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32. Liv

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Beatrice klopfte an die verschlossene Tür von Connect Positive, Liv ließ ihren Blick durch den heruntergekommenen Flur schweifen. In dieser Stadt gab es so viele Möglichkeiten unterzutauchen. Die Hoffnung, dass sie Oxana doch noch finden würden, hatte sie trotzdem nicht aufgegeben und auch während der gesamten Fahrt die Straßen nach ihr abgesucht. Wenn sie sie nur noch einmal sprechen könnte, ihr vermitteln könnte, dass sie ihr wirklich helfen wollten.

Erneut fiel Liv auf, wie muffig und feucht das Treppenhaus mit der auffällig bunten Treppe roch. Der Versuch, mit diesem Anstrich den Verfall zu vertuschen, führte eher dazu, dass er nur noch offensichtlicher wurde. Der Flur passte zu ihrer Hoffnungslosigkeit.

Die Tür wurde aufgerissen, und Irina stand vor ihnen mit einem Karton im Arm. „Beatrice? Ihr schon wieder? Habt ihr das Mädchen noch eingeholt?“

„Hallo Irina, leider nein. Hat sie sich bei euch blicken lassen?“

Irina lachte bitter auf. „Wo denkt ihr hin? Diese ehemaligen Straßenkinder sind scheu und haben wenig Gutes erlebt. Woher soll sie wissen, dass ihr nicht zu ihren Bewachern gehört?“

Beatrice öffnete den Mund zu einer Erwiderung und bemerkte dann den Karton. „Du packst schon? Ich dachte, es geht bis Ende des Monats weiter?“

„Ja, aber was sollen wir den Menschen hier noch sagen? Für die Art der Aufklärung, die hier nötig wäre, bräuchten wir Jahre.“

Liv schaltete sich in den Dialog ein. „Irina, was genau ist das Problem mit der ukrainischen Regierung, HIV und Prostitution?“

Irina stellte seufzend den Karton ab und winkte sie rein. „Kommt mit. Das ist kein Thema für ein Flurgespräch. Die Kaffeemaschine läuft, und Stühle sind auch noch da.“

Liv kramte nach ihrem Notizbuch. Sie wollte nun endlich die Wurzel dieses Problems verstehen. Der Sexskandal rund um einen scharfzüngigen, prominenten Moderator und die ukrainischen Prostituierten fiel ihr wieder ein. Was lief hier so schief, dass Zwangsprostitution immer wieder ein Thema war?

Irina beobachtete Liv und holte Luft, als diese sie mit gezücktem Stift erwartungsvoll ansah. „Die Prostitution hier in dem Land ist ein postsowjetisches Phänomen, das viel mit dem starken Patriarchat und dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten zu tun hat. Eine Frau in der Ukraine hat es in den Augen der Gesellschaft zu etwas gebracht, wenn sie einen Mann gefunden hat und dieser macht, was sie möchte. Die Waffe hierfür ist Sex. Ohne einen Mann ist eine Frau nichts wert. Männer hingegen haben wenig Respekt vor Frauen. Eine Frau muss gut im Bett sein, kochen können, häuslich sowie eine gute Mutter sein und einen ruhigen Charakter haben.“

„Widerspricht sich das nicht in Teilen? Das Heimchen am Herd und die sexbesessene Hure?“

„Ja. Deswegen hat Treue auch keinen hohen Stellenwert. Wenn die Frau zur Mutter und Haushälterin mutiert ist, holen sich die Männer den Sex woanders. Hier kommen nun Armut und Korruption ins Spiel. Die Frauen, die sich freiwillig prostituieren, machen das beispielsweise für eine dringend notwendige Krebsoperation ihres Vaters oder ein Hörgerät für die taube Mutter. In den besseren Kreisen hingegen haben die Edelhuren aber auch schon mal einen Universitätsabschluss. Die verkaufen sich für Klamotten und Handtaschen. Was mit ihnen im Alter wird, blenden sie aus. Es zählt das Hier und Jetzt.“

„Gäbe es denn andere Arbeit für diese gebildeten Frauen?“, fragte Liv.

„Kaum. Zumindest gibt es für sie kaum andere Verdienstmöglichkeiten. Im Strudel von Korruption fallen moralische Werte weg. Die Menschen träumen von einem Leben im Luxus mit schicken Kleidern und teuren Autos. Da erscheint das Verkaufen des Körpers als der einfachste Weg zur Teilhabe am materiellen Leben.“

Liv schüttelte den Kopf. „Wie kommen die Mädchen und Frauen nach Deutschland und in die anderen europäischen Staaten?“

„Das ist ein anderer Zweig der Prostitution. Diese meist sehr jungen Mädchen werden oft verschleppt. Dafür sorgt eine straff organisierte Mafia. Die Masche ist alt, aber immer noch erfolgreich. Den Mädchen wird Arbeit als Tänzerin, Modell oder Kellnerin angeboten. Dann wird ihnen der Pass abgenommen, und sie werden regelrecht entführt. So gelangen sie nach Deutschland.“

