Читать книгу Val Calanca - Tina Schmid - Страница 10

DREI

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Lea kam erst am Abend ins Rustico zurück. Sie hatte den Rückweg ausgedehnt und war noch den steilen Saumweg von Arvigo nach Braggio aufgestiegen. Dort oben hatte sie auf der Terrasse des «Al Negozio» Kaffee und Kuchen genossen. So hatte sie Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. An Daniel hatte sie kaum gedacht. Ihre Gedanken waren um das tote Baby gekreist. Die Grausamkeit der Tat schnürte ihr die Kehle zu. Wer tat so etwas und warum? Und dann auch noch an so einem idyllischen einsamen Ort. Es ergab keinen Sinn.

Später hatte sie die Seilbahn ins Tal genommen und war zu Fuss nach Buseno zurückgekehrt. Über eine steinige Schutthalde hatte sie klettern müssen. Sie war froh, heil angekommen zu sein.

Daniel sass auf dem Wohnzimmerteppich, als sie eintrat. Um ihn herum waren mehrere Papiere ausgebreitet, die er sofort wegpackte, als er sie hörte. Lea war erstaunt, ihn so anzutreffen. Hatte sie ihn doch noch immer tief im Bett vermutet.

«Was machst du da?», fragte sie.

«Ich …» Er hielt inne. «Ich sortiere die Entwurfsseiten meiner Arbeit», sagte er und verstaute alle Zettel in einem Mäppchen, das er ins Schlafzimmer brachte.

Daniel war seit einer gefühlten Ewigkeit damit beschäftigt, seine Masterarbeit in Geschichte zu schreiben. Die Krux an seinem berufsbegleitenden Studium war, dass er viel mehr Möglichkeiten hatte, seinen Abschluss hinauszuzögern. Das war Leas Meinung. Daniel sah es etwas anders. Es hatte sie entsprechend erstaunt, dass er seine Unterlagen in die Ferien mitnehmen wollte, sie hatte aber nicht widersprochen. Bisher hatte er jedenfalls nie etwas ausgepackt, und jetzt, da er krank war, vertiefte er sich in seine Arbeit. Lea war zielstrebiger. Sie hatte ihr Studium in Psychologie in Mindestzeit abgeschlossen und arbeitete seither in einer Rehaklinik.

«Dich soll mal jemand verstehen», sagte Lea in seine Richtung.

Daniel kam ins Wohnzimmer zurück und begrüsste sie mit einem Kuss auf die Wange. Tatsächlich fühlte er sich weniger fiebrig an.

«Dir scheint es besser zu gehen», sagte sie und betonte den Satz nicht als Frage.

«Ja, der Schlaf hat geholfen. Ich bin noch ziemlich schlapp, habe aber wieder Appetit. Gibt’s noch Spaghetti im Kühlschrank?»

***

Giorgio Rizzo sass beim Abendessen, als Alessandro nach Hause kam. Er setzte sich zu ihm und belegte Brotscheiben mit Käse und Salami.

«Wie war’s bei der Arbeit?», fragte Giorgio.

«Nichts Besonderes», antwortete Alessandro.

Giorgio sah ihn an. Kurz angebunden war er immer schon gewesen. Aber seit einer Weile fühlte er eine grosse Distanz zwischen ihnen. Sein Sohn war ihm fremd geworden. Er wusste nicht, wo er sich herumtrieb, wenn seine Schicht im Restaurant eigentlich längst zu Ende war. Er dachte an seine verstorbene Frau. Sie hätte das niemals zugelassen. Sie wäre hartnäckig an Alessandro drangeblieben. Giorgio aber fehlte die Kraft dazu. Er startete einen neuen Versuch, Alessandro in ein Gespräch zu verwickeln.

«Hast du von dem toten Baby im Fluss gehört?»

Alessandro zuckte zusammen und sah ihn entgeistert an. «Was?»

«In der Calancasca bei Cauco hat vorgestern eine Spaziergängerin ein totes Baby gefunden. Ich habe den Aufruf im Radio gehört und der Polizei sofort meine Beobachtungen gemeldet.»

«Was hast du denn gesehen?», fragte Alessandro, während er aufstand und sich die Jacke über die Schultern warf.

«Ich sah neben dem Haus deiner Grossmutter vor einigen Tagen einen Mann mit einem schwangeren Mädchen.»

