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22. Liv

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„Himmel! Kann der nicht aufpassen.“ Beatrice riss das Lenkrad herum und wich dem Bus aus, der plötzlich hinter dem Tor auftauchte. Der Fahrer drohte ihnen sogar noch mit der Faust. Was für ein Idiot! Liv blickte dem Bus hinterher und wurde durch eine Vollbremsung nach vorne gerissen. Ein Mann in schwarzer Blousonlederjacke und Jeans baute sich vor ihrem Wagen auf und hob die Hand. Beatrice ließ die Scheibe runter, er kam betont langsam näher und reckte aggressiv sein Kinn nach oben. Beatrice klimperte mit den Wimpern und sprach ein paar Sätze auf Russisch. Seine Antworten waren kurz und barsch. Er zeigte auf einen Parkplatz und drehte sich weg. Beatrice rollte wieder los.

„Was ich dich schon am Flughafen fragen wollte: Woher kannst du Russisch? Oder ist das Ukrainisch?“

„Nein, das war Russisch. Ich war als junge Frau mal in einen russischen Diplomaten verknallt und habe die Sprache mit großem Eifer gelernt. Der Mann war irgendwann weg, aber später im Studium teilte ich mir das Zimmer mit zwei Russinnen. Ich habe öfter für die beiden gedolmetscht und dafür im Gegenzug Unterricht bekommen. Zu mir kommen gerne reichen Russen in die Praxis, so kann ich die Sprache beinahe täglich anwenden.“

Ein Mann, der Liv mit seiner imposanten Größe und der platten Nase sehr an die Klitschko-Brüder erinnerte, kam mit großen Schritten und ausgebreiteten Armen auf das Auto zu. Beide Frauen stiegen aus.

„Beatrice! Welche Überraschung! Ist lang her.“ Er sprach die deutschen Worte mit einem harten, rollenden R und abgehackt. Liv hätte ihm spontan eine tragende Rolle in einem KGB-Film angeboten. Das breite Lächeln, das die Augen völlig in Ruhe ließ, verstärkte den Eindruck eher, als dass es ihn abmilderte.

Beatrice lächelte und stellte ihm Liv vor, die sehr an der Arbeit des Internates interessiert sei und mehr über das Projekt erfahren wolle. Flüchtig streifte er Liv mit einem Blick und konzentrierte sich dann mit einem Schwall russischer Worte wieder auf Beatrice. Sie hakte sich bei ihm ein, und sie gingen rüber zu dem großen Gebäude. Liv folgte ihnen. Das lief ja großartig. Dem genügte nur eine Sekunde, um sie uninteressant zu finden. „Ich kann Boxer und ihre Doubles eh nicht ausstehen“, murmelte sie, als sie in das große Gebäude traten.

Andrej hatte in seinem Büro, das gleich hinter dem mächtigen Eingangsportal lag, Wareniki und Tee für sie bereitstellen lassen. Während sich Beatrice und Andrej auf Russisch unterhielten – mehrfache Versuche von Beatrice, ins Deutsche zu wechseln, hatte der Mann schlicht ignoriert –, kostete Liv von den Teigtaschen und dem starken Tee. Die Stücke mit der roten Soße erinnerten an Ravioli, aber als sie hineinbiss, waren sie süß und überraschend lecker.

Das Gespräch zog sich wie ein Bandwurm hin. Liv fühlte sich wie in Japan, wo man erst nach stundenlangem Austausch von Höflichkeiten auf den Grund des Besuches kam. Dieser Vorgang war vermutlich nicht abzukürzen. Sie wurde unruhig.

„Liv, wenn du mit den Wareniki fertig bist, können wir gerne mit Andrej einmal durch das Haus gehen.“ Beatrice beobachtete amüsiert, wie Liv sich erneut bediente.

„Greifen Sie zu! Ukraine ist sehr gastfreundlich und vieles gutes Essen.“ Ach. Er erinnerte sich an seine Deutschkenntnisse. Vielleicht fühlte er sich in der fremden Sprache auch nur unsicher und sprach sie deswegen nicht gerne?

„Danke, das ist sehr freundlich.“ Schnell stopfte sich Liv noch eine der Teigtaschen in den Mund und stand auf. Andrej führte sie an den Klassenräumen vorbei, weiter zum Speisesaal und zu den Aufenthaltsräumen. Livs Sneaker quietschten auf dem Linoleum. Das Gebäude wirkte wie ein deutsches Kindererholungsheim aus den Siebzigerjahren. Es zog durch die einfach verglasten Fenster, Wasserflecke, Risse im Putz und der muffige Geruch ließen das große Haus vernachlässigt wirken. Die Schritte der Erwachsenen und Kinder hallten von überall her wider.

