Читать книгу Val Calanca - Tina Schmid - Страница 8

EINS

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Rasch zogen sie am Himmel vorbei, die Wolken, deren Formen sich von einem Augenblick zum nächsten komplett wandeln konnten. Es musste am starken Talwind liegen, der hier jeden Tag ab der Mittagszeit von Süden nach Norden durch das enge Val Calanca blies. Sie lag auf einem grossen, flachen Stein unten an der Calancasca und genoss eine wohlverdiente Pause. Die tiefen, ausgeschliffenen Becken luden trotz des eiskalten Wassers zum Baden ein, und sie bereute es, ihr Badekleid nicht eingepackt zu haben. In der letzten halben Stunde hatte sie den Wildwasserfluss in all seinen Facetten kennengelernt. Tiefe Schluchten mit tosenden Wasserfällen hatten sich mit gut zugänglichen Uferpassagen mit niedrigem Wasserstand abgewechselt. Sie war begeistert. Den Talboden von unten nach oben zu durchqueren, war das Ziel ihrer heutigen Wanderung.

Sie war allein unterwegs, Daniel mochte sie nicht begleiten. Er fühle sich nicht wohl, hatte er gemeint, vielleicht der Magen, etwas Falsches gegessen. Sie hatte genickt, obwohl sie wusste, dass die Gründe anderswo lagen. Das taten sie meistens. Eine seltsame Stimmung lag zwischen ihnen, seit sie vor zwei Tagen angekommen und in das Häuschen eingezogen waren. Sie fragte, er schwieg. Es war ihr daher ganz recht, dass sie das Tal heute ohne ihn erkunden konnte. Es war bereits Nachmittag, ihr Tempo war zügig gewesen, und sie hatte sich fast dazu zwingen müssen, eine kurze Pause einzulegen und einen Moment durchzuatmen.

Sie setzte sich auf und suchte in ihrem Rucksack nach der Karte. Sie befand sich zwischen den Dörfern Arvigo und Selma. Mit dem Finger fuhr sie den Weg nach. Er würde sie weiter dem Fluss entlang und nach einem Zwischenstück auf der Landstrasse bis nach Rossa bringen, dem hintersten Dorf im Tal. Sie sah auf die Uhr. Das letzte Postauto, das sie wieder zurückbringen würde nach Buseno, fuhr in zwei Stunden. Sie sollte aufbrechen.

Obwohl sie in Winterthur, im Flachland, aufgewachsen war, war ihr das Bergwandern in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater war Bergführer, und während ihre Schulfreundinnen ans Meer gefahren waren, war sie mit ihrer Familie von Hütte zu Hütte gewandert: im Alpstein, im Engadin oder auch mal im Berner Oberland. Manchmal hatte sie diese endlosen Wanderungen langweilig gefunden. Gleichzeitig war sie fasziniert gewesen von steilen Felswänden und tiefen Abgründen und hatte sich gefreut, sobald der Weg schmaler und steiniger und die Abgründe sichtbarer geworden waren. Sie hatte das freudige Kribbeln gemocht, das sich dann in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ihr Vater hatte bewusst versucht, diese Nervenkitzel in die Touren einzubauen, um sie und ihren Bruder bei Laune zu halten.

Schon als Kind war sie schnell unterwegs gewesen, um als Erste die spektakuläre Aussicht zu geniessen oder um die Anstrengung rasch hinter sich zu bringen. Diese Angewohnheit hatte sie bis heute beibehalten. Langsames Wandern machte sie unruhig, und es fiel ihr schwer, auch wenn sie es immer wieder versuchte, um ihre Begleiter nicht zu sehr zu verärgern. Heute spielte dies keine Rolle. Sie stand auf, warf sich den Rucksack über die Schultern und fand schnell in ihren Rhythmus zurück.

Den Blick auf den Waldboden gerichtet, marschierte sie vorwärts. Keine Menschenseele begegnete ihr, was einer der Gründe war, warum sie sich in diesem Tal schon bei ihrem ersten Besuch vor einem Jahr so wohlgefühlt hatte.

Es dauerte nicht lange, und der Lauf der Calancasca beruhigte sich, und der dichte Nadelwald wich einer sanften Wiesenlandschaft. Lea durchquerte Selma mit dem Dorfkern auf der einen und einer Pizzeria sowie der Seilbahnstation auf der anderen Seite und folgte weiter dem Wasser. Viele Birken mit Stämmen dünn wie Streichhölzer säumten das Ufer. Eine ältere Frau mit Hund, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, spazierte an ihr vorbei und grüsste murmelnd. Immer mehr Wolken türmten sich auf, der Himmel war jetzt fast vollständig bedeckt. Vorsorglich zog Lea die Regenjacke an. Sie genoss den Duft der frisch gemähten Wiese und dachte einen kurzen Moment an Daniel. Was er wohl gerade tat? Sie widerstand dem Drang, ihr Handy hervorzuholen.

