Читать книгу Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band - Tina Voß - Страница 43

Freitag, 12. April 31. Liv / Beatrice

Оглавление

Am nächsten Morgen saß Liv schon im Frühstücksraum, als Beatrice mit einer überdimensionalen Sonnenbrille den spärlich beleuchteten Raum betrat. Sie sah aus wie eine Schauspielerin, die durch schlechte Tarnung erst recht auf sich aufmerksam machen wollte.

„Guten Morgen.“ Liv musterte Beatrice, die bei der Ansprache das Gesicht verzog und sich vorsichtig auf einem Stuhl niederließ.

„Nicht so laut“, stöhnte sie, schob die Sonnenbrille in die Haare und fasste sich an die Schläfen. Ihr Gesicht war aufgedunsen, und der ansonsten perfekte Kajalstrich verschwand beinahe unter den geschwollenen Lidern.

„Ich hoffe, es war okay, dass ich gestern Abend nicht mehr rübergekommen bin, obwohl du Durst hattest“, sagte Liv und malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.

„Ich muss großen Durst gehabt haben. Es lag eine halb leere Wodkaflasche unter dem Bett, und mein Kopf explodiert.“

„Erinnerst du dich, dass du bei mir im Zimmer warst?“

„Dunkel …“

Sie würde Beatrice nichts von Oxana erzählen. Nachdem Liv die halbe Nacht wach gelegen hatte, aber sich noch immer keinen Reim auf die Zusammenhänge zwischen dem Ministerium, Beatrice und Bögershausen machen konnte, hatte sie beschlossen, einfach weiterzumachen wie bisher. Irgendwie würde sie schon rausbekommen, was da nicht stimmte. Zumindest war Beatrice’ Kater nicht vorgetäuscht. Dazu waren die Spuren in ihrem Gesicht zu deutlich.

„Wollen wir nochmal zu Connect Positive? Die haben vielleicht eine Idee, wo wir weitersuchen können.“

„Ich hatte gestern noch mal nachgefragt. Irina kennt Oxana nicht. Sie hat sie nur das eine Mal mit Helena gesehen. Irina hat auch keine aktuelle Adresse von Helena und will auf keinen Fall im Internat anrufen. Damit würde sie nur Helenas Job gefährden. Irina sagt, dass Andrej da sehr empfindlich ist.“ Beatrice fröstelte und zog sich ihr Twinset enger um den Körper.

„Willst du meine Jacke haben?“ Liv griff hinter sich, zog ihre Lederjacke vom Stuhl hoch und hielt sie Beatrice hin.

„Nur für einen Moment. Wenn das Ibuprofen wirkt und das Koffein in mir ist, wird’s besser.“ Beatrice sah in der Jacke seltsam aus. Eine Dame in Kaschmir und mit Perlenkette unter einer Lederjacke wirkte auf Liv wie ein Windhund mit Adlerfedern. Sie musterte Beatrice, die ihren Kaffee in großen Schlucken trank und sich mit der anderen Hand die Nasenwurzel massierte.

„Ich halte es für besser, wenn wir zusehen, dass wir hier verschwinden. Diese Stadt geht mir auf die Nerven. Das Mädchen finden wir hier niemals, und wenn es keine Hilfe will, dann können wir es nicht zwingen.“ Beatrice setzte ihre Tasse abrupt ab.

„Aber nur hier finden wir raus, was mit Oxana passiert ist, und ob Bögershausen noch mehr Schaden angerichtet hat.“ Was war denn jetzt los? Da war vielleicht ein junges Mädchen in Gefahr, und Beatrice ging lapidar darüber hinweg. Liv hatte die Angst in den Augen des Mädchens gesehen und konnte nicht so tun, als wäre da weiter nichts.

„Am Ende ist es auch egal.“ Beatrice blickte über ihre Tasse aus dem Fenster und schüttelte sacht den Kopf.

„Egal? Du bist doch auch hier, um zu klären, was der notgeile Kerl alles zerstört hat. Wieso gibst du auf?“

„Connect Positive wurden die Fördergelder gestrichen. Das kam sehr überraschend. Ende des Monats ist schon Schluss.“

Beatrice seufzte und schüttelte den Kopf. Sie wirkte wie jemand, der sich nach langem Kampf schließlich mit den Tatsachen abfinden muss.

„Was? Wieso das denn? Davon hat Irina gestern doch aber gar nichts gesagt!“

„Als du hinter Oxana her bist, erzählte sie mir, dass sie bereits einen neuen Job hat. Ihrem Mann hatte diese Arbeit mit HIV und dem Milieu sowieso nie gefallen.“

„Was passiert mit den Projekten? Und den Mädchen?“

„Nichts. Alle werden informiert, dass die Arbeit nicht weitergeht und dass sie sich an die staatlichen Krankenhäuser wenden müssen, wenn sie weiter versorgt werden wollen.“

„Geht das denn so einfach?“

„Nein, aber das interessiert niemanden. Die Mädchen werden sich nicht weiter behandeln lassen können.“

Beatrice wirkte so müde und hoffnungslos wie noch nie während ihrer Reise.

