Читать книгу Das Flüstern der Pferde - Tina Schumacher - Страница 13
Оглавление… vielleicht, weil wir oft viel zu laut sind!
Mit deinem Fokus kannst du Welten bewegen. Das lernen Pferdemenschen, aber auch Menschen, die sich intensiv mit sich und ihrer Wirkung beschäftigen. Ob Führungskraft, Kind oder Jugendlicher, Mensch mit Handicap, millionenschwer oder bettelarm – Pferde wirken auf jeden Menschen gleich. Sie machen keine Unterschiede. Sie wirken klar, unverblümt und ehrlich. Pferde spiegeln das Verhalten des Menschen auf eine unheimlich wertschätzende Art und Weise. Manchmal müssen wir ein wenig deutlicher hinsehen, um das zu erkennen. Manchmal zeigen es uns die Pferde auf eine sehr direkte und harte Weise. Genauso funktioniert das mit dem Leben. Manchmal bekommen wir gewisse Entwicklungspotenziale oder Schritte, die wir für uns auflösen dürfen, in klitzekleinen Portionen geliefert. Diese kleinen Portionen schleichen sich an, „flüstern“ sich in unser Leben. Oft hören wir aber nicht zu, weil wir nur dieses „laute Schreien“ der Gesellschaft, in der wir leben, kennengelernt haben, weil wir jeden Tag in der „Disco des Lebens“ unterwegs sind und es verlernt haben, diese leisen Töne zu hören. Dabei wollen sie uns bereits frühzeitig sagen: „Hey, schau doch mal genauer hin. Ich werde immer wieder kommen. Ich bin ein Thema, das dich immer wieder einholen wird.“ Irgendwann wird dieses Thema schreien. Es muss laut werden, damit wir endlich hinsehen.
Genauso ist es mit der Reaktion der Pferde. Die Art und Weise, wie ein Pferd wirkt, hat immer auch etwas mit uns zu tun. Es ist ein Spiegel unserer Persönlichkeit, mit dem wir tiefer schauen können, als wir es uns zu träumen gewagt haben. Manche Dinge, die wir dann sehen, werden uns nicht gefallen, und andere hingegen finden wir wunderschön. All das filtern die Pferde und mit ihrer feinen Wahrnehmung geben sie uns die Möglichkeit, uns selbst aus ihren Augen anzusehen. Sie lehren uns, unsere Wahrnehmung zu verfeinern – die leisen Töne zu hören. Sie ermöglichen uns behutsam und liebevoll, das Flüstern wieder zu erlernen.
Foto: Lea Schlechtriemen
„Zuhören und Hinsehen sind oft die größten Schlüssel zur eigenen Persönlichkeit.
Die Filter unserer (menschlichen) Wahrnehmung werden mit den Jahren, mit dem Älterwerden und all unseren individuellen Erfahrungen teilweise überlagert oder überdeckt von Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben oder die wir im Spiegelbild anderer Menschen erleben durften und mussten, von Dingen, die durch unsere Erziehung beeinflusst wurden und unsere Blickwinkel geprägt haben, durch die wir mittlerweile die Welt und die Menschen sehen. All das lässt uns auf eine gewisse Art und Weise reagieren.
Dabei spielt natürlich auch schulische Prägung eine Rolle. In der Schule haben wir gelernt, dass der Himmel blau ist und das Gras grün. Wir haben gelernt, dass es gesellschaftliche Muster gibt, in die wir uns fügen sollten, sofern wir in unserer Kultur angenommen werden möchten. Durch festgefahrene Vorgaben, die uns sagen, wie wir zu handeln, zu fühlen und zu denken haben, verlernen wir, wirklich wahrzunehmen – uns und unsere Umgebung. Wir verlernen mit den Jahren, genauer hinzusehen. Dann bedienen wir uns unserer gewohnten Verhaltensweisen und reagieren – wie in einem Hamsterrad, das vorgibt, welche Handlung als Nächstes zu vollziehen ist. Klingt ziemlich unfrei und ist es auch!