Der Wanderweg lotste sie am Rande der Strasse entlang bis zu einer Postautohaltestelle. Gleich daneben führte eine Brücke in das nächste Dorf. Die Tafel auf der anderen Brückenseite bestätigte ihre Vermutung: Cauco. Obwohl die Sonne nicht mehr schien, war Leas Rücken durchnässt und ihr Gesicht von einem feinen Schweissfilm bedeckt. Die Temperaturen waren in diesem Spätsommer immer noch aussergewöhnlich hoch. Eine Abkühlung konnte nicht schaden. Gleich hinter der Brücke war die Böschung flach, und sie kam mühelos ans Wasser. Sie zog ihre Jacke aus, tauchte erst ihre Hände, dann ihre ganzen Arme ins Wasser und genoss das Prickeln auf der Haut. Dann benetzte sie den Nacken. Als sie sich umdrehen und zurück zum Weg klettern wollte, blieb ihr Blick an den Steinen im Wasser hängen. Etwas hatte sich verfangen, schien sich aber losreissen zu wollen. Sie setzte ihren Fuss auf einen Stein und balancierte auf den nächsten, um zu dem weiss-rot schimmernden Etwas zu gelangen. Sie zog es aus dem Wasser. Ein Schnuller. «I love mama», stand in schwarzen Buchstaben darauf geschrieben. Das Wort «love» wurde durch ein rotes Herz ersetzt. Der Schnuller kam ihr winzig vor. Das fiel ihr auf, obschon sie sich mit Babys überhaupt nicht auskannte. Kinder hatten sie bisher nie interessiert. Erst seit in ihrem Umfeld immer mehr Babys geboren wurden, begann sie darüber nachzudenken. Aber obwohl sie selbst «im besten Alter» war, wie ihre Mutter zu sagen pflegte, konnte sie sich ein eigenes Kind beim besten Willen nicht vorstellen. Daniel war anderer Meinung. Immer wieder hatte er das Thema in ein Gespräch einfliessen lassen. Sie hingegen versuchte stets das Thema zu wechseln. Vermutlich hatte seine Gereiztheit damit zu tun. Er konnte ihre Entscheidung nicht akzeptieren.

Was hatte ein Schnuller in einem Bergfluss zu suchen? Sie legte ihn auf einen grösseren Stein am Ufer. Besser, sie wurde ihn schnell wieder los. Ihre Gedanken drehten sich aber nicht lange um den Fund. Sobald sie sich erneut in Bewegung setzte, fiel ihr Blick auf die riesige, überhängende Felswand am Dorfrand von Cauco. Solche Gegensätze faszinierten sie sehr. Die Grösse und Wucht des Felsens und daneben die Siedlung.

Als sie ihr Handy aus dem Rucksack fischte, um ein Foto zu machen, sah sie die Nachricht von Daniel.

«Alles gut bei dir? Melde dich doch mal. D.»

Wann hatte er ihr das letzte Mal etwas Liebevolles oder sogar Zärtliches geschrieben? Sie konnte sich nicht erinnern.

«Ja», tippte sie und verstaute das Handy wieder im Seitenfach des Rucksacks.

Heftiger Regen setzte ein. Sie schaute auf die Uhr. Etwas mehr als eine Stunde blieb ihr noch. Würde es reichen, das Postauto in Rossa zu erwischen? Sie wusste nicht mehr genau, wo sie sich befand, wollte aber nicht auf der Karte nachsehen. Diese würde nur nass werden. Weit war sie seit Cauco noch nicht gegangen. Sie würde umdrehen und sich im Dorf nach einem Restaurant oder Unterstand umsehen. Sie sässe im Trockenen und würde das Postauto nicht verpassen. Rossa konnte sie sich ein anderes Mal ansehen.

Tatsächlich fand sie nach kurzer Zeit eine kleine Pension, zu der auch ein Restaurant gehörte. «Casa Stella», las sie auf einem rostigen Schild.

