Читать книгу Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band - Tina Voß - Страница 32

20. Liv

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„Aber was tust du dann hier? In diesem Land? Mit mir? Warum engagierst du dich in den Hilfsprojekten?“ Liv schaute Beatrice verwundert an.

Beatrice seufzte. „Auf den ersten Blick nur schwer zu erklären, ich weiß. Während meines Studiums habe ich mit drogenabhängigen Schizophrenen gearbeitet. Die Frage, ob das Heroin zu Schizophrenie führt oder die Schizophrenie die Leute so verzweifeln lässt, dass sie ihre Dämonen mit Drogen abmildern wollen, hatte mich sehr fasziniert.“

„Wo hast du das gemacht?“

„Kennst du Christiania in Dänemark? Die autonome Kommune?“

„Ich habe darüber gelesen. Eine Art Hausbesetzung im großen Stil von Anarchisten und Hippies. Aus irgendwelchen Gründen haben die Dänen das Gelände nie geräumt bekommen.“

„Genau. Da habe ich einige Zeit in einem Projekt gearbeitet. Es war extrem schwierig, das Vertrauen der Bewohner, der Christianiten, zu gewinnen. Am Ende ist es mir auch nicht gelungen. Ich wurde von einem Schwerstabhängigen angegriffen und mit einer Spritze verletzt. Meine größte Angst war es, dass er mich mit AIDS infiziert hatte. Das wäre mein Todesurteil gewesen. Die Forschung stand noch ganz am Anfang, die Krankheit wurde durch Freddie Mercury und andere gerade erst in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.“

„Und? Hat er dich angesteckt?“

„Ja, aber mit Hepatitis C. Zum Glück geriet ich in die Hände eines sehr kompetenten Internisten, und nach einer langen und kräftezehrenden Therapie galt ich nach einem Jahr als geheilt. Das hat aber meine Faszination für die Innere Medizin geweckt. Und so sattelte ich meinen Facharzt drauf. Heute behandele ich in meiner Privatpraxis in Teilzeit vermögende Gallensteine, aber den Rest der Zeit arbeite ich in einer HIV-Schwerpunktpraxis.“

„Ist das nicht ein Bruch? Erst die überspannten, gelifteten Gattinnen und dann das andere Ende der Gesellschaft?“

„Vermutlich ja, aber nach der Erfahrung in Christiania ist es vor allem eine persönliche Angelegenheit. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, dass niemand mehr Todesangst haben muss, wenn er infiziert wird. Ich hatte nachts Albträume, sah mich dahinsiechen, sah meine eigene Beerdigung. Das Gefühl, welches mich durchströmte, als klar war, dass ich kein AIDS hatte, werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Ich bekam einen Weinkrampf vor Glück. Danach stürzte ich mich in die Behandlung von HIV. Wir hielten das Virus irgendwann auch für beherrschbar, es gab immer neue Kombitherapien mit großen Erfolgen, und in Westeuropa musste niemand mehr an AIDS sterben. Aber dann rückte die Ukraine ins Visier. Die höchste HIV-Neuansteckungsrate, die meisten Ausbrüche von AIDS europaweit, und die AIDS-Hilfe-Bewegung schlug Alarm. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“

„Aber die wollen euch in dem Land doch nicht. Sie leugnen das Problem, die Regierung lässt Hilfe nur unter Druck zu. Warum tust du dir das an?“

„Ich dachte anfangs, dass wir den Frauen helfen können. Dass wir ihnen zeigen, dass es andere Wege als den der Prostitution gibt. Aber für eine ukrainische Frau ist es oftmals das Wichtigste, einen Mann zu finden, und Sex ist das Werkzeug dafür.“

„Aber wieso? Ich habe so viele selbstbewusste Frauen hier gesehen. Wieso gehen die nicht ihren Weg?“

„In dem Land herrscht ein starkes Patriarchat. Hier zählst du als Frau nur etwas, wenn du dir einen Mann geangelt hast. Selbst jungen Mädchen werden schon von ihren eigenen Müttern Pornofilme gezeigt, damit sie früh lernen, was Männer wollen.“

„Wie bitte?“ Liv dachte an ihre verwitwete Tante, bei der sie aufgewachsen war, und stellte sich Tante Ruthi mit einem Pornovideo in der Hand vor, um Liv den rechten Weg zu zeigen. Das Bild war so absurd, dass sie beinahe laut losgelacht hätte.