Alessandros Augen weiteten sich. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ohne ein weiteres Wort trat er aus der Küche, und wenig später hörte Giorgio die Tür zuknallen. Er blieb verdattert zurück. Was war mit Alessandro los? Was wusste er über die Geschichte? Wohin ging er?

Als Giorgio seine Kaffeetasse umschloss, merkte er, dass seine Finger zitterten.

***

Die Mädchen sassen gelangweilt herum. Es ärgerte ihn, wie lustlos sie aussahen, und das geräuschvolle Kaugummikauen trieb ihn fast in den Wahnsinn. Es war noch zu früh. Die Kunden kamen erst später. Trotzdem hatten die Mädchen immer um diese Uhrzeit hier zu sein. Man wusste ja nie. Geschäft war Geschäft, das war sein Prinzip, und er wollte sich nichts entgehen lassen.

Er setzte sich in die hintere Nische, die er sein ufficio nannte, und wählte die Nummer. Seit Montag tat er dies gefühlte hundertmal täglich, und schon lange ging der andere nicht mehr ran, was seine Wut ins Unermessliche steigen liess. Was bildete der sich eigentlich ein? War er womöglich eingeknickt und zu den Bullen übergelaufen?

Dieses Arschloch hatte ihm das alles doch überhaupt erst eingebrockt. Gut gefallen hatte sie ihm. Mit Schwangeren liess sich viel Geld machen. Vor allem, wenn sie so jung und hübsch waren. Fast hätte er sein Ziel ja auch erreicht.

***

Alessandros Hände waren schweissnass, als er in sein Auto stieg und das Lenkrad umfasste. Sein Herz raste. Er atmete schnell. Er musste sie schnellstmöglich finden. Der Gedanke daran, dass etwas Schlimmes mit ihr passiert sein könnte, verursachte ihm Übelkeit. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und zwang sich, klar zu denken. Er drehte den Schlüssel und fuhr los.

Es war bereits dunkel, und auf der Strasse waren kaum Fahrzeuge unterwegs. Als er in Cauco in das Strässchen zum Haus seiner Grossmutter einbog, brannte in keinem der Fenster Licht. Sie ging immer früh zu Bett, das wusste er. Er interessierte sich heute sowieso nur für das Haus nebenan. Auch dort war alles dunkel. Die meisten Fensterläden waren geschlossen. Es sah aus, als sei niemand da. Der Cardoso war ja jeweils nur als Wochenend- oder Feriengast hier in Cauco. War er wieder abgereist? Hatte er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun oder sogar mit dem toten Baby? War es überhaupt ihr Baby?

Alessandro parkierte das Auto vor dem Haus seiner Grossmutter, stieg aus und ging auf das Nachbarhaus zu. Er klingelte. Nichts rührte sich. Er klopfte mit der Faust gegen die schwere Holztür. Immer noch nichts. Er nahm sein Handy hervor und sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Er tippte die Nachricht an, die von seinem Vater eingegangen war: «Wo bist du? Melde dich.»

Keine anderen Nachrichten. Er verstaute das Handy wieder in seiner Jackentasche, ohne geantwortet zu haben. Wo war sie? War sie womöglich …? Hatte sie sich den Weg eingeprägt? Er schätzte die Möglichkeit als gering ein, sie dort zu finden. Trotzdem musste er es versuchen. Eine andere Idee hatte er nicht. Den Gedanken daran, sie vielleicht nie wiederzusehen, verdrängte er vehement.

Mit dem Auto fuhr er zurück nach Selma und stellte es direkt neben der Talstation der Seilbahn ab. Der Parkplatz war leer. Am Ticketautomaten warf er die nötigen Münzen ein und setzte sich in die kleine Gondel. Als Kind hatte es ihn immer fasziniert, dass man durch das Drücken eines einzigen grünen Knopfes die Gondel eigenständig in Bewegung setzen konnte. Inzwischen war es für ihn so selbstverständlich, dass ihm die bedienten Seilbahnen merkwürdig vorkamen. Das Licht in der Kabine war schummrig. Trotzdem war er froh darum, denn rundherum war es bereits stockfinster. Dann fiel ihm ein, dass er die Taschenlampe im Auto vergessen hatte. Er würde sich auf das schwache Handylicht und auf seinen Orientierungssinn verlassen müssen.

