Читать книгу Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band - Tina Voß - Страница 36

24. Andrej

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Kaum waren die Besucher verschwunden, hallte sein Brüllen in den Gängen wider. Die Kinder verkrochen sich im Schlafsaal und schauten verstört. Eben noch waren sie durchs Spielzimmer getollt oder hatten über ihren Hausaufgaben gebrütet. Dann knallten Türen.

„Viktor, Rinat! Sofort in mein Büro!“ Andrej trat mit hochrotem Kopf auf den Gang und schrie.

Beide Männer rannten die Treppe hoch und verschwanden hinter der Tür. Dumpf dröhnten die wütenden Stimmen aus Andrejs Büro. So außer sich hatte ihn noch nie jemand gehört. Die Kinder sahen ihn nicht oft, und den meisten war er unheimlich. Aber er schlug sie nicht und schrie sie sehr selten an. Meist genügten ein Blick und ein deutlicher Befehl, und schon taten alle, was er wollte.

„Wie bescheuert seid ihr eigentlich?“, herrschte Andrej die beiden Männer an, die vor ihm standen wie Schüler beim Rektor kurz vorm Schulverweis. „Wie kann da eines der Kinder einfach rauslaufen?“

„Wir fahren gleich rüber, greifen uns die Leiterin und schauen uns das an.“ Rinats Kiefer mahlten.

„Ihr wollt mit ihr sprechen und dann noch auf das Tor starren, wo das Mädchen rausgelaufen ist? Was soll das bringen? Mich interessiert nicht, wie es passieren konnte. Das DARF nicht passieren. Mich interessiert nur, dass sie umgehend zurückgebracht wird!“

„Zwei meiner Männer sind schon los und durchkämmen die Siedlung. Das ist so gut wie erledigt. Verlass dich drauf.“ Viktor nickte, wie schon sein halbes Leben, bekräftigend und überließ Rinat das Reden.

„Ich habe mich auch darauf verlassen, dass deine Leute einen simplen Transport mit ein paar Kindern erledigen können!“ Andrej trat dicht an Rinat heran und musterte ihn wie etwas, das schleimig an seiner Stiefelspitze klebte. Rinats Kehlkopf hüpfte hoch und runter, die Kiefer schienen gleich zu zerbersten. Er senkte den Kopf.

„Sieh zu, dass ich das hier ganz schnell vergessen kann. Haben wir uns verstanden?“

Ohne den Blick zu heben, nickte Rinat.

„Raus!“, donnerte Andrej.

Die Männer eilten aus dem Büro. Andrej ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen und sah auf die Reste des Kaffeegeschirrs seiner Gäste. Die beiden Weiber! Hatten die damit was zu tun? Das konnte kein Zufall sein. Kaum tauchten sie hier auf, ging ihnen zum ersten Mal eines der Mädchen verloren. Welches von denen war es überhaupt? Er hatte nicht mal nach dem Namen gefragt. Es spielte auch keine Rolle, wenn sie schnell genug zurückgebracht wurde.

Er musste dringend ein paar Telefonate erledigen. Welche Polizeiwache war für Puschtscha-Voditsa zuständig? Galt das überhaupt als eigener Bezirk? Seitdem vor Jahren die Sanatorien für die Afghanistan-Veteranen schließen mussten, lebten in den Hochhäusern dort nur noch die ehemaligen Pflegekräfte, die zu alt waren, um noch woanders hinzugehen. Kaum jemand wollte in den unheimlichen Außenbezirk tief im Wald, der zu sehr an eine abgeschottete Geisterstadt erinnerte. Damit waren die Bedingungen für die Station ideal. Niemand fragte, alle sorgten sich um ihre eigene kümmerliche Existenz und senkten sofort die Köpfe, wenn sich ein großer, dunkler Wagen aus dem Wald näherte.

Andrej seufzte. Er blickte auf seine Uhr. Es wurde Zeit. Einen Anruf hatte er bis zum Schluss aufgeschoben, immer mit der Hoffnung verbunden, dass Rinat oder Viktor sich vorher meldeten und Entwarnung gaben. Er drückte die erste Kurzwahltaste auf seinem Telefon und wartete auf die Verbindung. Nach dem ersten Klingeln wurde an der anderen Seite abgehoben.

„Was gibt es?“, bellte es Andrej auf Deutsch aus dem Hörer entgegen.

„Wir haben Problem“, fing Andrej vorsichtig an.

„Offensichtlich. Sonst würdest du nicht diese Nummer anrufen“, erwiderte die Stimme kalt.

„Eines der Mädchen ist von Gelände der Station abgehauen. Direkt nach Ankunft! Sie hat nichts gesehen und ist in Wald gelaufen. Meine Männer sind schon unterwegs.“

„Weggelaufen? Wie kann das passieren?“

Andrej zögerte. Sollte er vom Besuch der beiden Frauen hier im Heim erzählen? „Es war eines der jüngeren. Wenn sie merken, dass Betreuerinnen nicht mitkommen, sind sie meist verstört. Da ist noch was ...“

„Noch etwas?“ Die Stimme klang bei der Frage bedrohlicher.

„Ja. Heute früh waren zwei deutsche Frauen hier, die sich das Heim ansehen wollten.“ Andrej berichtete von dem Besuch, las die Namen vor und erwähnte, dass zur gleichen Zeit das Mädchen ein paar Kilometer entfernt geflohen war.

Am anderen Ende blieb es lange still. „Das klingt nicht gut. Findet raus, wo sie wohnen, und sag deinen Männern, dass sie diese Frauen im Auge behalten sollen. Melde dich umgehend, wenn es was Neues gibt. Das ist gefährlich!“ Es wurde aufgelegt.

Andrejs Faust donnerte auf den Tisch. Verdammt! Er hasste es, so behandelt zu werden. Wie gut, dass er vorgesorgt hatte. Irgendwann würde keiner mehr mit ihm so umspringen können. Er ging zu seinem Schreibtisch, griff aus der untersten Schublade eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit und ein Wasserglas. Mit einem Seufzen kippte er zwei halbvolle Becher hinunter und genoss das Brennen, als ihm der Wodka die Kehle hinunterlief.

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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