Читать книгу Val Calanca - Tina Schmid - Страница 9

ZWEI

Оглавление

Flurin hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als der Wecker klingelte. Er brachte ihn schnell zum Schweigen, während er nach seiner Liebsten tastete. Ihre Bettseite war leer. Er setzte sich auf den Bettrand, streckte sich, gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann ging er durch den Flur ins Wohnzimmer und sah Maja auf dem Sofa schlafen. Sie lag auf dem Rücken. Mila hatte sie sich mit einem Tuch auf den Bauch gebunden. Sie schlief ebenfalls. Ein schönes Bild. Ihm stiegen Tränen der Rührung in die Augen. Leise schlich er sich ins Bad, duschte kalt und beschloss, seinen Kaffee im Büro zu trinken, um die beiden nicht zu wecken.

Obwohl es erst kurz nach sieben war, herrschte an diesem Mittwoch im Büro Hochbetrieb. Er arbeitete mit lauter Frühaufstehern zusammen. Wie in einem Ameisenhaufen wanderten die Mitarbeitenden umher und tauschten sich angeregt aus. Als Flurin eintrat, hielten sie kurz inne und blickten ihn erwartungsvoll an.

«Wir treffen uns um halb neun zu einer Lagebesprechung. Bitte bringt eure bisherigen Überlegungen schriftlich mit. Danke.»

Es war Flurin wichtig, klare Anweisungen zu geben und sich trotzdem nicht als Chef aufzuspielen. Er war der Überzeugung, dass in einem wertschätzenden Klima besser gearbeitet würde. Bei Jon hatte er dieses Ziel kurzfristig aus den Augen verloren, und sein Handeln war viel zu oft von seinen Emotionen bestimmt worden. Wie froh war er, dass sich das gelegt hatte. Immer wieder musste er sich eingestehen, dass er ein harmoniebedürftiger Mensch war.

Die Zeit bis zur Besprechung nutzte er für Recherchen. Er wollte herausfinden, wie die Rechtslage für minderjährige Schwangere aussah und welche Unterstützungsmöglichkeiten ihnen zustanden. Auch wenn der Zusammenhang zwischen der jungen Frau und dem toten Baby noch nicht geklärt war, schien ihm die Spur wichtig.

Er las sich durch die Paragrafen und stiess dann auf einen Artikel zur Babyklappe, die vor wenigen Jahren in Davos eingerichtet worden war. Eine solche gab es auch in Bellinzona. War es tatsächlich möglich, dass die Mutter ihr Kind selbst getötet hatte?

Er nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Rechtsmedizin.

«Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen», erläuterte Beatrice Linder, kühl wie immer.

«Das habe ich angenommen. Kannst du mir bitte trotzdem sagen, was ihr bereits wisst? Auch Vermutungen oder Annahmen könnten von Bedeutung sein. Es eilt», sagte Flurin mit Nachdruck.

«Eilen tut es immer», bemerkte Beatrice spitz und fuhr fort: «Das Kind war zwischen zwei und drei Stunden alt, als es ins Wasser gelegt wurde. Im Wasser lag es ungefähr zehn Stunden.»

«War es schon tot, als es abgelegt worden ist?»

«Mit Sicherheit können wir das nicht sagen. Der Grad der Unterkühlung und der allgemeine Zustand der Leiche schliessen aber nicht aus, dass es noch gelebt hat.»

Flurin spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er sah Mila vor sich, wie sie auf dem Bauch ihrer Mutter schlief. Er schwieg, sodass Beatrice weitersprach: «Das Kind wurde unsachgemäss entbunden, die Nabelschnur mit einem rostigen Messer oder einer Schere durchtrennt. Es war übrigens ein Mädchen.»

***

Sie wachte auf, weil Daniel die Toilettenspülung betätigte. Sie hatte lange nicht einschlafen können, war dann in einen traumreichen Schlaf gefallen. Jetzt waren die Bruchstücke zu undeutlich, um sie wieder zusammensetzen zu können. Sie stand auf und ging in die Küche, wo Daniel Wasser aufsetzte.

«Na du, wie geht’s dir?», fragte sie und streichelte ihm über den Rücken. «Hat der Schlaf geholfen?»