***

Am späten Abend waren alle Ermittler im Speisesaal der Pension versammelt. Es waren zurzeit keine weiteren Gäste untergebracht, was ihre Arbeit erleichterte. Sie konnten den grossen Raum als Besprechungszimmer nutzen und mussten nicht in eines der Schlafzimmer ausweichen. Sie waren zu sechst: Flurin stand am Kopfende des Tisches vor einem Flipchart. Vorn am Tisch sassen sich Jon und Reto gegenüber. Etwas weiter hinten hatte Fritz mit seinem Assistenten Platz genommen, der Marco hiess. Alois stand am offenen Fenster und rauchte.

Der Raum erinnerte Flurin an die Schullager seiner Kindheit. Er war karg eingerichtet. Einfache, zweckmässige Holzmöbel und keine Dekoration. Auf dem Tisch standen grosse PET-Flaschen mit Eistee und Cola, daneben stapelten sich Pizzaschachteln. Einen Restaurantbetrieb gab es nicht. Das Frühstück wurde vom dorfeigenen Restaurant «La Roccia» geliefert, darüber hinaus hatten sich die Polizisten selbst zu helfen. Mit Flurins Vorschlag, ihnen in der Pizzeria von Selma Pizzen zum Abendessen zu holen, waren alle einverstanden gewesen. Es war kein Krümel übrig geblieben. Jon erhielt spontanen Applaus, als er nach dem Essen verschwand und mit einer portablen Kaffeemaschine zurückkehrte, die er aus seinem Büro mitgenommen hatte. Ansonsten war die Stimmung gedrückt.

Fritz Rüther, der Kriminaltechniker, berichtete von der vergeblichen Suche nach dem Schnuller. Die Sträucher an der Uferböschung nahe dem Leichenfundort wiesen zwar abgebrochene Äste auf, und es war wahrscheinlich, dass eine Person auf diese Weise zum Wasser gelangt war, um das Baby darin zu entsorgen. Trotzdem gab es dort keine weiteren Spuren. Der Regen hatte auch mögliche Schuhabdrücke vernichtet.

«Auf der anderen Seite der Calancasca, quasi schräg gegenüber dem Fundort, haben wir Reifenspuren entdeckt. Trotz Verwischungen durch den Regen konnten wir sie analysieren», fuhr Fritz fort.

Dann sah er zu Marco, seinem Assistenten, und nickte ihm auffordernd zu. Marco errötete leicht, nahm seine Notizen und erklärte: «Wir haben die Reifen sämtlicher Traktoren in der Umgebung des Tales untersucht. Das waren genau fünf. Auch mit den Besitzern haben wir gesprochen.»

Alois, der inzwischen ebenfalls am Tisch Platz genommen hatte, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. «Und?», fragte er ungeduldig.

Marco sagte: «Drei Traktoren sind ältere Exemplare, deren Reifen ein anderes und vor allem abgeflachteres Profil aufweisen. Sie scheiden also aus. Die anderen beiden kamen in Frage, wobei der eine Bauer sofort bestätigt hat, dass er dort am letzten Wochenende Heu eingefahren hatte. Gleich nebenan weiden seine schottischen Hochlandrinder.»

Die Runde schaute enttäuscht.

«Wieder kein Treffer!», fluchte Alois.

«Leider nein», sagte Fritz, um Marco zu bestätigen.

«Dieser Bauer scheint mir komplett unverdächtig zu sein. Falls ihr aber trotzdem nochmals mit ihm sprechen wollt, …» Er reichte Flurin einen Zettel mit Name und Telefonnummer sowie Adresse.

«Danke», sagte Flurin.

«Und wo ist der Schnuller abgeblieben?» Es war Alois, der mit Fritz’ Bericht noch nicht zufrieden war.

«Das zu verstehen gehört nicht zu meinem Aufgabenbereich», konterte dieser.

«Er könnte entfernt worden sein. Absichtlich oder auch nicht. Oder Lea Odermatt hat uns ein Märchen aufgetischt, was ich für eher unwahrscheinlich halte. Oder er wurde weggespült, oder ein Hund hat ihn als Spielzeug abtransportiert», mischte sich Flurin ein. «Lasst uns das einen Moment zur Seite legen.»