Das führt dazu, dass wir uns nicht selten als Opfer der eigenen Umstände betrachten und nicht damit rechnen, dass auch wir einen Anteil an dieser Situation haben könnten. Wir streiten heftig und brüllen uns an, wenn wir anderer Meinung sind. Wir missverstehen uns sehr oft, weil wir in unserem eigenen Hamsterrad und der andere in seinem fröhlich weiterradelt. Oft vergessen wir, genauer hinzusehen und auf unser Gegenüber zu achten. Wir übersehen Potenziale – von uns selbst, der Gemeinschaft und von anderen. Wir übersehen, wenn es dem anderen mal nicht so gut geht. Vielleicht übersehen wir auch, wie wir wirken und was wir in gewissen Momenten nach außen ausstrahlen – ein Konfliktpotenzial, welches mit Wahrnehmung beginnt, den eigenen Ausdruck und die eigene Einstellung beeinflusst und letztendlich darauf wirkt, ob wir in erfüllten oder unerfüllten Beziehungen leben.
Jeder Pferdemensch weiß natürlich, dass mit „Pferdeflüstern“ nicht gemeint ist, sich neben das Pferd zu stellen und leise mit ihm zu reden. Pferdeflüstern ist ein Ausdruck für eine gewisse Qualität der Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist die Basis für eine extrem feine Kommunikation. Wir alle haben das in uns – diese intensiv fühlende und kleinschrittige Wahrnehmung, die letztendlich eine klare und wertschätzende Kommunikation beeinflusst. Wenn wir uns dazu entscheiden, sie wachzurütteln, müssen wir anfangen, uns selbst und unsere Wirkung zu beobachten. Dann werden wir wiederfinden, was wir irgendwo und irgendwann auf unserem Weg verloren haben.
Foto: Anna Kentnofski
Mich hat es schon immer fasziniert, Menschen mit Pferden in der Freiarbeit kommunizieren zu sehen. Dieses Zusammenspiel war für mich magisch. Das musste fast schon eine Art Zauber sein, wie der Mensch sich gemeinsam mit seinem Pferd bewegt. Wie die beiden sich wahrnehmen, wie sie miteinander spielen – wie das Pferd für den Menschen vollkommen frei und ohne Zwang bestimmte Dinge tut. Manchmal habe ich mich sogar dabei erwischt, mich zu fragen, wie man so etwas überhaupt erreichen kann. Ob da Gewalt im Spiel war? Diese Frage spricht natürlich schon für eine gewisse Erfahrung, die ich in meinem Leben gemacht habe.
Foto: Lea Schlechtriemen
Ich durfte lernen, dass es nicht nur schwarze Schafe gibt, die Pferde dressieren, sondern unheimlich fühlende, klare und wertschätzende Pferdemenschen. Ich durfte aber auch lernen, dass ich diese Menschen nicht auf einen Sockel stellen muss. Sie machen eine wunderbare Arbeit und trotzdem durfte ich verstehen, dass eigentlich jeder „flüstern“ kann. Jeder, der sich Fragen stellen möchte, zu sich selbst und seiner Wirkung. Jeder, der sich reflektiert und sich auf Wertschätzung fokussieren möchte. Jeder, der sich für den Weg des „Pferdeflüsterns“ entscheidet. Selbst eine stumpfe und nach Schema F arbeitende, turnierfixierte Dressurreiterin, die ihre Pferde zwar wirklich gern hatte, aber irgendwie trotzdem, auch nach über zehn Jahren, noch nie einen „richtigen“ Dialog mit ihnen führen konnte. Ach übrigens: Ich meine damit nicht, dass alle Dressurreiter so sind – ich habe schlichtweg von mir gesprochen und davon, wie meine Welt damals aussah.