«Ein bisschen. Aber ich habe Gliederschmerzen, und mein Kopf platzt gleich.»

Sie holte den Fiebermesser aus dem Bad. «Du gehörst ins Bett», sagte sie bestimmt und nahm ihn an der Hand.

«Erzählst du mir noch, wo dich deine gestrige Wanderung hingeführt hat?», fragte er, nachdem er sich unter die noch warme Bettdecke gelegt hatte.

Sie erzählte ihm in wenigen Sätzen von der Wanderung und dafür umso ausführlicher von ihrer Entdeckung im Wasser, dem Zeitungsartikel und ihrem Anruf bei der Polizei. Daniel hörte aufmerksam zu. Er wirkte besorgt.

«Was haben die gesagt?»

«Sie kommen heute Nachmittag vorbei, um mir weitere Fragen zu stellen. Und ich soll ihnen die Stelle am Fluss zeigen.»

Daniel gab ein zustimmendes Geräusch von sich und schlief schnell ein.

***

«Warum hast du die verdammte Schlampe noch nicht gefunden?»

Die Stimme dröhnte so laut, dass er das Handy vom Ohr weghalten musste.

«Ich werde sie bald finden. Weit kann sie schliesslich in ihrem Zustand nicht gekommen sein», beschwichtigte er und versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen und sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Diese Bemühung verlief ins Leere.

«Idiota! Und wenn sie zu den Bullen rennt?»

«Das wird sie nicht tun. Sie hat zu grosse Angst.»

«Ich warne dich –»

Er drückte den Anruf weg.

Die ganze Umgebung hatte er abgesucht. Keine Spur von ihr. Es war ihm ein Rätsel, wie sie trotz ihres Zustandes davongekommen war. Sollte er jemanden einweihen? Zu zweit oder zu dritt wäre die Chance um ein Vielfaches grösser, sie zu finden. Bevor die Polizei es tat. Aber er war sich nicht sicher, wem er trauen konnte. Lieber ging er noch einmal allein los. Er nahm seine Jacke vom Stuhl und trat hinaus.

***

Die Besprechung begann pünktlich. Alle waren versammelt. Jon, der Flurin erwartungsvoll anblickte; Alois Küng und Reto Gut, die beiden Ermittler mit langjähriger Erfahrung im Bereich Tötungsdelikte. Flurin hatte sie hinzugezogen, weil er wusste, dass möglichst viel Wissen für diesen Fall nötig war. Eigentlich waren sie seit einigen Monaten in der Abteilung für Sexualdelikte tätig. Wegen der Aussergewöhnlichkeit dieses Falles konnten sie aber temporär in ihre alte Abteilung zurückkehren. Ebenfalls am Tisch sassen Maria Rossi, die nur im Innendienst arbeitete und so etwas wie die gute Fee im Büro war, sowie Beatrice Linder, die Fachärztin für Rechtsmedizin. Auch der zuständige Kriminaltechniker Fritz Rüther war anwesend.

«Danke, dass ihr euch alle sofort in den Fall reingehängt habt», eröffnete Flurin die Sitzung. «Ich möchte mir zuerst einen Überblick verschaffen, was wir bereits haben, dann die weiteren Schritte planen und die dazugehörigen Aufgaben verteilen.» Er schaute in die Runde, sein Blick blieb auf Jon haften. «Beginnst du bitte?»

«Es sind genau zweiundsiebzig Anrufe aus der Bevölkerung eingegangen. Ohne Maria hätte ich das nicht geschafft.» Er lächelte sie dankbar an. «Wie immer waren viele dabei, die wir sofort abhaken konnten. Übrig geblieben sind fünf Anrufe, die wir als potenziell relevant eingestuft haben.»

Er berichtete von Giorgio Rizzo und dessen Beobachtungen und vom Anruf einer jungen Frau namens Lea Odermatt, den Flurin entgegengenommen hatte.