Er wollte gerade Jon das Wort erteilen, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick darauf und sah Majas Gesicht aufleuchten. Sein Herz wurde warm. Er stellte es auf lautlos und legte es umgedreht auf den Tisch zurück. Er würde sie gleich nach der Besprechung zurückrufen.

Jon räusperte sich und begann: «Wir wissen jetzt, dass der Mann, der am vergangenen Freitag aus dem Zürcher Auto stieg und anschliessend mit der Seilbahn nach Braggio fuhr, mit grosser Wahrscheinlichkeit Mauro Cardoso war. Er ist der Mann, der neben Giorgio Rizzos Mutter in Cauco ein Ferienhaus besitzt.»

Er deutete auf den Flipchart, auf dem alle bisher relevanten Namen aufgeschrieben waren.

«Die Beschreibung passt genau, und er ist Halter eines Wagens mit Zürcher Kennzeichen, da er im Kanton Zürich wohnt. Natürlich haben wir das Kennzeichen überprüft, das uns der Zeuge angegeben hat.»

Jetzt wurde auch Flurin langsam ungeduldig. «Kannst du bitte zum Punkt kommen?»

«Mauro Cardoso ist tatsächlich der Halter des Wagens. Übrigens hat auch Rizzo die knallige Farbe erwähnt», beendete Jon seine Ausführungen.

Flurin schrieb den neuen Namen auf den Flipchart.

«Habt ihr mit diesem Cardoso gesprochen?», fragte Reto, der bisher still zugehört hatte.

Zur Verwunderung aller ergriff Alois das Wort: «Der Gute wusste wohl, dass wir bald kommen würden, und ist ausgeflogen.» Er machte eine Handbewegung, um seine Aussage zu unterstreichen.

«Das Haus schien verlassen, einige Fensterläden waren geschlossen», bestätigte Jon. «Kann ja aber auch sein, dass er einfach wieder zu Hause ist. Ich schicke die Zürcher Kollegen vorbei.»

Flurin pflichtete ihm bei und sagte: «Wir müssen dringend in dieses Haus rein. Das scheint mir die bisher einzige heisse Spur zu sein. Ich kümmere mich gleich morgen früh um den Durchsuchungsbeschluss.»

Die anderen nickten.

«Für die Hausdurchsuchung bekommt ihr Unterstützung von den Tessiner Kollegen», sagte Flurin und gab Fritz und Marco eine Telefonnummer. «Ich möchte persönlich anwesend sein.»

Niemand widersprach.

Weiter berichteten Flurin und Reto von ihrem Treffen mit dem Gemeindepräsidenten. Dieser war aufgebracht gewesen, da er sich um den Ruf des Tals sorgte. Aber er sicherte der Polizei jegliche Unterstützung zu. Er stellte für die nächste Pressekonferenz einen Raum im alten Gerichtshaus von Arvigo zur Verfügung. Sie hatten den Fundort und weitere Orte, welche die Anrufer erwähnt hatten, besucht, leider aber keine nennenswerten Anhaltspunkte gefunden. Auch die Spaziergängerin, die das tote Baby entdeckt und die Polizei alarmiert hatte, hatte Flurin heute getroffen. Er erfuhr aber nichts, was sie nicht schon wussten. Er war sich sicher, dass die Frau mit dem Fall nichts weiter zu tun hatte.

In der Folge erklärte Flurin die Sitzung für beendet, berief aber gleichzeitig eine weitere Kurzbesprechung für den folgenden Morgen ein.

Dann fragte Alois: «Wer kommt auf ein Bier in die einzige Beiz in diesem gottverlassenen Kaff?»

Einige schüttelten den Kopf, andere lehnten mit entschuldigenden Sätzen ab. Dies hielt Alois keineswegs davon ab, aufzustehen und in die Nacht zu treten.

***

Sie hatte ihr Zimmer den ganzen Nachmittag nicht verlassen. Sie lag auf dem Bett, hielt die Hände auf den Bauch und stellte sich vor, wie dieses kleine Wesen in ihr wohl aussah. Sie vernahm, wie ihre Mutter im Haus herumtigerte, den Staubsauger betätigte und telefonierte. Wen rief sie an? Ihre Mutter hatte keine Freunde. Zumindest keine, von denen sie wusste.