„Alle Frauen, die hier arbeiten, sind ehemalige Straßenmädchen oder Waisen aus staatlichen Einrichtungen. Isolde hat das Heim vor einigen Jahren eingerichtet. Es ist ein Haus ausschließlich für Mädchen, quasi ein Resozialisierungsprogramm für die jungen Frauen, die keine Chance mehr auf ein besseres Leben haben.“

Liv hörte die Bewunderung in Beatrice’ Stimme.

„Warum engagiert sie sich gerade hier?“

„Frag sie doch selber, wenn wir zurück in Hannover sind. Sie ist eine spannende Frau und wird dir gefallen.“

Andrej zog Beatrice zu einer stämmigen Frau, die vermutlich die Aufsicht hier hatte. Beide begrüßten sich freundlich. Liv kramte in ihrer Tasche und schlenderte weiter den Gang entlang. An der Ecke stand eine auffallend schöne Frau, die nervös an ihren langen Ärmeln zog, aber Liv mit einem warmen Blick zunickte.

„Sprechen Sie Deutsch?“

Die junge Frau hob die Schultern und wehrte lächelnd mit den Händen ab. „Net, net. Ja ne ponimáju!“

Liv griff in ihre Tasche, trat dichter an die Frau heran und hielt ihr, einer spontanen Eingebung folgend, das Vergewaltigungsbild mit dem ukrainischen Mädchen unter die Nase. Sie erschrak kurz über sich selbst, aber mit der Überrumpelungstaktik hatte sie schon oft Erfolg gehabt. Nur waren es sonst Worte und nicht so ein schreckliches Bild. Aber es gab nur diese eine Chance, und Worte nutzten nichts, wenn man keine gemeinsame Sprache hatte. Der Blick der Frau huschte irritiert zwischen dem Blatt und Liv hin und her. Auf einmal weiteten sich ihre Augen, sie schrie leise auf, schlug die Hand vor den Mund und schaute panisch auf beide Seiten des Ganges.

„Njet! Njet!“ Sie starrte wieder auf das Bild. Von links näherte sich den beiden mit energischen Schritten eine andere, deutlich ältere Frau. „Helena? Estj Problemy?“

Ein Ruf hallte weiter hinten schrill durch den Flur. Beatrice und Andrej, die am Anfang des Ganges standen, verstummten, Helena lief in Richtung des Rufens, die Frau machte auf dem Absatz kehrt und ging mit knallenden Absätzen in die gleiche Richtung. Andrej folgte den beiden.

Liv ließ das Bild wieder in ihrer Tasche verschwinden und ging zu Beatrice. „Was war das denn?“

Beatrice schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich hab’s auch nicht verstanden. Das war Ukrainisch und da kann ich nur wenige Brocken.“

Weitere Rufe hallten durch das Gebäude, und es brach eine hektische Betriebsamkeit aus. Die Stimmung wurde zusehends nervöser. Liv und Beatrice standen auf dem Gang wie Statisten, denen niemand eine Rolle zugewiesen hatte. Mädchen, die neugierig hinter Türen hervorlugten, wurden barsch zurückgeschickt.

Ein harter Stoß von hinten riss Liv beinahe von den Füßen. Helena fiel gegen sie und klammerte sich an Livs Jacke, sodass Liv ein paar Schritte nach vorne taumelte, sich dann aber fing. Erschrocken drehte sie sich um. Hinter ihr schlug die junge Frau auf dem Fußboden auf, rappelte sich gleich wieder hoch. „Prastiti, prastiti!“

Beatrice half ihr hoch. „Ist ja gut, ist doch nichts passiert. Sie müssen sich nicht entschuldigen.“

„Beatrice! Was ist passiert? Beatrice!“ Gänzlich ohne das joviale Lächeln näherte sich Andrej und ließ dabei Helena nicht aus den Augen. Eine Tirade ukrainischer Worte prasselte auf sie nieder. Er packte sie fest am Arm und schubste sie in die Arme der Frau, die sich noch vor wenigen Minuten lächelnd mit Beatrice unterhalten hatte. Dann wandte er sich den beiden Frauen zu. „Tut mir leid. Ihr müsst gehen. Notfall in Heim.“

Er fasste Beatrice am Ellbogen und eskortierte sie und Liv zur Tür. Ein anderer Mann begleitete sie bis zum Auto und starrte finster hinterher, bis sich das Tor schloss und sie sich wie ein ausgespucktes Bonbon auf der anderen Seite befanden.

Liv fand als Erste ihre Worte wieder. „Was bitte war denn das?“

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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