Читать книгу Das Flüstern der Pferde - Tina Schumacher - Страница 16

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Pferde stecken voller Wunder. Das heißt, wir wundern uns, wenn sie auf eine gewisse Art und Weise reagieren und gerade nicht das tun wollen, was wir von ihnen „verlangen“. Oder wir wundern uns, wenn sie genau das tun, was wir wollen, und dabei wie Hellseher ohne Glaskugel wirken.

Manchmal sind wir so sehr mit dem Wundern beschäftigt – teilweise auch mit dem Wundern über die „Ungerechtigkeit der pferdischen Handlungen“ –, dass wir gar nicht erst darauf kommen, dass das Ganze etwas mit uns zu tun haben könnte.

Pferde sind ehrlich und sie sind authentisch. Sie reagieren schlichtweg auf das, was wir ihnen sagen. Manchmal ist das etwas, von dem wir nicht einmal gemerkt haben, dass wir es ihnen vermitteln. Manchmal liegt das Gesagte auf der Hand. Und ein anderes Mal waren wir einfach nur beieinander und haben trotzdem aufeinander gewirkt. Pferde spiegeln uns klar, direkt und authentisch. Vielleicht liegt darin das Wunder.

Wie Paul Watzlawik in seinem berühmten Satz festhielt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ In jedem Moment strahlen wir etwas Bestimmtes aus und wirken damit auf unser Gegenüber und unsere Umwelt. Es entsteht ein Dialog, von dem wir oft mehr als die Hälfte verpassen. Denn dieser Dialog geht nur leise vonstatten und wird umrandet von dieser nicht ganz unwichtigen Sache mit der Wahrnehmung. Vieles, was in unserem Leben passiert, bekommen wir einfach nicht mit. Wir leben daran vorbei und wundern uns später, warum wir in bestimmten Situationen verharren. Und wir wundern uns auch, warum die Pferde auf eine gewisse Art und Weise reagieren.

Ein paar Beispiele:

Wir belohnen unsere Pferde bei vermeintlich jeder guten Tat mit einem Leckerli und wundern uns später, warum uns das Pferd immer derart nahe kommt, warum es mit der Nase bettelnd an uns zupft oder warum die Dinge, die wir ihm doch beigebracht haben, nur noch mit Leckerli funktionieren.


Foto: www.shutterstock.com_Christy berry

Wenn wir beim Reiten dauerhaft treiben, wundern wir uns, warum wir danach ein Sauerstoffzelt brauchen und das Pferd einfach nicht mehr läuft, sobald wir aufhören zu treiben. Wir geben ständig dieselbe Hilfe, wir sagen dem Pferd ständig das Gleiche und wundern uns, dass die Resultate immer gleich bleiben.

Wenn wir innerlich stark angespannt sind, wundern wir uns darüber, dass das Pferd in Hektik verfällt. Wir machen mit dem Pferd einen Ausflug oder gehen auf ein Turnier, sind nervös und wundern uns wieder, warum das Pferd nervös wird. Das ist kein Fehler, der in irgendeiner Form in uns liegt, aber es ist auch kein Grund, sich zu wundern. Wir können und sollten nicht von diesen Tieren verlangen, dass sie unser Leben, unsere Leidenschaft und unsere Einstellung teilen und uns dabei als Sicherheitsstütze dienen – in Situationen, bei denen wir selbst von Überforderung eingeholt werden.


Foto: www.shutterstock.com_Anaite

Weitergekramt im Beispielkasten fällt mir ein Video ein, bei dem ein Mann einem Fohlen den Po krault. Das Fohlen dreht sich mit dem Hintern zu ihm und er krault und krault und krault. Der Mann entfernt sich ein Stück, das Fohlen kommt wieder und der Mann krault weiter. Was er nicht sieht: Wenn er weggeht, legt das Fohlen immer wieder die Ohren an, schaut ein kleines bisschen verschmitzt zur Seite und fordert das Kraulen ernsthaft und penetrant ein. Als der Mann dann nicht mehr kraulen möchte, kickt das Fohlen mehrfach nach ihm. Dieser wundert sich augenblicklich ganz schön, warum das Fohlen solch ein freches Verhalten an den Tag legt. Und während wir uns dieses Video auf Social Media ansehen, schmunzeln mindestens 80 Prozent der Zuschauer über das Unwissen des Mannes. Mindestens 99 Prozent dieser Menschen sind sich nicht bewusst, dass auch irgendwo in ihnen ein solcher „unwissender Mann“ schlummert.