Heute bin ich an einem Punkt, an dem ich nur mit dem Setzen meines Fokus die Beine meiner Pferde ansteuern kann. Ich bewege mich mit ihnen vollkommen frei. Ich genieße es, mit ihnen zu spielen – vom Boden und im Sattel. Ich hole sie ab, wenn sie sich mal Raum schaffen. Ich lobe unheimlich viel. Ich reflektiere mich selbst in jedem Moment und vor allen Dingen dann, wenn ein Pferd anders reagiert, als ich es mir gewünscht habe. Seitdem kann ich so viel feiner wahrnehmen. Ich führe endlich einen Dialog mit meinen Pferden und vor allen Dingen mache ich eins: Ich flüstere!
Und die Pferde lieben es! Meine Entwicklung und später die meiner Kunden hat mir ganz extrem gezeigt, wie sensibel diese Tiere reagieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal so leicht mit Pferden bewegen kann. Wie fein sie spüren, was wir wollen, wenn wir ganz klar im Fokus haben, was jetzt gerade unser Anliegen ist. Dann brauchen wir keine lauten Gesten mehr. Wir müssen dann nicht mehr verbissen unseren Willen durchsetzen – mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.
Auch ich war mal hart zu meinen Pferden und mein Ego war mindestens drei Kilometer größer als ich. Und auch jetzt noch mache ich Fehler und kommuniziere hier und da noch viel zu unklar. Das spiegeln mir meine Pferde, aber heute wachse ich daran, weil ich gelernt habe, mich zu reflektieren – und ich wachse in allen Lebensbereichen, denn die Veränderungen, die daraus entstehen, schwappen zwangsläufig auf das Leben über.
Ich glaube, in der Pferdewelt sind die beiden kontroversen Richtungen „Schema F“ und „tatsächliches Hinsehen“ ziemlich präsent. In einigen Bewegungen mit dem Pferd scheint der Tellerrand so hoch wie ein Hengstzaun mit 130 Volt, bei dem man gar nicht erst darüber nachdenkt, drüberzuschauen. Für die, die jetzt glauben, ich spiele auf die Englischreiterei an, kann ich nur sagen: Nein, diese Aussage gilt generell für Menschen, die denken, sie hätten „die Weisheit gefressen“, für Menschen, die sich über andere stellen, sich und ihre Arbeit für etwas Besseres halten. Ich glaube, damit limitieren wir uns selbst und bewegen uns dennoch in unserer kleinen Welt. Selbst dann, wenn das ganz nett und „horsemen-like“ erscheinen mag.
Doch immer öfter ist auch eine andere Richtung erkennbar. In dieser Richtung sind oft Menschen unterwegs, die intensiv mit sich selbst gearbeitet haben, um eben Resultate von wirklicher Verbundenheit zu erzielen. Sie schauen über den Tellerrand und reflektieren sich ständig selbst. Sie beobachten, sie spielen, sie verändern und sie probieren aus. Sie lernen, sich wirklich auf ihr Gegenüber einzustellen, und sie lernen diese leise und absolut feine Art der Kommunikation. Dann machen Pferde Menschen und sie sind ein Vorbild für Menschlichkeit – egal, ob in der Therapie, im Sport, im Coaching, in der Freizeit oder ganz einfach im Leben.
Die Entscheidung, genauer hinzusehen und unsere Wahrnehmung zu schulen, halte ich für unglaublich wichtig. Unterschiedliche Sprachen erfordern schließlich andere Mittel der Kommunikation. Wie wir alle wissen, kommunizieren Pferde sehr selten bis eigentlich fast gar nicht über Laute. Vielleicht sagt man auch „Pferde flüstern“, weil sie Laute tatsächlich nur in extremeren Situationen nutzen. Und trotzdem funktioniert die Sache mit den unterschiedlichen Sprachen – ganz klar durch feine Wahrnehmung und eine genauso feine Beobachtungsgabe. Denn selbst wenn wir die gleiche Muttersprache sprechen, kommunizieren wir doch immer aus unserer eigenen Welt heraus – mit unseren individuellen Erfahrungen, Gedanken und Wünschen. Wir müssen uns erst verstehen lernen. Genauso ist das bei Pferd und Mensch.