Der Geruch von starkem Kaffee stieg ihr in die Nase. Sie freute sich auf eine Tasse. Abgesehen von zwei älteren Männern, die an einem runden Tisch hockten, war sie der einzige Gast. Bei einer freundlichen älteren Frau bestellte sie in holprigem Italienisch einen Kaffee. Die beiden Männer musterten sie wieder und wieder, was ihr zunehmend unangenehm wurde. Erst als ihr der Kaffee serviert wurde, kehrten sie zu ihrem Gespräch zurück und beachteten sie nicht weiter. Mal meinte sie Schweizerdeutsch zu hören, mal klang es eher nach der italienischen Sprachmelodie. Sie verstand gar nichts und zwang sich, nicht mehr hinzusehen. Sie liess ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war schlicht und hatte so gar nichts, was man in einer traditionellen Dorfbeiz erwarten würde. Statt gemusterter Tischdecken standen Sträusschen frischer Blumen in schmalen Vasen auf den Tischen. Jemand gab sich viel Mühe, dachte sie, als die Stimmen am Nebentisch plötzlich lauter wurden. Die Männer waren aufgebracht.

«Incinta», hörte sie mehrmals, ohne die Bedeutung zu verstehen.

Sie nahm sich vor, das Wort im Wörterbuch nachzuschlagen, sobald sie wieder zurück war. Beim Gedanken an das Rustico wurde ihr warm ums Herz. Sie dachte an Daniel. Sie würde heute Abend einen Schritt auf ihn zugehen. Ihm zeigen, dass doch eigentlich alles gut war zwischen ihnen. Sie könnte etwas Feines kochen oder ihn mit einer Massage überraschen.

Das Geld für den Kaffee legte sie auf den Tisch, stand auf, verabschiedete sich und trat in den Regen hinaus. Es regnete weniger stark, als sie an der Haltestelle «Cauco ponte» stand. Eine ältere Frau sass auf einer Mauer. Andere Menschen waren keine zu sehen. Kurze Zeit später stiegen sie beide ins Postauto. Bei der Station «Botteghe», der Häusergruppe, die zum Dörfchen Buseno gehörte, stieg sie aus. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und es liess sich sogar die Sonne hinter den Wolken erahnen. Zwei Esel und ein Pony weideten auf der Wiese neben den Häusern und machten sich lautstark bemerkbar.

Lea sog den Duft von nassem Asphalt in die Nase. Zügig ging sie dem Strässchen entlang, das sie zu ihrer Unterkunft und zu Daniel führte. Während des Aufstiegs sah sie auf den «Lagh de Buseno», einen Stausee unterhalb des Dorfes, hinunter.

Als sie eintrat, war es dunkel im Häuschen, obwohl es erst früher Abend war. Still war es auch. Der Geruch von frischer Minze lag in der Luft. Sie zog ihre nassen Kleider aus, hängte sie an die Garderobe und streckte den Kopf erst in die Küche und dann in das angrenzende Wohnzimmer. Daniel lag zusammengerollt auf dem Sofa und schien zu schlafen. Auf dem Tischchen stand eine Teetasse. Eine Bananenschale lag daneben. Sie ging in die Knie und küsste Daniel auf die Stirn. Nur langsam gab er ein seufzendes Geräusch von sich und öffnete die Augen.

«Schon so spät?», fragte er und versuchte im Halbdunkel die Zeit auf seiner Armbanduhr zu entziffern.

«Erst kurz nach halb acht», antwortete sie und fragte ihn nach seinem Bauch.

«Immer noch etwas flau im Magen», antwortete er.

Sie schlug ihm vor, etwas Kleines zu kochen, und er nickte dankbar, zeigte mit den Fingern aber an, dass er nur eine kleine Portion essen werde. Sie ging in die Küche, riss das Fenster auf, machte so viel Licht wie möglich und füllte einen Topf mit Wasser. Sie hatte Lust auf eine grosse Portion Spaghetti al pomodoro.

«Ich gehe noch mal kurz los, um Käse zu kaufen», rief sie in Richtung Wohnzimmer, ehe sie das Häuschen verliess. Der Laden hinter der Kirche war nach Bedarf geöffnet, solange Gäste im angrenzenden Restaurant «Claro» sassen.

Lea fand, was sie suchte. Als sie darauf wartete, dass sie beim Wirt bezahlen konnte, hörte sie zwei Männer diskutieren. Oder stritten sie? Die Stimmen kamen vom Gastraum her. Die beiden sprachen schweizerdeutsch, und zwar so laut, dass sie jedes Wort vernehmen konnte.

«Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind töten? Und dann auf so brutale Weise», sagte die eine Stimme.

«Ich dachte mir schon, dass mit diesem Mädchen etwas nicht stimmt», erwiderte der andere Mann.

Dann schwiegen beide.

