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16. Olga / Oliver

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Im schaukelnden Bus verglich Olga ihre Einkaufsliste mit dem Kassenbon und lächelte. Warum schrieb sie bloß diese Liste? Seit über einem Jahr machte sie ihm nun schon den Haushalt, und er wollte immer, absolut immer, die gleichen Dinge. Egal, ob es sich dabei um die Marke der Butter, das Waschmittel oder das extraweiche Klopapier handelte. Sie könnte die Artikel auch auswendig runterbeten, wenn sie mitten in der Nacht jemand mit einer Waffe vor dem Gesicht wecken würde. Was in diesem wunderbaren Land aber niemals passieren würde. Deswegen waren sie damals hierher geflohen.

Der Job war großartig. Er war der erste ihrer Kunden, der darauf bestand, sie auf Lohnsteuerkarte zu beschäftigen. Nun lebte sie seit so vielen Jahren in Deutschland und hatte endlich eine richtige Krankenversicherung und würde sogar Geld bekommen, wenn sie all ihre Arbeitsstellen verlor oder krank wurde. So etwas gab es in ihrem Heimatland nicht, und Olga war stolz darauf, diese Sicherheit zu haben.

Mit über fünfzig Jahren tat ihr immer öfter der Rücken weh, und nach Heinz’ Schlaganfall blieb alles an ihr hängen. Nicht, dass er vorher viel mehr gemacht hätte, als nach Schichtende gierig den Wodka in sich hineinzuschütten und rumzubrüllen. Aber er hatte sich immerhin alleine gewaschen und sich den Hintern selbst abgewischt. Das konnte er nun nicht mehr. Genau wie das Schreien.

Seufzend verließ Olga den Bus und ging das kurze Stück zur Villa zu Fuß. In seinem Haus war sie am liebsten und hatte leichten Herzens die Putzstelle bei zwei keifenden alten Schwestern für ihn gekündigt. Sie schloss die Haustür auf und räumte die Einkäufe in den schimmernden Edelstahlkühlschrank. Gleich neben der Küche war der Hauswirtschaftsraum. Olga liebte den hochmodernen Staubsauger, der aussah, als wäre er direkt aus der Zukunft in diesem Haus gelandet. Kein Beutel, aber dafür sah man im durchsichtigen Sammelbehälter, falls sich mal versehentlich ein Ohrring dorthin verirrte. Nicht, dass er jemals ihres Wissens Damenbesuch bekam, aber man konnte ja nie sicher sein.

Sie saugte den Flur, stieß die Tür zum Arbeitszimmer ein Stück auf und legte das Rohr auf die Schwelle. Summend ging sie zur Küche, um dort den Stecker rauszuziehen. Das Kabel reichte bis vor das Arbeitszimmer. Olga stöpselte den Stecker neben der Tür ein, das Gerät brummte sofort los und schlürfte. Mitten in der Bewegung erstarrte Olga. Der Auffangbehälter sah aus wie ein Mixer, in dem jemand Bier zum Schäumen bringen wollte. War etwas auf dem Parkett verschüttet worden? Olga stieß die Tür ganz auf und schrie.

„Seine Haushälterin, eine Frau namens Olga Piontek, hat ihn gefunden“, las der Uniformierte aus seinen Notizen vor. „Die Frau sitzt drüben in der Küche und ist ansprechbar, falls Sie Fragen haben.“

Oliver Klauenberg hob die Augenbrauen. „Was sollte ich sie fragen? Ein alleinstehender älterer Kerl hat die Schnauze voll von seinem einsamen Leben, erhängt sich und macht seine Haushälterin arbeitslos.“ Er hielt die Luft an und ging um die baumelnde Leiche herum. Gott, wie das stank.

„Wer ist das überhaupt?“

„Günther Bögershausen, 53 Jahre alt, Staatssekretär im Gesundheitsministerium, alleinstehend.“

„Ach … sieh mal an. Deswegen sind wir also hier.“

„Ist das nicht ein schrecklicher Tod?“ Der junge Beamte schüttelte den Kopf.

