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KAPITEL 2

Lena

David hielt eine kleine Katze in seinem Arm.

Ich war vollkommen irritiert. Ungläubig wie eine Verrückte schüttelte ich den Kopf. Komplett außer Rand und Band rang ich bei diesem Anblick um Luft. Den kleinen Stubentiger und David störte mein Entsetzen überhaupt nicht. Die Katze schaute gänzlich amüsiert zum Fenster hinaus und David grinste nur dämlich vor sich hin.

Frischluft, ich brauchte Frischluft!

Ich versuchte mich zu beruhigen und öffnete schnell das Fenster des Autos. Noch nicht einmal einen Zentimeter war die Autoscheibe heruntergelassen, da brüllte David mich an: »Nicht! Mach sofort das Fenster wieder zu, die Kleine erfriert sonst.«

Mir blieb eine echt patzige Antwort im Hals stecken. Schnell schob ich eine CD hinein und versuchte mich bei Jamaika-Sound zu entspannen. Ich wippte im Takt mit, träumte vom weißen Sandstrand, vom türkisfarbenen Meer und von exotisch schmeckenden Cocktails.

Der Moment in der Karibik war nur kurz. Denn als die Katze plötzlich ihren pelzigen, verdreckten Kopf an Davids Kinn rieb und es dann noch so schien, als würde sie seinen Dreitagebart säubern wollen, platzte mir der Kragen.

»Was soll denn das werden?«

Ich kreischte meinen ansonsten so peniblen Sauberkeitsfanatiker an und pöbelte weiter in seine Richtung: »Die überträgt ja alle Keime auf dich!« Davids Antwort kam prompt und mit extrem gelassener Stimme: »Ach, beruhige dich wieder. Der Kleinen fehlt doch nichts, die ist kerngesund.«

Jetzt war David offenbar ein promovierter Katzendoktor.

Ich stieß einen erschöpften Seufzer aus. David war nicht mehr zu helfen. Dann stieg auch schon die nächste Panikattacke in mir hoch. Wie sollte jetzt das Aussteigen aus dem Auto funktionieren? Würde er sie herausheben und bis in die Wohnung im dritten Stock tragen? Nein, niemals würde er sie hochtragen! Er, der Herr Doktor, setzte die Katze sicher leichtfertig ab und dachte, dass sie ihm anstandslos hinterher spazieren würde. Was aber, wenn sie vor Schreck weglief? Und da war auch schon mein erster Verlustgedanke.

Jene Angst, die ich über Jahre erfolgreich verdrängt hatte. Na gut, beruhigte ich mich schnell wieder.

Dann war es eben Schicksal.

Aber wir könnten uns zumindest nicht vorwerfen, nicht alles, wirklich alles, versucht zu haben.

Die ausgehungerte Katze folgte David auf Schritt und Tritt. Mit ihr im Schlepptau kamen wir in der Wohnung im dritten Stock an. Nicht einmal das Treppensteigen hatte sie abschrecken können.

»Hey, du kleiner Schatz, also, was machen wir bloß mit dir? Naja, auf alle Fälle bleibst du heute Nacht hier und schläfst dich so richtig gut aus.

Also ich bin Lena, deine Katzenmutter für heute.«

Als ich dieses Wort ausgesprochen hatte, wusste ich schon, dass das ein absolutes No-Go war: Katzenmutter? Ich? Mutter? Katzenkind? Kind? Katze? Schnell versuchte ich das Wort, welches ich mit hingebungsvoller Verantwortung verband, aus meinem Gedächtnis zu verbannen und stammelte vor mich hin.

»Also, ich meine nicht so eine richtige Mutter – na, du weißt schon - sondern eher so eine Art Wohngemeinschaftspartnerin.«

Dem nicht genug, presste ich auch noch eine tolle WG-Definition aus mir heraus:

»Weißt du, das ist so eine nette, abendliche Gemeinschaft, die ich noch aus meiner Studentenzeit kenne. Man trifft sich zu nächtlicher Stunde, quatscht unverbindliches Zeug miteinander, isst gemeinsam etwas und dann, am nächsten Morgen, geht jeder wieder seines Weges.«

Was für ein gequirlter Schwachsinn, den ich hier verzapfte! Ich schüttelte den Kopf und ärgerte mich über meine Ausführungen. Beschämt versteckte ich mein Gesicht unter meinen Händen. Wie eine Wahnsinnige, offenbar meines Verstandes beraubt, versuchte ich mir den Stress aus dem Gesicht zu reiben. Doch außer dass sich durch das wiederholte Aufund Abreiben meine Visage mittlerweile komplett verzogen anfühlte, passierte nichts. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Lenk dich ab, bitte, lenk dich ab. Denk an etwas Schönes!