Gegen Abend klopfte es an die Tür. Ihre Mutter steckte den Kopf herein und fragte, ob sie eintreten dürfe. Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Mutter setzte sich auf den Bettrand, sie drängte sich an die Wand.

«Ich habe alles organisiert», sagte sie.

Sie schaute ihre Mutter ungläubig an. Was gab es jetzt zu organisieren? Natürlich gab es viel, was geklärt werden müsste. Ob sie ihre Lehrstelle im September trotzdem antreten konnte zum Beispiel. Aber das hatte noch Zeit. Es war ja noch ganz am Anfang. Ihre Mutter fuhr fort: «Du hast morgen früh ein Beratungsgespräch und nachmittags ein Vorgespräch bei Dr. Menzi, das ist aber reine Formsache. Am Mittwoch wird es dann weggemacht. Es ist nur was Kleines, es wird dir nicht mal wehtun.»

Ihre Lippen begannen zu zittern, aber sie brachte keinen Ton heraus. Erst als ihre Mutter das Zimmer wieder verlassen hatte, drang die Bedeutung der Worte langsam zu ihr durch. Sie konnte es kaum fassen. Sie wollten es ihr wegnehmen. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über das Gesicht. Dann fasste sie einen Entschluss.

***

Sie hatte die Hütte nicht verlassen, seit sie angekommen war. Sie traute sich nicht raus, aus Angst, gesehen zu werden. Denn obwohl die Hütte abgelegen im Wald lag, gab es Wanderwege in der Nähe. Wie spät war es? Sie hatte kein Handy, und die Kirchenglocken hörte sie nicht, dafür war sie zu weit vom Dorf entfernt. Seit sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie dieses komische Gefühl im Bauch. Es war eines, das nichts mit der Wunde in ihrem Unterleib zu tun hatte. Eher eine Befürchtung, die in den ganzen Körper ausstrahlte und schliesslich von ihren Gedanken Besitz nahm. Er kam ihr näher, das spürte sie. War Mauro auch dabei? Oder war es die Polizei, die sie suchte? Hätte sie bei ihnen Hilfe suchen sollen? Nein, die hätten ihr niemals geglaubt. Und sie hätten sie nicht beschützen können. Er hatte seine Arme überall. War es auch möglich, dass Alessandro in ihrer Nähe war? Wusste er überhaupt Bescheid? Zählte er eins und eins zusammen? Nein.

Es war zu riskant. Sie konnte nicht länger bleiben. Sie musste weg. Wohin, wusste sie nicht. Ob sie es schaffen würde, ebenso wenig. Noch immer tropfte Blut aus ihr heraus.

***

Der Weg nach Landarenca schien ihm länger als sonst. Er war ihn schon oft gegangen, weil er keine Seilbahnen mochte. Sie lösten eine diffuse Angst in ihm aus, eine Panik, die er nicht in den Griff bekam. Aus diesem Grund hatte er einfach aufgehört, sich ihr auszusetzen. Er glaubte nicht, dass sie sich hier oben versteckt hatte, aber er wollte nichts unversucht lassen. Der andere würde keine Ruhe geben, wenn er es nicht täte. Bald würde er sich nicht mehr mit Anrufen zufriedengeben.

Trotz Taschenlampe war es schwierig, nicht vom steinigen Weg abzukommen. Im Dunkeln schien es ihm noch unwahrscheinlicher, sie zu finden. Aber er konnte nicht bis morgen warten.

***

Maja nahm den Anruf sofort entgegen. Sie flüsterte, vermutlich um Mila nicht zu wecken.

«Hallo, mein Schatz», sagte er und versuchte, zärtlich zu klingen.

«Hallo», sagte Maja, und er hörte an ihrer Stimme, wie müde sie war.

Sie war gar nicht begeistert gewesen, dass er wegen dieses Falles nun nicht mal mehr abends oder nachts nach Hause kommen würde. Seit Mila auf der Welt war, war Maja ängstlicher geworden. Sie sorgte sich um ihn und wollte kaum mehr etwas von seiner Arbeit hören.

«Wie war dein Tag?», fragte er.

«Mila war quengelig heute, ich bin froh, dass sie endlich eingeschlafen ist», antwortete Maja und wollte wissen, ob seine Unterkunft in Ordnung sei.

Sie tauschten noch ein paar Belanglosigkeiten aus, dann wollte Maja schlafen gehen. Er schickte ihr einen Kuss durch die Leitung und meinte, einen zurückbekommen zu haben.