«Che cosa desidera?», fragte der Wirt, der inzwischen in den Ladenbereich gekommen war. Er sprach langsam, und sie fragte sich, warum man ihr sofort ansah, wie miserabel ihr Italienisch war. Sie murmelte etwas Unverständliches, hielt ihm mit gesenktem Blick eine Zehnernote entgegen und verliess peinlich berührt, fast fluchtartig den Laden. Erst draussen fiel ihr ein, dass sie gern noch nach einer deutschsprachigen Zeitung gefragt hätte, entschied sich aber dagegen, noch einmal zurückzugehen.

Daniel war wieder eingeschlafen. Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen. Vielleicht hatte er sich eine Grippe eingefangen. Sie schöpfte sich eine grosse Portion Spaghetti in einen Teller und setzte sich an den Küchentisch. Dann kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche und scrollte durch die Newsseiten. Als sie den Teller – ohne es zu bemerken – fast leer gegessen hatte, stach ihr eine Schlagzeile ins Auge: «NEUGEBORENES TOT IN FLUSS AUFGEFUNDEN».

Ihre Hand zitterte, als sie den Artikel in der Boulevardzeitung öffnete und hastig las.

«Im abgelegenen Bündner Südalpental Val Calanca, bei Cauco, wurde gestern Montag ein nur wenige Tage altes Baby von einer Spaziergängerin im Fluss gefunden. Es konnte nur noch tot geborgen werden …»

***

Sie verbarg das Gesicht im Stoff ihres T-Shirts. Es roch nach ihm. Süsslich und mild. Die vielen Tränen durchnässten den Stoff. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Noch immer spürte sie die Schmerzen wie Messerstiche in ihrem Unterleib. Es war ihr egal. Es spielte keine Rolle mehr. Nichts spielte mehr eine Rolle.

***

In Chur klingelte das Telefon pausenlos. Seit der kurzen Medienkonferenz vom frühen Morgen waren bei der Bündner Kantonspolizei zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen. Flurin Albertini, der leitende Ermittler, hatte sich noch keinen Überblick verschaffen können. Klar war aber, dass wie immer viel Unbrauchbares dabei war. Dies kostete wertvolle Zeit, trotzdem kam es immer wieder vor, dass die wichtigsten Hinweise zur Aufklärung eines Verbrechens aus der Bevölkerung kamen. Aus diesem Grund hatte er sich für die öffentliche Medienkonferenz entschieden, obwohl erst ein Tag seit dem Leichenfund vergangen war. In einem Tal mit einer so geringen Bevölkerungsdichte, so schien es ihm, kriegten die Leute mit, was um sie herum passierte. Darauf setzte er seine Hoffnung. Tötungsdelikte und andere Gewaltverbrechen waren sein tägliches Brot. Es geschah aber sehr selten, dass Kinder als Opfer zu beklagen waren. Er musste unwillkürlich an seine Tochter denken, die erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen war. Flurin rieb sich mit beiden Händen fest über das Gesicht.

«Ich habe vielleicht was», rief Jon von seinem Schreibtisch aus.

Er hatte sein Headset in den Nacken gelegt und winkte Flurin zu sich. Jon Meier hatte erst vor Kurzem auf der Abteilung für Kapitaldelikte angefangen, nachdem sein Vorgänger seine Stelle aufgrund einer persönlichen Krise aufgegeben hatte. Flurin hatte mit dessen Abgang zu kämpfen, weil er sehr gut mit ihm zusammengearbeitet hatte. Diesen Unmut hatte Jon anfangs zu spüren bekommen, was Flurin inzwischen leidtat. Er hatte schnell gemerkt, dass Jon äusserst loyal und zuverlässig war.

«Ein Mann, der im Tal wohnt, hat angerufen und gemeint, er habe am Dienstag, also genau vor einer Woche, eine schwangere junge Frau in Begleitung eines älteren Mannes in Cauco in ein Auto steigen sehen.»

Flurin bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er fortfahren solle.

«Der Anrufer heisst Giorgio Rizzo und stammt aus dem Calancatal. Seit zehn Jahren wohnt er in Buseno, aufgewachsen ist er in Cauco. Er arbeitet als Taxifahrer in der Region Moesa.»

«Was hat er am Dienstag in Cauco gemacht?», fragte Flurin ungeduldig.

«Er besucht dort regelmässig seine Mutter, die verwitwet ist und alleine in ihrem Haus lebt. Der Vorfall sei ihm seltsam vorgekommen, weil man – abgesehen von Wanderern – selten junge Leute im Tal sehe und weil die Frau ihm doch sehr jung vorgekommen sei für eine Schwangerschaft. Er hat die ganze Zeit von una ragazza, einem Mädchen, gesprochen», fügte Jon hinzu.

