Читать книгу Die Katzenklappe - Titi O. Sunt - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 1
Mädy
Niemanden interessierte es, wann ich geboren wurde. Meine Ankunft in der Welt war offenbar zu unbedeutend, um sie wie bei den Menschen minutengenau festzuhalten. Es heißt, es passierte irgendwann im Sommer 2007. So steht es zumindest im Tatzenpass. Hättet ihr mich gefragt. Ich weiß es ganz genau. Ich bin am 12. August 2007, an einem lauen Sonntagabend, geboren.
Meine Mama Lilly war eine wunderschöne, graublaue Kartäuser-Rassekatze mit intensiv leuchtenden dunkelgelben Augen. Mein Vater, der zwar keinen langen Stammbaum vorweisen konnte, stand ihr aber an Attraktivität nichts nach. Er war ein gut aussehender betongrauer Kater mit einem cremeweißen Bauch, ebensolchen Stiefeln und bernsteinbraunen Augen. Sogar wenn ich mich im Spiegel ansehe, würde ich sagen, ich bin eine gelungene Mischung. Von meiner Mama habe ich meine elitäre blaue Grundfellfarbe, die plüschige, samtige Struktur des Fells und meine großen, runden Augen, welche im äußeren Augenwinkel leicht nach oben gezogen sind. Auch mein breiter, runder – aber keinesfalls kugelrunder – sondern trapezförmiger Kopf ist im Gegensatz zur spitzbübischen ovalen Gesichtsform meines Vaters auf meine Mama zurückzuführen. Ihre Gene hatten auch bei meinem Körperbau eindeutig die Oberhand. Wegen meiner kräftigen, kurzen Beinchen und des mittellangen Schwanzes wirke ich etwas gedungen. Die athletische Knochenstruktur meines männlichen Erzeugers ist mir leider verwehrt geblieben. Eindeutig väterlicherseits übernommen habe ich die bezaubernden elfenbeinfarbigen Schattierungen in meinem Pelz. Auch die abenteuerlustige bräunliche Augenfarbe habe ich von meinem Vater.
Der Tierarzt empfand mein Fellfarbenspiel bedauerlicherweise als nichts Besonderes und schrieb nur silberfarbig in meine Geburtsurkunde. Sehr merkwürdig. Denn einen Alufolien-Look habe ich wirklich nicht. Aber anscheinend dachte sich der Weißkittel, dass bei einer blauen Mutter und einem grauen Vater einfach nur silbern herauskommen konnte. In meinem Tatzenpass findet sich die Bezeichnung »Ekh«. Diese etwas abwertend klingende Abkürzung bedeutet zwar, dass ich eine europäische Kurzhaarkatze bin, doch ich werde trotzdem nur als Promenadenmischung bezeichnet. Nachträglich erwies sich diese Dreibuchstaben-Kombination als perfekt für mich. Ich wurde von meinen Besitzern in Ruhe gelassen. Kämmen, baden, geradestehen, ruhig sitzen und all dieses schnöselige Getue blieb mir erspart.
Meine Mama durfte unsere Wohnung im ersten Stock nicht verlassen. Eines Tages, in einem unachtsamen Moment, ist sie durch die stets gut bewachte Eingangstür entwischt. Dann traf sie meinen Vater. Sie lernten sich im kleinen Nachbarsgarten kennen. Nach einer intensiven Beschnüffelung verbrachten sie fortan viele ausgelassene, verliebte Stunden miteinander. Nach ihren Liebesausflügen kehrte sie jedes Mal wieder gerne nach Hause zurück. Sie sagte mir oft, dass sie hier niemals das Gefühl habe, etwas zu vermissen.
Sie liebte die Nähe ihrer Menschen und die Aufmerksamkeit, welche diese ihr entgegenbrachten.
Die Wächter des Zugangsportals waren jedoch weder über ihren netten kleinen Tagesausflug noch über ihren daraus resultierenden Zustand erfreut. Denn für sie war eigentlich ein ebenfalls blaufarbiger Rassekater als Liebespartner vorgesehen gewesen. Auch wenn es schon zu spät war: Die Eingangstür wurde künftig wie Fort Knox bewacht.
Ich kam als Einzelkind zur Welt.
Der Hausherr musterte mich eindringlich und beschloss, mich, wenn ich die nötige Größe hätte, im Tierheim abzugeben. Anscheinend konnte er nichts Besonderes an mir entdecken.
Meine Mama hatte aber etwas anderes geplant.
Sie begann mich zu lehren und zu trainieren.
Für meine Mama, die aufgrund ihrer Anmut viele Pokale gewann, galt keinesfalls die Binsenweisheit, schön zu sein bedeute automatisch auch dumm zu sein. Sie war sehr intelligent und hatte mir schon von Kindesbeinen an die drei wichtigsten Grundregeln des Lebens beigebracht:
Mache nichts selbst, was nicht auch ein Mensch für dich tun könnte.