***

Als Alessandro aus dem Gebäude der Bergstation trat, war keine Menschenseele zu sehen. Er ging an einigen Häusern vorbei, von denen nur noch ganz wenige beleuchtet waren. Mühelos fand er die Abzweigung zum Wiesenpfad, der ihn zum Waldrand hochführte. Er hörte die Glocken der Kühe und hoffte, keiner von ihnen zu begegnen. Er ärgerte sich, dass er die Jacke im Auto liegen gelassen hatte. Es wurde hier oben nachts auch im Spätsommer empfindlich kühl. Er fröstelte in seinem dünnen Pullover.

Als er den Waldrand erreicht hatte, war eine Viertelstunde vergangen. Er atmete heftig, der Hang war steil, und er war beinahe gerannt. Mit dem Handy versuchte er, den Boden zu beleuchten, um nicht zu stolpern. Im Dickicht zerkratzte er sich das Gesicht. Er schrie auf. Alessandro hatte keine Ahnung, ob er richtig lief, er folgte einfach seinem Gefühl. Tatsächlich täuschte es ihn nicht. Nach einigen Minuten hatte er die kleine Hütte erreicht. Er blieb stehen. Er fürchtete sich. Was, wenn sie schwer verletzt oder sogar tot war? Er wischte den Gedanken vehement zur Seite, während er den Türgriff nach unten drückte. In der Hütte war es noch finsterer als im Wald. Mit der Handylampe leuchtete er sie aus.

«Hallo?», rief er.

Keine Antwort. Sie war nicht hier.

***

Zu seinem Erstaunen war das «La Roccia» in Augio trotz später Stunde gut gefüllt, als Alois in die Gaststube eintrat. Der Raum war eng, und die Decke hing so tief, dass er reflexartig den Kopf einzog, als er über die Schwelle trat. Es war laut und stickig. Das Rauchverbot war hier offenbar noch nicht angekommen. Ein Grund sich zu freuen, dachte Alois und zog sich sogleich eine Zigarette aus der Hemdtasche. Die wenigen Tische waren alle besetzt. Er setzte sich zu drei Männern, die sich angeregt auf Italienisch unterhielten. Deutsch war im Raum keines zu hören.

Er fühlte sich wie im Zoo, so unverfroren musterten ihn die anwesenden Männer, derweil er nur eine Frau am hinteren Ecktisch ausmachen konnte. Er bestellte sich ein grosses Bier und flirtete mit der jungen Kellnerin, die sich über sein Italienisch amüsierte oder zumindest so tat. Wenig später waren alle wieder in ihre Gespräche vertieft und schienen ihn vergessen zu haben. Er war in Gedanken versunken, ärgerlicherweise waren sie beruflicher Natur, als ihn ein Mann an seinem Tisch ansprach, überraschenderweise in Schweizerdeutsch: «Neu hier?»

Die Frage war logischerweise rhetorisch gemeint, trotzdem beantwortete er sie mit einem «Yep».

Auch die anderen beiden Männer am Tisch schauten ihn jetzt erwartungsvoll an, und er fragte sich, ob sie ebenfalls Deutsch sprachen oder zumindest verstanden.

«Was verschlägt dich hierher?», fragte der erste Mann weiter.

Er war etwas älter, und seine Hände zeugten von harter körperlicher Arbeit, Alois tippte auf Bauer.

«Job», antwortete er und ermahnte sich selbst, nicht zu viel preiszugeben.

«Was für eine Job?», fragte der zweite in gebrochenem Deutsch.

«Recherchen», sagte Alois und ärgerte sich gleichzeitig, dass er sich im Voraus keine passende Geschichte ausgedacht hatte.

Sein Kurzangebundensein würde die Männer nur noch neugieriger machen. Um ihnen die Möglichkeit zum Nachfragen abzuschneiden, bestellte er eine Runde Bier. Gleichzeitig verwickelte er sie in Gespräche über das Dorf, ihre Familien, ihre Jobs, und schnell hatten sie das Interesse an den Umständen seiner Anwesenheit verloren. Sie unterhielten sich auf Deutsch, die Männer übersetzten sich gegenseitig, und die Zeit verging wie im Flug. Dann verabschiedeten sich zwei der Männer und verliessen die Beiz.