«Wie haben die beiden auf ihn gewirkt? Fühlte sich die Frau bedroht? Gab es Anzeichen von Gewalt?»

Jon überflog seine Notizen. «Der Mann habe das Mädchen am Oberarm festgehalten und ins Auto gedrängt, wobei er seinen Kopf nach unten gedrückt habe. Ausserdem meinte er, das Mädchen schluchzen gehört zu haben. Er ist sich aber nicht sicher, weil es wegen einer Strassenbaustelle relativ laut war.»

Flurin seufzte. «Wie schätzt du seine Glaubwürdigkeit ein?»

Jon dachte nach und erwiderte: «Was er erzählt hat, scheint mir plausibel. Meine Fragen konnte er ohne Zögern beantworten. Und er wirkte nicht wie einer, der um jeden Preis Aufmerksamkeit erhaschen will. Allerdings müsste ich ihm persönlich gegenüberstehen, um ihn besser einschätzen zu können.»

«Kannst du ihn gleich morgen besuchen? Wir fahren zusammen ins Tal, und ich werde mich ebenfalls umhören. Eine Frage habe ich noch: Wie kann sich dieser Herr Rizzo so sicher sein, dass die Frau schwanger war?»

Jon lachte laut auf. «Bist du nicht gerade erst Vater geworden und weisst, wie eine hochschwangere Frau aussieht?»

Flurin schnitt eine Grimasse und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und bat Jon, ihm seine Notizen zu weiteren potenziell interessanten Anrufen auf den Schreibtisch zu legen, bevor er Feierabend machen würde. Jon nickte. Flurin schaute auf die Uhr. Es war halb zehn.

***

Obwohl ihr Herz wie wild klopfte, entschied sie sich, Daniel nicht zu wecken. Seine Stirn glühte, und als sie näher trat, sah sie Schweissperlen auf seiner Stirn. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, führten sie aber immer wieder an denselben Ort: an den Fluss, wo sie den Schnuller im Wasser hatte treiben sehen. Das konnte kein Zufall sein. Dann fiel ihr ein, dass sie ihn angefasst hatte, ja sogar aus dem Wasser gezogen. Ihr Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Dann erinnerte sie sich an die Gesprächsfetzen, die sie mitgehört hatte, und suchte mit ihrem Laptop im Internet nach der Bedeutung von «incinta». Einen Augenblick später las sie die deutsche Übersetzung: schwanger. Was sollte sie tun? Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste sich bei der Polizei melden. Als sie ihr Handy aus der Küche holte, sah sie auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Trotzdem öffnete sie noch einmal den Zeitungsartikel und wählte die angegebene Nummer der Kantonspolizei Graubünden.

***

Sie musste geschlafen haben, denn es war inzwischen stockdunkel geworden im Raum. Sie versuchte sich aufzurichten, hielt sich aber sofort den Bauch und stöhnte. Das Atmen fiel ihr schwer. Trotzdem setzte sie sich langsam auf, drehte sich um und kroch auf allen vieren zum Tisch, um sich an ihm hochzuziehen. Mit grosser Anstrengung schaffte sie es, sich auf die Holzbank sinken zu lassen. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie angekommen war? Ein paar Tage oder nur eine Nacht? Sie wusste es nicht. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Trotz der starken Schmerzen meldete sich noch ein anderes Gefühl in ihrem Bauch. Wollte sie weiterleben, musste sie trinken und etwas essen. Hatte sie noch das Recht dazu? Der Wand entlang tastete sie sich in den Vorraum mit der Kochnische und dem Vorratsschrank. Wie erwartet fand sie dort, wonach sie suchte.

***

Jon war gerade nach Hause gegangen. Er hingegen sass noch immer an seinem Schreibtisch und versuchte auf einem grossen Blatt festzuhalten, was sie bisher wussten. Viel war es nicht. Er gähnte laut und dehnte die Arme über den Kopf. Sollte er nach Hause gehen? Er könnte Maja vielleicht einen Moment Ruhe schenken und sich um Mila kümmern. Er sah auf die Uhr und verwarf den Gedanken sofort wieder. Die beiden würden längst schlafen. Jons Telefonnotizen wollte er sich noch vornehmen oder sie zumindest kurz überfliegen. Als er nach dem Notizblock griff, klingelte das Telefon.

Kaum hatte ihm die Frau ihre Beobachtung mitgeteilt, war er wieder hellwach.

Val Calanca

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