Zu Beobachtungsgabe, Wahrnehmung und dem Verstehen gibt es eine kleine wunderschöne Geschichte. Die Geschichte von einem Pferd, das rechnen konnte. Sie spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wilhelm von Osten erwarb im Jahre 1900 seinen schwarzen Orlow-Traber namens Hans. Kurz darauf begann von Osten mit Trainingseinheiten. Hans sollte lernen, Rechenaufgaben und anspruchsvolle Kunststücke aus eigener Gehirnleistung zu absolvieren. Hans beantwortete die Fragen seines Trainers durch Stampfen mit dem Huf oder Schütteln beziehungsweise Nicken des Kopfes. Er konnte sogar ganze Wörter zusammensetzen. Im Jahre 1904 begutachtete eine Gruppe von 13 Wissenschaftlern die Leistung von Hans und kam zu dem Schluss, dass Hans keinerlei Hilfestellung erhielt. Er wurde als Wunderpferd anerkannt.
Foto: www.shutterstock.com/vprotastchik
Doch die Erklärung für die außergewöhnliche Leistung des Wunderpferdes lieferte schlussendlich ein Psychologiestudent:
„Schließlich war es Oskar Pfungst, damals Psychologiestudent und kritischer Beobachter der Vorführungen von Ostens, der die Entzauberung des Klugen Hans in die Wege leitete. Er hielt es für möglich, dass von Osten zwar nicht bewusst dem Pferd Befehle gab, aber unbewusst durch seine Körpersprache auf Hans reagierte. So nahm er an, dass winzige Signale der Erleichterung, nachdem Hans die richtige Zahl mit dem Huf gescharrt hatte, eine kleine Änderung der Körperspannung, eine kaum merkbare Änderung der Mimik des Lehrers das Tier veranlasste, mit dem Scharren aufzuhören.
In einer zweiten kommissionellen Prüfung des Tieres wurde diese Annahme bestätigt. Hans konnte tatsächlich die richtige Lösung auf Fragen immer dann nicht geben, wenn er den Fragesteller nicht sah oder wenn dieser die Antwort auf Fragen selber nicht wusste. Damit war Hans enttarnt – er war doch kein außergewöhnliches Rechengenie innerhalb der Pferdefamilie, aber ein ausgesprochen genauer Beobachter.“
(https://www.derstandard.at/story/2000056054980/der-kluge-hans-das-pferd-das-rechnen-konnte)
Der kluge Hans war ein Genie der Körpersprache. Er nahm die Ausstrahlung seines Besitzers wahr, in ganz feinen Nuancen der Mimik und Gestik, der Bewegung, der inneren Energie oder der Ausdrucksweise, die dieser Mensch ihm spiegelte. Dementsprechend reagierte er – leise und unauffällig.
Gerade deshalb bedeutet „Pferdeflüstern“ für mich, sich tatsächlich aufeinander zu beziehen. Sich kennenzulernen, die Sprache des anderen verstehen zu lernen, in einer gewissen Art und Weise aufeinander zuzugehen, sich selbst zu reflektieren und einen gemeinsamen Weg zu finden. Das ist der wahre Kern vom „Pferdeflüstern“ – letztendlich ein etwas paradoxes Wort mit Konfliktpotenzial, denn, wie du weißt, geht es hier nicht um leise Worte, sondern um eine Form der Wahrnehmung und der ständigen Selbstreflexion, darum, sich selbst anzusehen und die eigene Persönlichkeit und Wahrnehmung bewusst weiterzuentwickeln. Pferde sind Bewusstseinsschmiede in Perfektion.
Fünf Fragen für deine Persönlichkeitsentwicklung – im Gespräch mit Freunden oder für dich allein:
1. Was bedeutet Pferdeflüstern für dich und deine Persönlichkeit?
2. In welchen Lebensbereichen oder Situationen fühlst du dich frei und wo fühlst du dich unfrei?
3. Was war deine bisher größte Herausforderung und was dein bisher größtes Glück mit Pferden?
4. Was sagt dir dein Pferd über deine Wirkung?
5. Wie kannst du diese Erkenntnisse auch im Alltag nutzen?