Kritik geht leicht über die Lippen, wenn wir eine Situation von außen betrachten können. Wenn wir selbst das Zentrum sind, fällt es uns oft schwer, unseren Anteil am Geschehenen zu erkennen. Es ist einfacher, das, was wir nicht sehen wollen, von uns abzukoppeln und es dem anderen zuzuschieben. Genauso steht es um die „Bandenprofis“. Denn Kritik kann wertschätzend, aber auch herablassend sein. Ich denke, jeder kennt diese Menschen, die alles besser wissen – ob am Rande der Reithalle, im Arbeitsleben oder in der Kindererziehung – es gibt sie überall. Warum? Weil es einfacher ist, sich über die „Dummheit“ der anderen zu wundern, als die eigene „zwischenmenschliche Dummheit“ anzusehen. Oft sind Bandenprofis Menschen, die sich selbst nicht genügend schätzen und deshalb andere kleiner machen müssen als sich selbst.

Wenn ich etwas oder jemanden verurteile, sollte ich mich daher gleichzeitig fragen, was das alles mit mir zu tun haben könnte. Klingt vielleicht im ersten Moment merkwürdig, bezieht sich aber auf einen psychologischen Faktor namens Projektion. Hierbei handelt es sich um einen Abwehrmechanismus, bei dem eigene unerwünschte Gefühle, Wünsche oder Erinnerungen einem Gegenüber zugeschrieben werden. Wir schieben negativ Erlebtes von uns weg, um es auf andere zu übertragen. Eben wie manch ein Bandenprofi, der sich eigentlich wünschen würde, das, was er sieht, genauso gut umsetzen zu können. Wie all diese extremen, fast schon radikalen Sichtweisen rund um die Pferde. Wie die vielen Fälle von Social-Media-Mobbing und wie das Anders-haben-Wollen und Kritisieren der Persönlichkeit eines Menschen, der uns sehr nahesteht. In allen Lebensbereichen und Gesellschaftsschichten unseres Planeten kommt Projektion vor. Wenn wir uns nicht selbst ansehen möchten, werden wir in unserer Opferrolle bleiben und der Verantwortung aus dem Weg gehen. Dabei wäre ein wenig Selbstfürsorge gerade in solchen Momenten nötig. Denn wer andere kleinmacht, um selbst (meist natürlich unbewusst) größer zu wirken, tut weder sich noch seinem Umfeld gut.

Pferde sehen hinter diese Fassade. Sie nehmen uns ganzheitlich wahr. Manchmal sogar mit Inhalten, die wir selbst nicht mal kennen. Sie sind näher an uns und an unserer Persönlichkeit, als wir uns das vorstellen können.

Pferde sind tatsächlich wundervolle Wesen. Nicht nur, weil wir uns so oft über sie wundern, sondern viel eher, weil sie Menschen, die hinsehen möchten, neue Welten eröffnen. Sie reagieren auf jeden Menschen absolut gleich und machen keine Unterschiede. Sie zeigen uns auf eine sehr wertschätzende Art und Weise, was es bedeutet, Mensch zu sein – mit allen innerlichen Facetten, mit allem, was uns bewegt, mit allem, was uns verbindet, und mit allem, was uns voneinander trennt. Pferde sind kleine Wunderheilmittel, durch die wir eigene innere Ketten erkennen und uns davon befreien können. Und trotz unserer Individualität zeigen sie uns, dass wir alle gleich wichtig sind und dass wir geliebt sind mit allen unseren Fehlern, mit allen Potenzialen, mit Ängsten, mit Wünschen und mit dem, was uns Freude bereitet. Wenn wir genau hinsehen, zeigen uns die Pferde ziemlich oft, wie Menschsein funktioniert.

Fünf Fragen für deine Persönlichkeitsentwicklung – im Gespräch mit Freunden oder für dich allein:

1. Worin liegt für dich das Wunder der Pferde?

2. In welchen Momenten hast du dich bereits über dein Pferd gewundert? Mit welchen deiner Persönlichkeitseigenschaften, Alltagssituationen und Verhaltensweisen geht das einher?

3. Gibt es Situationen, in denen du über andere urteilst? Wie sehr reflektierst du, was dein Urteil mit dir selbst zu tun hat? Wie würden Pferde eventuell reagieren?

4. Was zeigen dir Pferde ganz besonders, wenn es um Menschlichkeit geht?

5. Mit welchen Persönlichkeitseigenschaften fühlt sich ein Pferd beim Menschen besonders wohl?

Das Flüstern der Pferde

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