„Weil es keine Medikamente gibt?“

„Die Tabletten vergammeln in den Krankenhäusern!“

„Aber warum?“

„Ich hatte schon versucht, es dir zu erklären. In diesem Land bist du eine Prostituierte und drogenabhängig, wenn du AIDS hast. Da beides unter Strafe steht, wird sich keines der Mädchen einer Klinik nähern wollen.“

„Gilt hier die ärztliche Schweigepflicht denn nichts?“

„In einem postkommunistischen Land sind die Regeln anders. Die Schweigepflicht ist nicht das Problem. Vor den Kliniken, die für ihr HIV-Programm bekannt sind, warten Polizisten. Diese Kliniken sind überwiegend Drogenkliniken. Kommt jemand zur Behandlung, wird er vielleicht verhaftet.“

„Die Mädchen werden also sterben? Einfach so?“ In Liv breitete sich heiße Wut aus.

„Wenn sie noch ein paar gute Jahre haben, werden sie sich wieder mit Prostitution über Wasser halten. Irgendwann wird man sie mit einer Überdosis in einer Gasse finden. Bis dahin haben sie Hunderte von Männern angesteckt. Die sind mir beinahe egal. Sie wollen ohne Kondom vögeln und gehen bewusst diese Risiken ein. Aber sie haben Ehefrauen, und die stecken sie an. Die haben keine Wahl.“

„Und das private Internat?“

„Die kriegen ihre Mitarbeiterinnen auch woanders her. Es gibt genug arbeitslose junge Frauen, die vor der Prostitution bewahrt werden sollten.“

„Wir könnten noch ein paar Tage warten, ob Oxana wieder auftaucht. Nur sie kann uns sagen, was da genau passiert ist und woher sie Bögershausen kennt.“

Liv überlegte fieberhaft, was sie unternehmen könnte, um Beatrice umzustimmen. Sie wollte auf keinen Fall der Resignation nachgeben, die Beatrice fest im Griff hatte. So durfte es nicht zu Ende gehen.

„Connect Positive war unsere einzige Chance. Da hat sie uns gesehen und dachte, dass wir gekommen sind, um sie zurückzuholen. Sie wird da auf keinen Fall wieder auftauchen. Hast du ihr Gesicht gesehen? Das war Panik pur.“

„So werden wir die Wahrheit nie erfahren.“

„Die Wahrheit? Der Mann, der mir jahrelang vorgemacht hat, dass wir die Mädchen schützen, hat sie reihenweise vergewaltigt. Er fühlte sich so sicher, dass er sich dabei fotografiert hat! Irgendjemand hat ihn erpresst oder entdeckt. Daraufhin hat er sich umgebracht. So einfach, so banal. Was für eine Wahrheit soll da noch sein? Ich habe die Schnauze voll von den Männern. Schon lange.“

Beatrice fasste sich an die Nasenwurzel, kniff die Augen zusammen und atmete tief ein. Eine Träne löste sich und lief ihr die Wange herunter. Sie wischte sie mit einer unwirschen Bewegung weg, blinzelte und rang um Haltung.

Wäre jetzt der Zeitpunkt, wo sie Beatrice von ihren Zweifeln an Bögershausens Selbstmord erzählen sollte? Bisher wusste niemand, dass sie im Haus etwas gehört hatte.

Beatrice trank den letzten Schluck Kaffee. „Ich frage an der Rezeption, wann der nächste Flieger geht und ob sie uns drauf buchen können. Oder möchtest du bleiben? Ich habe genug.“

Liv schreckte hoch. „Nein, nein. Schon okay. Du hast vermutlich recht.“

In Liv wirbelte alles durcheinander. Die Sorge um Oxana, ihre Zweifel an Bögershausens Selbstmord. Wie konnte sie weitermachen? Wenn sie Kiew jetzt verließen, wer würde dann Oxana noch helfen können?

Beatrice sah beim Aufstehen Sterne und verfluchte den Wodka. Eigentlich vertrug sie den doch ganz gut. Sie hätte diesen ukrainischen Wein im Laden nicht auch noch probieren sollen. Aber sie wollte den Frust über Bögershausens Verrat, das Aus von Connect Positive und die Hoffnungslosigkeit, die sie selbst nach dem Anruf im Ministerium umgab, betäuben. Wie konnte sie sich nur so in diesem Mann getäuscht haben? War es das sanfte, etwas zu weiche Gesicht, bei dem die dünnen blonden Haare schon quer gekämmt werden mussten, um eine Frisur vorzugaukeln? Bögershausen sah aus, als hätte er nie seinen Babyflaum verloren. Es war diese Weichheit, der sie immer vertraut hatte. Die Konturen seines Gesichtes waren nicht scharf gezeichnet. Alles wirkte ein bisschen verwischt. So, als hätte sich jemand nicht getraut, klare Linien um Mund und Nase zu malen. Sie dachte, dass er ganz in seiner Arbeit aufging und daher kein Interesse an Frauen hatte. Hinter den harmlosesten Fassaden gären manchmal die schlimmsten Geheimnisse.

