Читать книгу Nadja Benaissa - Alles wird gut - Tinka Dippel - Страница 3
JANUAR 2010: DAS ERSTE TREFFEN
ОглавлениеIn meinem Alter eine Biografie, das klingt schon komisch«, sagt Nadja Benaissa, als wir uns zum ersten Mal gegenübersitzen. Es ist Samstag, der 30. Januar 2010, in sechs Stunden werden die No Angels als Stargast beim Landespresseball in Hannover auftreten. 27 Jahre alt ist Nadja zu diesem Zeitpunkt, im elften Jahr Mutter und ebenso lange vom Crack los, im zehnten Jahr Mitglied der erfolgreichsten deutschen Mädchenband aller Zeiten, im fünften Jahr sechsstellig verschuldet – und seit neun Monaten damit beschäftigt, sich und ihr Leben aufzuräumen. Etwas länger als neun Monate liegt jener Tag zurück, an dem eine Anschuldigung gegen sie ein Justizbeben ausgelöst hat und dann einen Medientsunami. Seitdem weiß die Welt, dass Nadja Benaissa HIV-positiv ist, seitdem ist sie das bekannteste weibliche Gesicht von HIV/AIDS. Seitdem schwebt ein Verfahren gegen sie wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie habe trotz ihrer Infektion ohne Kondom mit einem Mann geschlafen und sie habe ihm nichts von der Infektion gesagt – so lautet der Vorwurf. Und sie habe mit zwei weiteren Männern ohne Kondom geschlafen, die sich nicht angesteckt haben. In den Tagen um unser erstes Treffen erwartet Nadja jederzeit die Erhebung der Anklage.
Solche erste Treffen finden meist in Cafés oder Restaurants statt, dieses im Parkrestaurant im Rücken des Hannoveraner Kuppelsaals, wo schon das Eingangsportal für den Landespresseball grün illuminiert wird. Die Tische sind bereits für die Abendgäste gedeckt, wir haben einen ganz am Rand, am Fenster, durch das man in den von Graupel vernebelten Stadtpark blicken kann. Nadja trägt schnörkelloses Schwarz, eng anliegendes, langarmiges Shirt zu Jeans ohne Gürtel. Ihre dunklen Locken wippen noch ungebändigt um das Gesicht, das man in den letzten Monaten selten hat lachen sehen – meist in Rückblicken, die eine glückliche, unbeschwerte, vergangene Zeit illustrieren sollten.
Wir reißen einmal kurz jedes ihrer Lebensthemen an: Wie sie mit ihrer HIV-Infektion umgeht und wie mit ihrem unfreiwilligen Outing. Wie sie versucht, einen kleinstädtischen Alltag als alleinerziehende Mutter mit den Popstarmomenten in Einklang zu bringen, von denen es mal mehr und mal weniger gibt – die aber einst ihr Leben drei Jahre lang auf Hochtouren gehalten haben. Wie ihre Jugend außer Kontrolle geriet und wie sie seitdem immer noch darum kämpft, die Kontrolle wieder zurückzugewinnen. Wie manche Menschen in ihrem Leben von Freunden zu einer dauerhaften Bedrohung geworden sind. Wie die gewaltige Welle der Medienberichterstattung im letzten Jahr ihr Leben überrollt hat, wie sie sich langsam wieder aufgerappelt und sich und ihre Träume wiederbelebt hat.