Yeap! Da war er auch schon, mein Geistesblitz!

Ich setzte schnell mein bestes Pokerface auf und wandte mich wieder der Katze zu, um sie näher zu betrachten.

Eigentlich sah sie ganz hübsch aus mit ihren goldbraunen Augen, dem bläulich schimmernden Fell und den hellgrauen Pfötchen.

Aber der ganze Dreck, der in ihrem Plüsch klebte!

Das sah nicht besonders appetitlich aus.

Ich eilte ins Badezimmer, um ein nasses Handtuch und eine Haarbürste für ihre Körperreinigung zu holen. Ich kam jedoch nicht am Spiegel vorbei, ohne selbst einen Blick zu riskieren. Da sah ich auch schon das ganze Malheur in meinem Gesicht und auf meinem Kopf. Die Haare standen mir buchstäblich zu Berge und der schwarze Lidschatten war von der ganzen Gesichtsreiberei auch nicht mehr da, wo er eigentlich hingehörte.

Egal!

Erhobenen Hauptes mit Hahnenkamm, voller Kriegsbemalung und mit den Waschutensilien bewaffnet, schritt ich in die Küche zurück. Kampflustig blickte ich dem Feind auf meinem Tisch direkt ins Auge.

Erschrocken von meinem Anblick sprang die Katze hektisch hoch. Als ihr kleiner Körper sich zu einem Katzenbuckel formte, änderte ich meinen zuvor ausgeklügelten Reinigungsplan. Ich kämmte schließlich meinen eigenen Pelz und verwendete den nassen Fetzen für mich selbst. Für die Wohnung war es ohnehin schon zu spät. Ihre Tatzen waren bereits überall zu sehen. Und meine schöne Couchdecke, die ich ihr etwas voreilig gegeben hatte, war bereits zu einem Schmutzlappen verkommen.

Ich setzte mich neben sie. Behutsam streichelte ich der Katze über den Kopf, sah in ihre verklebten, aber trotzdem vor Tapferkeit strotzenden, strahlenden Augen und ließ langsam meine Hand über ihren Körper gleiten. Abrupt brach ich meine Streicheleinheiten ab. Ich spürte nur Haut und Knochen.

»Was bist du doch für eine kleine Kampfkatze, sicherlich hast du viele Strapazen auf dich nehmen müssen.«

Sie war in einem schlechten körperlichen Zustand.

»Keine Sorge, wir werden dich schon aufpäppeln, damit du fit und frischen Mutes schnell wieder nach Hause findest. Ich habe irgendwo gelesen, dass Katzen noch nach Jahren den Weg nach Hause finden können. Und du siehst intelligent aus. Es ist sicher am klügsten, wenn wir dich gleich morgen früh zum Autohaus zurückbringen. Dann kannst du einfach wieder nach Hause spazieren.«

So ein Quatsch! Ich ärgerte mich über die echt idiotisch klingende Heimgeh-Katzen-Theorie. Wahrscheinlich schaffte es gerade einmal eine von tausend verloren gegangenen Miezekatzen, die Route nach Hause zu finden. Und außerdem: Vielleicht wollte sie gar nicht dorthin zurück?

»Was machen wir wirklich mit dir?«, fragte ich niedergeschlagen in ihre Richtung blickend.

Doch sie blieb mir eine Antwort schuldig.

Im Grunde doch wieder nicht.

Die Katze schnurrte inzwischen leise vor sich hin. Sie schien glücklich und zufrieden zu sein.

Ich änderte meine Taktik. Ich versuchte nun, anstelle von schleimigem Gewäsch, logisch an die Sache heranzugehen. Prompt erklärte ich der Katze unseren vollgepackten Tagesablauf. »Weißt du, wir arbeiten von früh bis spät, sieben Tage die Woche. Somit hätte ich, nein, auch dein netter Kumpel David, der dich hier mit mir allein zurückgelassen hat, auch der hätte überhaupt keine Zeit für dich. Immer allein zu sein, wäre bestimmt langweilig für dich. Vor lauter Langeweile würdest du sicher aus dem Fenster springen.«

Oje, das Fenster!

Erschrocken sprang ich hoch, hetzte ins Schlafzimmer, um es schnell zu schließen.

Da war sie wieder, die Panik vor der Verantwortung.

Nein, bitte nicht, flehte ich mich selbst an.

Zurückgekehrt beruhigte ich mich wieder. Ich checkte unsere Wohnung auf Katzentauglichkeit.