Beatrice dachte mit Schaudern an den Spritzenangriff vor Jahren. Der Mann war immer unauffällig gewesen, aber seine Dämonen schienen nicht zu verstummen. Vielleicht sollte sie aufhören, den Männern zu vertrauen? Von Frauen ging zumindest sehr selten eine Perversion oder Gewalt aus. Das war die alles überstrahlende Erkenntnis in ihrem Leben. Beatrice seufzte und ging in die Lobby.

„Hallo, ich würde gerne wissen, wann der nächste Flieger nach Hannover geht“, sprach sie auf Russisch den bulligen Mann an der Rezeption an.

„Zimmernummer?“ Sein kantiges Gesicht blieb unbeweglich. Sollte der Kerl nicht besser im Wachschutz arbeiten? Da musste man auch keine Freundlichkeit vorgaukeln.

Beatrice wühlte in den Taschen der Jacke nach dem Schlüssel. Oh, das war ja Livs Jacke. Ihre eigene lag oben. Sie tastete Livs Taschen ab. Was die alles mit sich herumtrug. Ah! Da war der Schlüssel. Beatrice las die Nummer ab, und er fing an zu telefonieren. Als sie den Schlüssel in die Jacke zurückstecken wollte, fiel ein zusammengefalteter Zettel herunter. Beatrice hob ihn auf und versuchte, den Text zu verstehen. Was war das für eine Nachricht? War das eine Adresse? Es war auf jeden Fall Ukrainisch, nicht Russisch.

„Der nächste Flug geht heute Abend. Allerdings über Amsterdam mit einigen Stunden Aufenthalt. Die Maschine hat noch freie Plätze. Soll ich buchen?“

Beatrice legte den Zettel auf den Tresen und nickte. Nichts wie weg hier. Aber was sollte diese Nachricht? Liv sprach kein Ukrainisch.

„Können Sie mir das übersetzen?“ Sie reichte den Zettel dem Rezeptionisten. Ihr Schädel hämmerte, sie wollte nur noch weg und hatte keine Lust mehr auf Überraschungen.

Er las die Nachricht und kniff die Lippen zusammen. Er nahm den Zettel in die Hand, tippte etwas in seinen Rechner ein und schüttelte den Kopf.

„Was ist?“ Beatrice ließ ihn nicht aus den Augen.

„Das ist eine sehr ungewöhnliche Adresse.“

„Das dachte ich mir. Sonst hätte sie meine Freundin kaum in ihrer Tasche aufgehoben.“

„Wir geben so was normalerweise an deutsche Touristinnen nicht raus.“

„So was?“

„Das ist ein Laden für Frauen mit sehr speziellen sexuellen Vorlieben. Vielleicht ist es eine gute Idee, dass sie abreisen. Darf ich den Zettel für Sie entsorgen?“

Beatrice nahm ihm die Notiz aus der Hand, steckte sie in eine der Taschen und verschloss diese mit dem Druckknopf. „Nein, danke. Ich kümmere mich selbst darum.“

Sie buchte die Flüge und fühlte sich von dem Mann unangenehm beobachtet. Was hieß denn spezielle Vorlieben? Auf was fuhr Liv ab, dass sogar ein Ukrainer so angewidert schauen konnte? SM? Bondage? Knaben? Konnte sie Liv darauf ansprechen? Und wieso schrieb ihr jemand in kyrillischer Schrift? Sie sah nun wirklich nicht aus wie eine Ukrainerin. Vermutlich hatte ihr jemand einen Streich spielen wollen, oder der Mann an der Rezeption hatte sie belogen. Beatrice fand ihren Schlüssel in der Hosentasche, schloss ihre Zimmertür auf und setzte sich aufs Bett. Nein, sie würde Liv nicht auf die Adresse ansprechen. Sie wusste nur zu gut, wie schwer Geheimnisse zu bewahren waren. Hoffentlich schaute so schnell niemand hinter ihre private Kammertür. Das würde alles, absolut alles, zerstören.

Es klopfte. Beatrice schaute von ihrem Smartphone hoch und ging zur Tür.

„Wer ist da?“

„Ich bin’s, Liv.“

Beatrice schob die Kette zurück und ließ Liv eintreten.

„Du hast noch meine Jacke samt Zimmerschlüssel.“

Beatrice angelte nach der Jacke und hielt sie Liv hin.

„Der Flieger geht erst abends. Lass uns noch mal zu Irina fahren. Ich möchte mich gerne verabschieden. Vielleicht kann ich was für sie tun.“

Liv bemerkte eine neue Reserviertheit in Beatrice’ Stimme, die sie noch nicht deuten konnte, und nickte. „Ich bin in einer halben Stunde fertig. Treffen wir uns dann unten.“

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

Подняться наверх