Kurz bevor sie zum Soundcheck abgeholt wird, frage ich sie, ob sie überhaupt noch zu jemandem Vertrauen fassen kann. »Ich tue es einfach weiter«, sagt sie ohne merkbares Zögern. »Wenn ich nicht mehr vertrauen könnte, wäre mein Leben vorbei. Lieber falle ich immer wieder auf die Schnauze.« Nadja steht gerade, sie taucht nicht ab, sie meldet sich nicht ab aus einer Öffentlichkeit, die sich ein Bild von ihr gemacht hat, das sie so nicht stehen lassen will. Einer Öffentlichkeit, die nun mal Teil ihres Berufs ist, den sie nicht aufgeben will. Sie weiß nicht, was kommen wird in diesem Jahr, aber was auch immer es ist, sie versucht, es schon mal anzugehen. Sie befinde sich in einem Prozess, sagt sie. Trotzdem wolle sie jetzt reden – gerade weil sie nicht weiß, was das noch frische Jahr und der anstehende Prozess bringen, ob sie zurück ins Gefängnis muss und wann. Nadja will ihre Version ihrer Geschichte erzählen. Es gibt so viele andere Versionen, so viele Zuspitzungen, so viele Mutmaßungen, die sich leicht zusammenfügen lassen zu Nadja-Bildern, die man dann verurteilen oder heroisieren kann. Dieses erste Treffen dauert eine Stunde und diese Stunde wird uns beide überzeugen: sie, dass sie mir ihre Geschichte erzählen will, mich, dass ich sie aufschreiben will. Die Geschichte wird vor allem auf dem beruhen, was sie mir erzählt – aber nicht nur, sie wird deshalb auch nicht nur aus ihrer Perspektive erzählt sein. Und sie wird anfangen, lange bevor Nadjas Leben Tempo aufgenommen hat.
Dann wird es laut, Nadja springt auf und läuft ihrer Bandkollegin Sandy in die Arme. Lange haben sich die No Angels nicht gesehen, Auftritte wie der an diesem Abend sind rar im Winter 2009/2010. Lucy ist da, diverse Menschen drängeln sich um die Frauen, deren Auftritt sie heute zu betreuen haben.
Die No Angels waren schon mal weiter, als den Stargast auf einem Landespresseball zu geben, sie füllten einst die ganz großen Hallen. Sie schienen als Band aber auch schon erledigt – im Mai 2008 etwa, als sie beim Eurovision Song Contest einen der letzten Plätze belegten. Sie sind keine Mädchenband mehr, sie sind jetzt eine Frauenband und sie haben sich bis zu diesem Zeitpunkt gegen so ziemlich alles behauptet, was eine Band kaputt machen kann: kometenhafter Aufstieg, Erfolgsdruck, Konkurrenz untereinander, Ein- und Ausstiege, Burn-out, Trennung, Misserfolg, Häme. Und sie haben ein wenige Monate altes Album, auf das sie sehr stolz sind.
Um Viertel vor zehn laufen Nadja, Lucy, Jessica und Sandy von hinten auf die Bühne und stellen sich an vier parallelen Mikrofonen auf, Nadja als zweite von rechts in einem schwarzen, trägerlosen Korsagenkleid, auf schwarzen Pumps, mit kinderhandgroßen goldenen Hängern an den Ohren. Die Haare sind jetzt streng aus dem Gesicht gegelt und von einem langen Haarteil gekrönt.
Sie singen »One Life«, ihren jüngsten Song, der im Medienhype um Nadja beinahe untergegangen wäre. Dann singen sie sich in der Zeit zurück, über »Rivers of Joy« und »There Must Be an Angel«. Um kurz nach zehn sind sie bei »Daylight«, der Zugabe, ihrem ersten Song, der im Frühjahr 2001 sechs Wochen lang an der Spitze der deutschen Charts stand. Zum Abschied kommt NDR-Moderator Ludger Abeln in ihre Mitte und verwickelt sie in die gefühlt zehntausendste Plauderrunde ihrer Karriere. Die nutzt er für einen Hinweis, dass es noch Lose für die Presseballtombola gibt. Welchen Hauptpreis sie am liebsten gewinnen würde, fragt er Nadja: Anteile an einem Investmentfonds, ein edles Collier oder eine tolle Reise. Sie zögert, dann antwortet sie: »Äh, also, in meiner Situation – den Investmentfonds.« Und die guten Vorsätze für das neue Jahr? Da zögert sie nicht: »Ich habe aufgegeben, welche zu machen.«