Schließe nie zu schnell eine Freundschaft mit Menschen, denn dein Vertrauen müssen sie sich erst langsam verdienen.
Setze niemals eines deiner sieben Leben leichtfertig aufs Spiel.
Mama lehrte mich wie Inspektor Columbo zu denken, zu fühlen und zu handeln. Sei immer wachsam und prüfe eindringlich eine fremde Umgebung, bevor du diese leichtfertig beschreitest. Erkennst du eine Bedrohung, dann handle niemals übereilt, sondern immer kontrolliert. Entweder gehst du, der Gefahr ins Auge blickend, mit geschärften Krallen in die Konfrontation oder du ziehst dich – da du das Risiko im Vorfeld abgeschätzt hast – selbstbewusst zurück. In beiden Fällen gehst du als Gewinner vom Feld.
Ich versuchte mir alles einzuprägen.
Nichts, aber auch wirklich nichts darf für eine Katze ein Hindernis sein, predigte meine Mama. Obwohl meine Beinchen noch so klein und kraftlos waren, motivierte sie mich unermüdlich, ihr als Parcoursläuferin bis auf den höchsten Punkt im Raum zu folgen. Folgsam sprang ich ihr auf meinen wackeligen Pfoten in schwindelnde Höhen hinterher.
Doch bei all den Strapazen, die sie von mir abverlangte, sparte sie niemals mit Erklärungen:
»Ganz oben ist es nicht nur am sichersten für dich, hier hast du auch den besten Gesamtüberblick über alles, was in deiner Umgebung geschieht.«
Hechelnd, aber ihren Ratschlag beherzigend, blickte ich meine Mama an. Doch sie gab mir keine Zeit zu pausieren. Ich musste schon wieder hinter ihr her und den beschwerlichen Abstieg in Angriff nehmen.
Abends, zur Schlafenszeit, wurde unsere Zimmertür ins Schloss gezogen. Das beeindruckte meine Lehrmeisterin nicht, vielmehr sah sie darin eine neue Lernaufgabe für mich. Gelassen setzte sich meine Mama vor die geschlossene Pforte und wartete erstmal in aller Seelenruhe ab, bis es in der Wohnung mucksmäuschenstill geworden war.
Dann plötzlich visierte sie den Türgriff an. Sie setzte an, sprang und drückte im Flug mit Leichtigkeit den Griff nach unten. Ihr Zielobjekt öffnete sich und schon spazierten wir auf leisen Sohlen los. Ihr scheinbar kinderleichtes Türprojekt wurde schließlich zu meiner Abendgymnastik.
»Ein geschlossener Zugang darf für uns Katzen kein Problem darstellen«, ermahnte sie mich immer wieder zum Training.
Ich versuchte es unermüdlich. Doch entweder waren meine Beine zu kurz, zu schwach oder vielleicht auch nur der dämliche Türgriff zu hoch. Jedenfalls schaffte ich es nicht, die doofe Klinke nach unten zu drücken.
Etwas enttäuscht über meine nicht vorhandene Begabung wurde unser Unterricht auf den Tag verlegt. Meine Mama lehrte mich nun eine etwas abgewandelte Form des Türöffnens:
»Stecke deine rechte Pfote in den Türspalt, ziehe oder stoße dann – je nachdem, in welche Richtung sich die Türe öffnet - diese schwungvoll auf, schiebe anschließend schnell deinen Kopf hinterher - und schon bist du durch!«
Das war total easy cheesy.
Ich lernte es im Pfotenumdrehen.
Wenn Besuch für meine Mama antrabte, mussten unsere Ausbildungszeiten ärgerlicherweise immer wieder unterbrochen werden. Besuch kam fast täglich und blieb noch dazu für mehrere Stunden. Der für sie auserwählte blaufarbige Zuchtkater kannte nämlich kein Nachhausegehen. Immer wieder störte der Lüstling unsere traute Zweisamkeit mit seinem aufdringlichen Getue, Gesitze und Schauen.
Blöderweise dachte er, dass der Weg zur Mutter über die Tochter führen würde. Ständig war er deshalb mit seinem Riechorgan hinter mir her. Wie eine Bulldogge stellte sich aber meine Mama schützend vor mich, hob drohend ihre Pfote und zeigte ihm ihre gepflegten Krallen. Zugeschlagen hat sie nicht, aber der Trick mit der Pfote funktionierte. Beleidigt zog sich der Blaumann in die Ecke zurück. Zum Leidwesen meiner Mama schenkte er fortan nun ihr seine ganze Aufmerksamkeit. Sein penetrantes rolliges Verhalten löste bei ihr aber Unbehagen aus. Er durfte ihr weder zu nahekommen, noch schenkte sie ihm einen zärtlichen Blick. Er konnte in ihrem Herzen kein Feuer entfachen. Dieses brannte ja bereits lichterloh für meinen Vater.