„Die vermeintlich selbstbewussten Frauen, die du gesehen hast, sind Frauen, die schon einen Kerl an der Angel haben. Wenn der dann noch macht, was sie möchte, schießt ihr Ansehen unter den anderen Frauen ins Unermessliche. Frauen sind alleine nichts wert, Männer zeigen sie vor wie ein schönes Auto, und genauso kaufen sie sich auch die Frauen.“

„Was passiert, wenn sie älter werden? Wer sorgt vor? Bekommen sie eine Rente?“

„Die Männer saufen sich frühzeitig tot, die Frauen denken nur an das Hier und Jetzt. Es gibt in den gehobenen Kreisen jede Menge Prostituierte, die einen Universitätsabschluss haben und das geheim halten. Sie verdienen sehr viel Geld und geben es auch wieder aus. Monogamie gibt es hier sowieso nicht.“

„Und trotzdem gibt es Organisationen aus Deutschland oder anderswo, die sich hier engagieren?“

„Erstaunlich. Nicht wahr? Ich kenne sogar eine Frau, die hier Geld investiert und versucht, den jungen Mädchen andere Werte mitzugeben.“

„Wie passt Bögershausen da nur rein?“ Liv griff nach ihrem Notebook und öffnete einen Ordner. „Das Bild hier habe ich im Netz gefunden. Und mit dem Interview auch die Verbindung zu dir.“

Beatrice beugte sich über den Bildschirm und sah ein Foto, auf dem Bögershausen, umringt von jungen Mädchen, die alle in Rock und Bluse beinahe uniform wirkten, vor einer McDonalds-Filiale posierte.

„Wird er von der Fastfood-Industrie gesponsert?“

Beatrice lachte. „Nein, da waren sie sicherlich zur Belohnung für irgendwas.“

„Belohnung? Ein Burger zur Belohnung?“

„Das ist auch etwas seltsam in diesem Land. Wenn Kinder artig waren oder gute Noten geschrieben haben, wird ihnen versprochen, dass sie am Wochenende zu McDonald’s dürfen. Die ganze Familie macht sich fein, und dann wird dahingegangen.“

„Oha. Fleischklopse vom Klassenfeind.“

„Als der erste Laden in den Neunzigerjahren öffnete, waren die Schlangen länger als bei Apple, wenn ein neues iPhone rauskommt.“

„Aber was hatte Bögershausen mit diesem Rudel Mädchen zu tun?“

„Das sind vermutlich Kinder aus dem Internat, das direkt hinter der Filiale liegt. Hier, das da meine ich.“ Beatrice zeigte auf das schmucklose Gebäude im Hintergrund, das beinahe hinter einer hohen Betonmauer verschwand.

„Was ist das für ein Internat?“

„Es wird von Isolde Züchner unterstützt. Das ist die Frau, die sich seit vielen Jahren hier engagiert. Wir hatten öfter mit ihr zusammengearbeitet. Sie hat auch einen guten Kontakt zum Ministerium von Günther.“

„Könnte das Mädchen, das Bögershausen vergewaltigt hat, hier mit drauf sein?“

Beide beugten sich über das eher körnige Zeitungsfoto. Liv vergrößerte das Bild. Es wurde dadurch aber nur noch pixeliger.

Beatrice runzelte die Stirn. „Schwer zu sagen. Diesen Haarkranz tragen die Hälfte der Mädchen auf dem Bild. Der gehört hier zur Tradition. Denk nur an die ehemalige Ministerpräsidentin. Sie hat diese Frisur gerade bei jungen Frauen wieder sehr populär gemacht. Genau wie das Färben. In natura sind die Haare der Tymoschenko von der Farbe einer Haselnuss, wie der Schriftsteller Gogol es nennen würde.“

„Aber sie könnte aus dem Internat sein?“

„Auf keinen Fall!“

„Was macht dich so sicher?“

„Ich kenne das Internat und seine Politik. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass da so etwas passieren könnte.“

Liv überlegte einen Moment. Das versprach interessant zu werden, und sie wusste sowieso nicht, wo sie anfangen sollte zu suchen. „Können wir das mal besichtigen?“

Beatrice sah auf ihre goldene Uhr und gähnte dezent. „Jetzt würde ich am liebsten erst mal meinen Schönheitsschlaf nehmen. Morgen rufe ich dann Andrej an. Er leitet die Einrichtung seit Jahren. Wenn er Zeit hat, weiß ich, wo wir einen Mietwagen herbekommen, und dann zeige ich dir das Haus.“

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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