„Nein, eigentlich nicht. Durch das Abklemmen der Venen und Arterien kriegt das Gehirn keinen Sauerstoff und kollabiert fast sofort. Man wird bewusstlos und bekommt vom Sterben wenig mit. In meinen Augen deutlich angenehmer als Gift oder Tabletten.“

„Aber die Nachwelt findet einen so auf.“ Er deutete auf die Reste der aufgesaugten Urinpfütze.

„Kann dem Selbstmörder dann ja auch egal sein. Falls sie aber mal einen Erhängten sehen, der noch nicht hart wie ein Brett ist und eine angetrocknete Pfütze unter sich hat, lohnt es sich vielleicht, ihn abzuhängen.“

„Und ihm dann gut zuzureden, dass er zurückkommt?“

„So ähnlich.“ Klauenberg lachte auf. „Das Gehirn kann zwischen fünf und fünfzehn Minuten ohne Schäden durchhalten, und das Herz schlägt sogar noch bis zu einer halben Stunde weiter. Also schauen Sie beim nächsten Erhängten am besten genau hin.“

„Na, der wird sich freuen, wenn er statt den Engeln mir ins Gesicht schaut.“ Kopfschüttelnd verließ der Beamte den Raum.

Oliver wandte sich dem Gerichtsmediziner zu, der auf einer Leiter stand. „Wie lange hängt er da?“

„Keine vierundzwanzig Stunden. Er ist noch nicht voll ausgekühlt. Ich denke, irgendwann im Laufe des Nachmittages ist er auf den Stuhl gestiegen und hat’s beendet.“

„Kein Zweifel, dass er es selber war?“

„Eine Strangfurche. Also hat ihn niemand erst erdrosselt und dann hochgezogen. Da hinten auf dem Schreibtisch haben Ihre Kollegen zudem einen ausgedruckten Abschiedsbrief gefunden und eine noch unangetastete Packung eines verschreibungspflichtigen Antidepressivums. Er hätte das mal lieber nehmen sollen. Also, alles in allem würde ich, wenn die Obduktion nichts Überraschendes ergibt, auf Suizid tippen.“ Er machte ein Zeichen, dass der Mann abgehängt werden konnte.

Oliver Klauenberg überflog die wenigen Zeilen, die der Tote leider nicht unterschrieben hatte. Es war immer der gleiche Scheiß. Erst Karriere und Machtgeilheit, dann merken sie, dass sie abends in ihren schicken Buden alleine sind, fangen an zu saufen und machen Schluss. „Für mich sieht das eindeutig aus.“

Er legte den Brief mitsamt Klarsichthülle wieder neben die Beweismittelnummerierung und ging in die Küche, wo eine rundliche, grauhaarige Frau nervös an einem zerfledderten Papiertaschentuch herumzupfte. Oliver schaute auf den kleinen Schnipselhaufen, der sich unter ihr auftürmte. Sie folgte seinem Blick. „Oh! Verzeihung. Wenn das Herr Bögersh …“ Sie unterbrach sich im Satz, schlug die Hand vor den Mund, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Frau Piontek? Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?“

Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Ja, natürlich. Sicher.“

Ihr Akzent deutete auf einen slawischen Ursprung hin. Vermutlich polnisch, überlegte Oliver.

„Sie sind die Haushaltshilfe, nicht wahr? Erzählen Sie mir bitte ganz genau, was passiert ist.“

Olga Piontek schilderte mit stockender Stimme, wie sie ihren Arbeitgeber gefunden hatte. „Er ist … er war ein guter Chef. Alles korrekt, nie Probleme.“ Sie schüttelte den Kopf.

Als Oliver alles erfahren hatte, war für ihn der Fall recht eindeutig, und er machte in Gedanken einen Haken dahinter. Alles war stimmig. Ein einsamer Zwangscharakter, der die Fassade nicht mehr aufrechterhalten konnte. Traurig, aber nicht zu ändern.

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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