»Okay, die Räume sind sicher groß genug für so ein kleines Wesen wie dich. Aber was ist mit dem für euch notwendigen Freigang? Ohne diesen geht bei Katzen angeblich gar nichts. Das weiß ich – naja, wissen nicht gerade – aber ich habe es einmal in einer von diesen Fernseh-Tiersendungen gehört. Gut, du könntest auf der Terrasse sitzen. Da hättest du zwar keinen Freilauf, aber zumindest frische Luft. Aber was machen wir, wenn du in einen der nahe gelegenen Bäume springst? Wenn du dich dabei verletzt oder unten zwar heil ankommst, aber dann vielleicht deines Weges gehst und wir dich nie wiedersehen?

Also leider.

Tut mir schrecklich leid.

Du siehst, es klappt nicht mit uns.«

Plötzlich fiel mir diese neunmalkluge Katzen-Balkon-Lösung aus dem Fernsehen ein. Die Story, wo den Bewohnern eine vergitterte Frischluft-Zelle vor die Nase gesetzt wurde. Das wäre zwar eine sichere Lösung, aber keinesfalls wäre die Gitter-Optik ein tragbares Ergebnis für mich.

Ich wollte doch nicht für eine Katze meine komplette Wohnung auf den Kopf stellen!

»Schon jetzt, am ersten Tag, ist alles verdreckt. Sicher zerkratzt du noch in dieser Nacht alle meine schönen Möbel. Ja, jetzt schaust du noch ganz wohlerzogen drein, aber in Kürze fliegen hier wahrscheinlich die Fetzen und das ganze Inventar ist Schrott!«

Mein Ärger richtete sich zunehmend gegen David. Zuerst nahm er die Katze hirnlos mit und dann ließ er uns auch noch alleine in der Wohnung zurück. Und ließ zudem eine super aufmunternde Verabschiedung vom Stapel:

»Du kannst gar nichts falsch machen, mein Schatz! Viel Spaß, ihr zwei Katzen!«

Ein toller Freund.

Es war der nächste Tag, Silvestermorgen kurz vor sieben Uhr. Es war nicht nur eiskalt, sondern auch noch finster. Und ich? Ich umklammerte bereits das Lenkrad des Autos. Ohne Kaffee und Dusche, lediglich in Jogginghose, Crocs und Davids alter, übergroßer Winterjacke. Ich hatte fluchtartig unser kuschelig warmes Zuhause verlassen. Mein tolles Outfit hob nicht gerade meine Stimmung. Die dunklen Ringe unter den Augen gaben mir noch den Rest.

Ich starrte aufs Armaturenbrett und konnte es gar nicht glauben.

Gerade noch im Bett, jetzt schon auf der Straße.

Bislang hatten wir den Silvestertag immer ohne Hektik verbracht. Mit einem Ritual: Wir starteten mit einem gemütlichen Frühstück, fuhren anschließend ins Büro, arbeiteten dort noch ein bisschen und am Nachmittag kauften wir vollkommen entspannt unsere Raketen ein. Jeder von uns suchte mit besonderer Hingabe drei Böller aus. Um Mitternacht wurden diese in den Himmel geschickt, begleitet von unseren Wünschen.

Danach verabschiedeten wir dankbar das alte Jahr und freuen uns wie Kleinkinder auf das neue.

Bei Sekt, Brötchen und Silvesterwalzer ließen wir es im Garten meiner Mutter so richtig krachen. Kein Geburtstag oder Jahrestag – oder was man sonst noch so alles feierte – war für uns von Bedeutung. Nur dieses eine Fest.

In diesem Jahr lief es nicht rund. Der anstrengende gestrige Tag und der morgendliche, übereilte Aufbruch schlugen nicht nur auf mein Gemüt, sondern auch auf meinen Magen. Meine Stimmung hatte den Nullpunkt erreicht. Ich fühlte mich niedergeschlagen und mir war einfach nur schlecht. Als Herrin über die Straße überlegte ich sogar für einen klitzekleinen Augenblick, dem Katzenspuk ein Ende zu setzen. Normalerweise müsste ich eigentlich bei der nächsten Ampel links zu unserem Büro abbiegen.

Doch ich könnte doch einfach geradeaus weiter bis zum Autohaus fahren?

Doch da flüsterte mir auch schon das Engelchen, welches auf meiner rechten Schulter saß, eindringlich ins Ohr: »Heute ist doch Silvester, der schönste Tag des Jahres. Willst du an diesem Tag wirklich mit David streiten? Willst du dich um Mitternacht mit einer echt fiesen Tat rühmen? Willst du dies alles?«

Nein, selbstverständlich nicht!

Ich lenkte das Auto in Richtung Büro und riskierte einen Blick zu meinen beiden Beifahrern.

Da spürte ich es zum ersten Mal. Es war ein vertrautes, wohlig warmes Gefühl.

Komisch, wir drei waren schon so eingespielt, als ob wir schon jahrelang gemeinsam auf Reisen gegangen wären.

Eine ungewöhnliche Katze.

Die Katzenklappe

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