«Drei Anrufe betrafen ein türkisfarbenes Auto mit Zürcher Kennzeichen, das an zwei verschiedenen Orten gesichtet worden war. Es fiel vor allem wegen der auffälligen Farbe und den verdunkelten Scheiben auf. Das Auto war sowohl am Tag vor dem Leichenfund in Sta. Maria hinter der Kirche als auch drei Tage zuvor in Arvigo gesehen worden. Dort sei der Fahrer ausgestiegen und habe anschliessend die Seilbahn nach Braggio bestiegen. Die Personenbeschreibung ist allerdings dürftig, da es schon am Eindunkeln gewesen war. Ein Mann mittleren Alters, mit Bart und gewöhnlicher Statur sowie dunkler Kleidung.»

«Ein Normalo», bemerkte Alois zynisch.

Er bekam murmelnde Zustimmung. Jon trank einen Schluck Wasser. Alle hörten aufmerksam zu. Nur das häufige Husten von Alois unterbrach immer wieder die konzentrierte Atmosphäre.

«Was sind deine nächsten Schritte?», fragte Flurin.

«Ich werde heute Herrn Rizzo und Frau Odermatt besuchen. Auch bei den Personen, die den Wagen beobachtet haben, habe ich mich für heute angekündigt.»

«Alois wird dich begleiten, dann habt ihr die Kapazität, um noch weitere Anwohner zu befragen», sagte Flurin.

Jon und Alois nickten.

Beatrice Linder informierte als Nächste. Das meiste hatte sie Flurin bereits am Telefon mitgeteilt. Neu war die Erkenntnis, dass das Mädchen mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht immer nackt gewesen war seit seiner Geburt. Beatrice hatte winzige Faserrückstände unter den Fingernägeln des Babys gefunden.

Es erstaunte Flurin immer wieder, wie viele Schlüsse man aus der Untersuchung eines toten Körpers ziehen konnte.

«Aufgrund meiner Untersuchungen am Leichnam müssen wir von einem Tatzeitpunkt zwischen Sonntag einundzwanzig Uhr und Montag ein Uhr ausgehen. Das Kind wurde ins Wasser gelegt, nicht geworfen, kleinere Hämatome stammen von den Steinen im Wasser.»

Es war allen anzusehen, dass sie sich liebend gern die Ohren zugehalten hätten. Auch Flurin ging es so. Durch seine starke Fokussierung auf mögliche Schlussfolgerungen gelang es ihm aber, nicht an seine Tochter zu denken.

«Todesursache?», fragte er.

«Hypoxie», antwortete Beatrice knapp.

Nicht nur Flurin stand ein Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.

«Und auf Normaldeutsch?», fragte Alois.

Beatrice verdrehte die Augen. «Das Kind ist erstickt.»

Einen Augenblick lang war es ganz still im Raum. Dann sagte sie: «Etwas habe ich noch. Das Mädchen ist auffallend klein. Es ist mindestens fünf Wochen zu früh geboren worden.»

Fritz Rüther hatte wenig zu berichten. Sein Team hatte gestern den Fundort untersucht, aber bisher keine brauchbaren Spuren gefunden. Verschiedene Fahrzeugspuren in näherer Umgebung befänden sich in der Analyse.

«Allerdings sind einige davon sicherlich den Bauern in der Umgebung und ihren Traktoren zuzuordnen. Wir klären das heute ab», sagte Fritz. «Blut haben wir keines gefunden, was bei der Strömung eines Bergflusses nicht verwunderlich ist. Zudem hat es gestern Nachmittag geregnet. Wir werden trotzdem nochmals hinfahren und unseren Suchradius ausweiten. Auch wollen wir die Böschung noch genauer untersuchen. Wenn man an dieser Stelle von der Dorfseite von Cauco her an den Fluss kommt, muss man die Böschung hinuntersteigen, um zum Wasser zu gelangen. Und natürlich müssen wir den Schnuller finden. Gestern haben wir nichts Derartiges gesehen. Die Frau meinte ja, sie hätte ihn auf einen Stein gelegt. Wir sollten das koordinieren, Jon. Gib mir Bescheid, wenn du mit ihr am Fluss bist.»

«Reto, ich möchte, dass du mit mir kommst», sagte Flurin.

«Erste Priorität ist es, die Mutter zu finden. Aufgrund der unsachgemässen Entbindung wird sie in schlechtem Zustand sein. Falls sie noch lebt.»

Er schwieg einen Moment.

