aufbauend.«

Henry setzte sich seitlich auf die Liege. Auf einmal wirkte er so hellwach, als hätte ihm jemand ein Lockmittel vor die Nase gehalten. »Miriam.«

»Henry.«

Er lächelte knapp, ließ sich von mir aber nicht irritieren. »Wir ergänzen uns gut und du willst gewinnen, um deine Eltern zu unterstützen, stimmt’s?«

Also hatte er mein Interview vorhin doch mitbekommen. »Du kennst die Antwort«, murmelte ich und nippte an meinem Tee, der inzwischen kalt war. »Aber es kann nur einer den ersten Platz erreichen, und wenn wir das Preisgeld im Nachhinein teilen, dann reicht es nicht.«

»Ich will es gar nicht«, gestand er. »Mir reicht die Aufmerksamkeit als Finalist.«

»Was?«

»Ich gewinne sowieso nicht. Wie gesagt, ich kann Kekse backen, das war’s.«

In meinem Kopf schwirrten die Gedanken. Er legte es gar nicht auf das Preisgeld an – das hatte ich nie in Erwägung gezogen. Warum auch? Mir fielen wieder Jainas Worte ein: Wenn die Show gut läuft, dürftest du schnell ein paar Tausend Follower haben.

»Du nutzt die Sendung als Sprungbrett«, stellte ich verblüfft fest. Das ergab durchaus Sinn. Er war Schauspieler. Kein großer und bekannter, eher einer, der nebenbei Kaffee ausschenkte oder kellnerte oder sonst was tat, um sein Leben zu finanzieren. Diese Sendung könnte seiner Karriere einen Anstoß geben.

»Nicht nur ich.« Er zuckte mit den Schultern. »Leute wie ich profitieren von der Reichweite, die Produzenten von unseren einzigartigen, polarisierenden Persönlichkeiten. Das ist bei solchen Formaten normal.«

»Du glaubst ernsthaft, dass wir weit genug kommen, wenn wir so tun, als wären wir ein Paar?«

Jetzt lächelte er wieder und erfüllte die Dunkelheit mit Zuversicht und Begeisterung. »Ich bin davon überzeugt, dass wir es bis ins Finale schaffen können.«

Ich gab einen nachdenklichen Laut von mir und schaute in die nächtliche Stille. Henrys Vorschlag klang erschreckend plausibel und es wunderte mich nicht, dass er auf so eine Idee kam. Mein Dad hatte ihn mal einen Gauner genannt. Ein Gauner wie sein Vater, der vertrauensselige Nachbarn betrog, damit er seine Ziele erreichte. Nicht umsonst schlugen meine Alarmsignale an, wenn ich mich Henry gefühlstechnisch zu sehr annäherte. Er besaß alle Fähigkeiten, mich aufs Kreuz zu legen.

Außerdem – zu welch einem Menschen machte es mich, wenn ich mich solcher Methoden bediente? Mit Bauchschmerzen stellte ich mir vor, was meine Eltern und Freunde dazu sagten, wenn sie mich im Fernsehen so eine Nummer vorspielen sahen. Noch schlimmer wäre es, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählte über das, was Henry mir da vorgeschlagen hatte. Ich könnte ihnen nie wieder in die Augen schauen.

Außerdem – hatte ich das überhaupt nötig, nur weil ich bei einem Interview und einem Fotoshooting schwächelte? Möglicherweise fänden die Zuschauer das sogar ganz charmant, wenn sie sahen, dass ich ein paar Makel besaß.

»Ich denke, ich passe«, sagte ich nach einer kurzen Bedenkzeit. Ich wollte meine Prinzipien nicht über Bord werfen. Es musste auch ohne Betrug gehen, andernfalls könnten die Menschen, die mir am Herzen lagen, nicht stolz auf meine Leistungen sein.

»Hm.« Henry musterte mich eingehend. »Schade. Ich dachte, gerade dir würde das nichts ausmachen.«

Ich drehte den Kopf in seine Richtung. »Wovon redest du?«

»Na ja.« Er schmunzelte. »Du spielst doch sowieso schon eine Rolle in der Show, warum also nicht einfach dort ansetzen und sie etwas ausweiten?«

»Welche Rolle spiele ich denn deiner Meinung nach?«

Henry richtete den Zeigefinger auf mich und bewegte ihn hoch und runter. »Dieses ganze Brave-Mädchen-von-nebenan-Ding.«

»Das ist doch keine Rolle«, fuhr ich ihn an. »Das bin ich.«

»Nein, das ist, was du gerne wärst, aber du bist das definitiv nicht.«

Ich kniff die Augen zusammen. Was bildete er sich ein, mir zu erzählen, wer ich war? Selbst damals hatte er mich nicht so gut gekannt. Die meiste Zeit war er damit beschäftigt gewesen, in Auseinandersetzungen zu geraten, Wände zu besprühen und mit irgendwelchen Mädchen ins Bett zu steigen. »Und du glaubst, das zu wissen, weil ...?«

»Weil wir uns nicht erst gestern kennengelernt haben, Miriam. Ich erinnere mich ziemlich gut an unsere Zeit in der Highschool. Vor allem aber erinnere ich mich an dich, und diese ganze Blümchenkleidnummer bist du definitiv nicht. Du warst die, die einen tollen Hintern in kurzen Jeanshosen verpackte und jedem, der einen blöden Spruch abließ, den Mittelfinger zeigte. Und ich merke in unseren Unterhaltungen, dass diese Miriam noch immer in dir schlummert.«

Hitze, entfacht durch meine Wut über seine Verleumdungen, schoss mir in die Wangen. »Du hast mich praktisch nie beachtet. Du kennst mich kein bisschen. Und überhaupt«, ich schluckte, um mich in Zaum zu halten, »wir haben uns das letzte Mal vor sieben Jahren gesehen. Im Gegensatz zu dir verändern sich andere Menschen und wachsen an dem, was sie erleben.«

Henry schaute mich quälend lange Sekunden an, während ich versuchte, zu meiner inneren Ruhe zurückzufinden. Anstatt seine Meinung zu verteidigen, stand er auf und kehrte mir den Rücken zu. »Überleg es dir noch einmal, okay?«

Etwas in seiner Stimme brachte mich ins Schleudern.

Kein Spaß, kein Necken. Es war ihm wichtig. So wichtig, dass er nicht auf meinen Vorwurf einging und den Rückweg zum Anwesen antrat. Meine Worte ließ er ungeklärt in der Weite der Nacht hängen, genauso wie ich seine.

What Love does

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