„Aber wir leben doch in einem Rechtsstaat. Warum holen sich die Frauen keine Hilfe?“

„Woher sollen die das wissen? Sie haben von Kindesbeinen an gelernt, dass Männer die Macht haben. Wenn sie hier so verrückt sein sollten, Schutz bei der Polizei zu suchen, kann es ihnen passieren, dass sie noch auf der Wache vergewaltigt werden, während sie darauf warten, dass ihr Zuhälter sie dort wieder abholt. Da wechselt dann ein Bündel Geld den Besitzer, und die Frau ist ihrem Bewacher wieder hilflos ausgeliefert. Der wird dafür sorgen, dass sie das nicht noch mal versucht.“

„Was hat das alles mit Connect Positive zu tun?“ Liv suchte nach dem roten Faden und war noch immer irritiert.

„Neben den Drogenkonsumenten sind die Prostituierten der zweite Verbreiter der Krankheit. Da beides offiziell verboten ist, wird ausgeblendet, dass durch diese Ignoranz viele andere Menschen infiziert werden und sterben. Die Freier stecken daheim ihre Ehefrauen an, diese bei der Geburt die Kinder und immer so weiter. Wo es offiziell kein Problem gibt, gibt es auch keine Hilfe.“

„Wie kam es dann zur Gründung von Connect Positive?“

„Die AIDS-Hilfe-Bewegung hatte das Dilemma früh erkannt und wollte Know-how aus Deutschland an die Brennpunkte Osteuropas bringen. Kiew hat eine der höchsten HIV-Neuansteckungsraten. Am dringendsten waren Schulungen für Ärzte, Spritzentauschprogramme, Sozialberatungen und dergleichen.“

„Aber ihr kümmert euch doch auch um die Straßenkinder?“

„Ja, aber vor allem um die, die durch Prostitution bereits auffällig geworden sind. Wir erklären den Weg der Ansteckung durch das Virus, verteilen Kondome und begleiten sie bei Arztbesuchen. Es ist eine mühevolle Arbeit, aber wir freuen uns über jedes Mädchen, das danach auf Kondome besteht. Unsere Erfolge sind leider bescheiden. Wenn der Freier nicht will, geht’s halt ohne, weil das Mädchen das Geld braucht.“

„Wer hat das bisher bezahlt?“

„Global Fund und die Weltbank. Aber die hatten bereits 2004 ihre Zahlungen an den ukrainischen Staat wegen Missmanagements ausgesetzt und schon geflossene Hilfsgelder zurückgefordert. Nun frieren sie deswegen auch die Gelder an private Organisationen ein. Egal, ob da Korruption eine Rolle spielt oder nicht. So wird auch uns der Geldhahn zugedreht und wir müssen einpacken.“

Beatrice war auffallend still und verhalten. Aber vielleicht war das ihr Normalzustand? Liv konzentrierte sich wieder auf Irina. Vielleicht würde sie noch etwas erfahren, was ihr bei der Suche nach dem Mädchen weiterhelfen könnte. „Was hat das Internat mit all dem zu tun?“

„Das Internat ist im Grunde ein Waisenhaus für Mädchen mit angeschlossener Schule. Isolde Züchner hat es vor Jahren mit der Billigung der Kiewer Behörden gegründet. Das war allerdings schon vor meiner Zeit. Sie beschäftigt als Mitarbeiterinnen gerne ehemalige junge Prostituierte, die vorher eine Therapie durchlaufen haben. Sind sie mit dem Virus infiziert, erhalten sie die benötigten Medikamente, damit AIDS überhaupt nicht erst ausbricht. Sie führen ein fast normales Leben, das ohne den Job und die medizinische Versorgung nicht denkbar wäre. Vor allem betreuen diese jungen Frauen hingebungsvoll die Mädchen zwischen zehn und sechzehn Jahren, die im Heim leben. Das sind alles Waisen, die so ihre zweite Chance auf ein halbwegs normales Leben erhalten.“

„Was hat Frau Züchner davon? Warum hier, mitten in der Ukraine?“

Irina lächelte zum ersten Mal. „Ich schlage vor, dass Sie sie das selber fragen. Nicht wahr, Bea?“

Beatrice nickte. „Isolde ist eine grandiose Frau. Ich stelle gerne den Kontakt her, und dann sprich mit ihr.“

„Und ob ich das tun werde“, murmelte Liv. Dieses überirdische, altruistische Wesen wollte sie wirklich kennenlernen.

Mit dem Versprechen Irinas, sofort anzurufen, wenn Oxana auftauchen sollte, verabschiedeten sich die beiden Frauen und fuhren zurück ins Hotel. Liv schaute aus dem Fenster des Taxis und wurde mit jedem Kilometer, den sie sich von der Organisation entfernten, hoffnungsloser. Die Informationen von Irina erschlugen sie in ihrer Dimension. Wo sollte man da anfangen, den Frauen und Mädchen zu helfen?

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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