«Ich habe für die Suche Hilfe von der Kantonspolizei Tessin angefordert. Die Einsatzkräfte aus Bellinzona kontrollieren das Gebiet ab der Kantonsgrenze in Roveredo. Zusätzlich wird sich Maria durch die Vermisstmeldungen der letzten Monate ackern. Vielleicht ist etwas aktenkundig. Ich bitte euch zu bedenken, dass die Mutter auch als mögliche Täterin in Frage kommen könnte. Ich will mich heute in den Dörfern des Tales umschauen, mir den Fundort genau ansehen und insbesondere mit den Hausbewohnern in Cauco sprechen, die eigentlich einen guten Blick auf die Brücke gehabt haben müssten. Nachmittags habe ich ein Treffen mit dem Gemeindepräsidenten der Gemeinde Calanca vereinbart.»

***

Die Hütte befand sich oberhalb von Landarenca im Wald. An die Fahrt von Selma mit der Seilbahn hinauf in das kleine Dorf konnte sie sich kaum erinnern. Die Schmerzen hatten ihr den Verstand geraubt. Auch wie sie es von der Bergstation zur Hütte geschafft hatte, wusste sie nicht. Sie schien sich den Weg eingeprägt zu haben. Wie weit würde er gehen, um sie zu finden? War sie hier sicher? Wo sollte sie sonst hin? Sich zu retten, das hatte ihr Körper ganz allein entschieden. Jetzt war sie hier und trotzdem verloren. Das Bild hatte sich eingebrannt. Das winzige, blutige, schreiende Bündel. Sie spürte eine nie da gewesene Leere in sich.

***

Lea tigerte durch das Häuschen. Kaum zwang sie sich, sich zu setzen, stand sie schon wieder auf. Polizeibesuch hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gehabt. Warum nur hatte sie den Schnuller berührt? Vielleicht schaute sie zu viele Krimis im Fernsehen. Es war unwahrscheinlich, dass die Polizei sie verdächtigen würde. Warum hatte der Mann am Telefon so überrascht geklungen, als sie von ihrer Beobachtung erzählt hatte? Hatten sie den Schnuller nicht gefunden? Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Sie würden erst nach dem Mittag kommen. Einen genauen Zeitpunkt hatte er nicht nennen können.

***

Zuerst suchte er nochmals das ganze Dorf ab. Viele ganzjährig bewohnte Häuser gab es nicht. Er schloss aber aus, dass sie sich in einem von ihnen versteckt hielt, da sie dafür mit jemandem in Kontakt hätte treten müssen. Er konzentrierte sich auf die unbewohnten Häuser, auf Hausruinen, von denen es im Val Calanca viele gab, und auf Ställe und Scheunen. Es war nicht einfach, sich in den Dörfern zu bewegen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Auch wenn sie manchmal wie ausgestorben wirkten, wusste er, dass die Bewohner registrierten, was um sie herum passierte. Als Wanderer war er hier definitiv nicht bekannt. Seine Streifzüge fielen bestimmt auf. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, grüsste er freundlich auf Italienisch, was ihm aufgrund seiner Zweisprachigkeit problemlos gelang.

Bereits zwei Stunden war er unterwegs und inzwischen bis nach Selma gelaufen, und trotzdem hatte er noch immer keine Spur von ihr gefunden. Als er die Hauptstrasse überquerte, um in den Waldweg Richtung Landarenca einzubiegen, sah er einen Polizeiwagen von Arvigo herkommend. Er zog sich sofort hinter die nächste Hausecke zurück, obwohl er wusste, dass ihn dieses Verhalten womöglich nur verdächtiger machen würde. Der Wagen hielt nicht an.

***

Als es an die Tür klopfte, stand Lea direkt hinter ihr und öffnete sofort. Den beiden Polizisten stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. Sie hatten wohl mit der üblichen Wartezeit gerechnet. Der eine war jung und stellte sich mit Meier vor, der andere hiess Küng und war deutlich älter.

«Mein Freund ist krank und schläft im Nebenzimmer. Kommen Sie herein», sagte Lea und versuchte ihre Nervosität so gut wie möglich zu verbergen.

Sie deutete auf das Sofa und bot Kaffee an, den die beiden dankend annahmen.

«Sind Sie in den Ferien im Calancatal?», fragte der Jüngere, während sich der Ältere ungeniert im Wohnzimmer umsah.