Der an Alois’ Tisch Übriggebliebene bestellte ein Plättchen, das mit Spezialitäten aus dem Tal bestückt war: Formaggella, ein würziger Ziegenkäse, Trockenfleisch und geräucherte Forelle aus der nahe gelegenen Zucht. Sie griffen gierig zu.

Als die Bardame «Ultimo giro» rief, waren nur noch zwei Tische besetzt.

Alois bestellte mit zunehmend lallender Stimme für alle noch eine Runde Bier. Als die Dame die Männer wenig später aus dem Lokal scheuchte, konnte Alois kaum mehr gerade gehen. Er musste sich an den Stuhllehnen festhalten, um nicht umzukippen. Die Männer stützten sich gegenseitig. Draussen verabschiedete man sich rasch, und Alois fand den Weg zurück in die Pension schnell.

***

Erschöpft setzte sich Alessandro auf die Holzbank. Der Lichtkegel seiner Lampe fiel auf den Boden vor dem Tisch. Er war rot. Alessandro kniete sich nieder und leuchtete die roten Flecken an. Er berührte sie mit einem Finger. Sie waren noch feucht. Er roch daran. Es war ganz eindeutig Blut. Sein Herz begann zu rasen. Er rannte in den Vorraum, riss den Vorratsschrank auf und sah sofort, dass einiges fehlte. Sie war hier gewesen. Er wusste nicht, was ihm diese Gewissheit gab, doch er war sich sicher. Sie schien verletzt zu sein. Die Menge Blut, die fast in der ganzen Hütte verteilt war, war beträchtlich. Wohin war sie gegangen? Musste sie fliehen? War ihm gar jemand zuvorgekommen?

Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein paar Meter konnte er der Blutspur draussen noch folgen, doch dann sah er nichts mehr. Er ging in eine Richtung, kam zurück, ging in eine andere. Oder war es noch dieselbe? Er wusste es nicht. Wie ein gehetztes Tier rannte er zwischen den Bäumen hindurch. Immer wieder rief er nach ihr, bekam aber keine Antwort.

Er merkte, dass er sich verirrt hatte. Die Hütte hatte er lange nicht mehr gesehen. Das Licht seines Handys wurde immer schwächer, der Akku ging dem Ende zu. Erschöpft liess er sich auf den Waldboden fallen. Angst um sich selbst spürte er keine. Nur Angst um sie.

Schon bei der ersten Begegnung war es passiert. Er hatte sie vom Parkplatz aus gesehen, wie sie vor dem Haus auf der Holzbank sass. Sie hatte sich über ein Buch gebeugt, in das sie etwas schrieb. Sie war so konzentriert gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Erst als er aus dem Auto ausgestiegen war und die Tür zugeschlagen hatte, schaute sie auf. Sie hatte ihn sofort verzaubert, als sie ihn scheu angelächelt und die Hand zum Gruss erhoben hatte.

Trotz der Abgeschiedenheit war es laut im Wald. Überall knackte und raschelte es. Eine Maus flitzte an ihm vorbei und versteckte sich im Dickicht. Dann schlief er vor Erschöpfung ein.

***

Als Mauro Cardoso Landarenca endlich erreichte, läuteten die Kirchenglocken bereits Mitternacht. Während des Aufstiegs hatte sein Handy immer wieder vibriert, er hatte sich jedoch gezwungen, es nicht hervorzunehmen. Er würde früh genug mit ihm sprechen müssen. So lange wie möglich wollte er es hinauszögern. Bis er sie gefunden hatte. Er kannte das Dorf relativ gut, weil er schon viele Ausflüge hierher unternommen hatte. Auch hier gab es viele leer stehende Häuser. Solche mit kalten Betten und solche, die gar nicht mehr bewohnt waren und vor sich hin lotterten. Dann kamen noch Ställe dazu. In einem einzigen Haus sah er Licht. Es würde also nicht allzu sehr auffallen, wenn er sich hier oben ein bisschen umschaute. Er suchte gerade einen Ziegenstall nach Spuren von Lara ab, als ihn ein Geräusch aufhorchen liess. Er drehte sich um und sah einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte. Er wollte sich ducken, doch es war zu spät. Ein Schlag auf den Kopf liess ihn sofort zu Boden gehen.

Val Calanca

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