«Ja, das Häuschen gehört den Eltern einer Arbeitskollegin. Wir sind am Sonntag angekommen und bleiben zwei Wochen.»

Sie schaute ihm in die Augen, um zu erfahren, ob ihm die Antwort reichte.

«Können Sie uns nochmals ganz genau erklären, wie es zu Ihrem Fund gekommen ist?», bat er weiter.

Er sah freundlich aus und machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Lea entspannte sich langsam. Sie erzählte, wie sie sich während ihrer Wanderung am Wasser erfrischt hatte und auf den Schnuller aufmerksam geworden war.

«Und dann?», fragte der ältere Polizist, dessen Namen sie bereits wieder vergessen hatte.

Sie zögerte kurz, da sie meinte, Misstrauen in seinen Augen erkannt zu haben.

«Ich habe ihn rausgefischt und auf einen flachen Stein am Ufer gelegt. Dann bin ich –»

Er unterbrach sie ungeduldig: «Warum haben Sie das getan?»

Mit dieser Frage hatte sie gerechnet, trotzdem hatte sie die Antwort, die sie sich zurechtgelegt hatte, vergessen. Sie stockte und musste den Satz zweimal beginnen, ehe sie ihn beenden konnte. «Ich dachte, dass ihn vielleicht jemand sucht. Die Stelle ist von der Brücke aus gut einsehbar. Ich weiss, das klingt komisch, und natürlich fand ich es seltsam, aber man macht das doch so mit Fundstücken.»

Sie merkte selbst, wie merkwürdig ihre Erklärung klang. Zu ihrem Erstaunen schienen sich die beiden aber vorläufig damit zufriedenzugeben. Jedenfalls fragten sie nicht mehr nach.

«Wissen Sie, um welche Uhrzeit Sie den Fund gemacht haben?», fragte Herr Meier.

Diese Frage konnte sie aufgrund ihres Blickes auf die Uhr ziemlich genau beantworten. Dann bat er sie, ihnen die Stelle am Fluss zu zeigen. Sie nickte und ging ins Schlafzimmer, um Daniel Bescheid zu geben. Er hatte bisher nichts vom Besuch mitbekommen.

«Soll ich dich begleiten?», flüsterte er.

«Nein, du bist krank. Ich schaffe das schon», sagte sie und drückte seine heisse Hand.

***

Lea Odermatt hatte keine Mühe, die Stelle am Fluss sofort wiederzufinden. Sie zeigte auf den grossen, auffällig flachen Stein.

«Hier habe ich den Schnuller abgelegt», sagte sie.

«Sicher?», brummte Alois. «Ich sehe nichts.»

«Ich, ich weiss nicht, hier irgendwo muss er sein. Sonst muss ihn jemand mitgenommen haben. Ich habe ihn hierhingelegt. Ganz sicher.»

Sie versuchte souverän zu klingen und wich Alois’ Blick aus.

«Nachher bin ich dem Wasser entlang weitergewandert.» Sie deutete auf den Wiesenweg. «Dann musste ich umdrehen. Es regnete stark. Bis das Postauto kam, wartete ich im Restaurant ‹Casa Stella›.»

«Die Stelle ist ungefähr hundert Meter vom Fundort des Babys entfernt», bemerkte Jon.

Er sah in die entsprechende Richtung flussaufwärts und erblickte schemenhaft zwei Männer. Jon erkannte Fritz und seinen Assistenten und rief ihn an. Fritz versprach, gleich zu kommen, und es dauerte keine zehn Minuten, bis die beiden da waren. Fritz Rüther untersuchte den Stein, glaubte aber nicht, dass er Spuren finden würde, da der Schnuller unauffindbar blieb. Trotzdem bedankte er sich bei Lea Odermatt für ihre Hilfe.

«Kann ich jetzt gehen?», fragte sie ihn.

Er bejahte, bat sie aber, sich weiterhin zur Verfügung zu halten. Mit dem Auto zurückgebracht zu werden, lehnte sie ab.

***

Fassungslos starrte ihr Vater sie an. Er war aufgesprungen und stand jetzt am Fenster. Ihre Mutter weinte. Mehrmals öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, doch ihre Tränen erstickten jeden Versuch. Sie sass auf dem Küchenstuhl und umklammerte ihre Beine, als könnte sie sich so vor der Reaktion ihrer Eltern schützen. Sie war selbst erstaunt, wie einfach es ihr plötzlich über die Lippen gekommen war. Tausendmal war sie das Gespräch im Kopf durchgegangen, hatte sich Sätze zurechtgelegt, überlegt, wie sie es ihnen schonend beibringen konnte. Und dann hatte sie einfach nur diesen einen Satz gesagt.

«Ich bin schwanger.»

Ihr Vater hob die Hand. Sie hatte Angst, er würde sie schlagen, was er bisher nie getan hatte. So viel Wut lag in seinem Blick. Stattdessen lief er aus der Küche und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

«Wir finden eine Lösung», sagte die Mutter, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.

***

Am Nachmittag trafen Jon und Alois Giorgio Rizzo vor seinem Haus im oberen Teil von Buseno. Es lag nur wenige Meter vom Rustico entfernt, in dem sie zuvor Lea Odermatt besucht hatten. Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit braun gebrannter Haut. Man würde ihn eher in einem Job mit viel Frischluft vermuten und nicht in einem Taxi, dachte Jon. Das Auto mit dem Taxischild auf dem Dach stand vor dem Haus.

Giorgio Rizzo erzählte einiges über seine Familie, dem sie keine Bedeutung beimassen. Er lebte allein mit seinem zwanzigjährigen Sohn, der Alessandro hiess. Seine Frau war vor wenigen Jahren verstorben. Einmal pro Woche besuche er seine Mutter in Cauco, häufig schicke er auch Alessandro, um nach dem Rechten zu schauen. Gern hätten sie sich kurz mit Alessandro unterhalten, dieser war aber gerade in Locarno, wo er als Kellner arbeitete.

Die von Rizzo beobachtete Szene hatte sich vor dem Nachbarhaus seiner Mutter abgespielt.

«Wer wohnt in diesem Haus?», fragte Jon.

«Eine Paar aus Kanton Zurigo hat es viele Jahre als Ferienhaus genutzt. Inzwischen beide sind verstorben. Das Haus vererbten sie Sohn, der auch in Ferien kommt.»

«Wie heisst der Mann?»

«Cardoso», antwortete Rizzo schnell. «Die Vorname ich kenne nicht. Manchmal ich sehe ihn häufig, manchmal viele Monate nicht. Ich habe noch nie lange mit er gesprochen.»

«Was fährt der für eine Karre?», fragte Alois.

«Eine Toyota, glaube ich. Hellblau.»

«War es nicht doch dieser Cardoso, den Sie mit der jungen schwangeren Frau zusammen beobachtet haben?»

Rizzo verneinte kopfschüttelnd. Jon glaubte ihm. Er spürte intuitiv, dass Rizzo für die Ermittlungen wichtig war, konnte die Puzzleteile aber noch nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen.

Jon und Alois verliessen das Haus und fuhren mit dem Auto in den hinteren Teil des Tals, nach Augio. Flurin hatte die Anweisung gegeben, dass sie alle während der Ermittlungen vor Ort sein mussten.

In Augio konnten sie eine alte Herberge nutzen, die als Pension geführt wurde. Jon wie seine Kollegen waren nicht glücklich über diese Entscheidung, obwohl es sinnvoll war, nahe am Geschehen zu sein. Die eineinhalb Stunden von ihrem Hauptquartier in Chur ins Tal und wieder zurück stahlen ihnen wertvolle Zeit, die sie dringend gebraucht hätten. Alois, der im Zentrum von Chur lebte, behagte der Gedanke, längere Zeit in diesem abgelegenen Tal zu verbringen, überhaupt nicht. Während der Fahrt machte er seinem Unmut Luft und murrte vor sich hin. Jon beachtete ihn nicht weiter. Er kannte Alois zwar erst seit Kurzem, hatte aber ein gutes Gespür für Menschen, die man in gewissen Momenten einfach reden lassen sollte.

Als sie vor der Pension in Augio ankamen, war es später Nachmittag. Ihr Auto war das erste auf dem Parkplatz.

Val Calanca

Подняться наверх