Mein Vater war ein wilder, ungebändigter Freigeist mit vor Energie strahlenden, lebensbejahenden Augen. Jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr datete er meine Mama vor unserem Zimmerfenster.
Er hockte im Wipfel des gegenüberliegenden Baumes und kletterte erst wieder zufrieden herunter, wenn ihm seine Lilly ein verzücktes Hallo durch die Scheibe gehaucht hatte. Jeden Sonnenaufgang zeigte er mir mit seinem Frohsinn ein Stückchen mehr von seiner großen Welt. Immer mehr beneidete ich ihn um sein freies Leben. Traurig blickte ich ihm hinterher, wenn er glücklich seine Hüfte schwingend hinter einem der Wohnblöcke verschwand.
Mit nicht mal vier Monaten spürte ich, dass meine Zeit für Veränderungen gekommen war. Ich beschloss die Wohnungstür - mein Tor in die Weite der Welt oder in die Enge des Tierheimes - aufmerksamer zu beobachten. Tagelang legte ich mich auf die Lauer, um den Aufgeh- und Schließrhythmus der Menschen zu studieren.
»Eine Tür ist kein Hindernis. Nein! Sie darf kein Problem für uns Katzen sein.«
Das hatte mich meine Mama in weiser Vorahnung gelehrt.
Ich wartete geduldig auf meine Chance zur Flucht.
An einem Sonntagmorgen im Spätherbst war der Zeitpunkt endlich da. Ausdauernd und hingebungsvoll leckte mir meine Mama sanft über mein Fell und strahlte mich dabei liebevoll an. Nach Beendigung der Morgenwäsche nahm sie mich plötzlich zur Seite und flüsterte mir in mein gespitztes Ohr:
»Ich bin mir sicher, dass deine Zeit nun gekommen ist, um der großen Welt zu zeigen, wer du bist und was in dir steckt. Sei heute besonders wachsam. Nutze deine Chance. Öffne die Tür, wie du es gelernt hast, und renne schnell, ohne dich umzudrehen. Lebe dein Leben!«
Ich wusste sofort, was sie meinte.
Ein Model-Wettbewerb stand auf dem Programm. Nur an einem solchen Tag wurde Fort Knox im Minutentakt geöffnet. Es wurden große und kleine Taschen, bunte und einfarbige Decken, geflochtene und gewebte Körbe – einfach jeglicher Krimskrams – ins Auto getragen.
Ich wartete stundenlang. Zur Mittagszeit war meine Chance endlich da. Der Herr des Hauses kam schnaufend von einem Autotransport zurück, zog die Tür nicht ins Schloss und hetzte eiligen Schrittes auf das Wohnzimmer zu, um neue Sachen zu holen. Meine Mama und ich saßen gerade auf der Kommode im Vorraum. Ein paar Pfotenlängen vom geöffneten Ausgang entfernt. Als der Hausherr schwitzend an uns vorbeihuschte, senkten wir zeitgleich ganz unschuldig unsere Köpfe. Als er endlich außer Sichtweite war, blickte ich unsicher zu ihr hoch: »Jetzt?« Ihre Antwort kam prompt und eindeutig: »Lauf!«
Ohne Widerrede startete ich los, stürzte mich kopfüber von der Truhe und hetzte voller Panik auf die Tür zu. Ich machte diese eilig auf, drückte meinen Kopf nach und weg war ich.
Ich spürte Mamas Blicke im Nacken. Eine angenehm wohlige Wärme lief über meinen Rücken.
Ich lief, ohne mich umzudrehen.
Von der Zivilisation und meiner Geburtsstätte kilometerweit entfernt, brach ich erschöpft auf einer saftigen grünen Wiese hinter einem hohen Holzstapel zusammen. Nach einem Moment des Kräftesammelns kletterte ich vorsichtig an diesem Holz hoch.
So verschaffte ich mir einen Überblick.
Plötzlich erspähte ich schlanke lange, haarige Beine. Mutig ließ ich meinen Blick nach oben zu den dazugehörigen riesigen Köpfen schweifen, bis ich schließlich in dämliche, mich anglotzende, kugelrunde Kuhaugen schaute.
Okay, ein Kuhrevier.
Zwischen den Dicken war es wenigstens in der Nacht warm! Ich versuchte meine gute Laune nicht zu verlieren. Als sich jedoch ein brauner Knallkopf in meine Richtung aufmachte und schweren Schrittes auf mich stampfte, versteinerte sich meine Miene. Die Krallen würden hier nichts nutzen, dessen war ich mir sicher, somit blies ich zum Rückzug.
Schnell hüpfte ich vom Holz, rollte mich im Schutz der hohen Wiese ein, steckte meinen Kopf unter meine Pfoten und presste zur Sicherheit noch zusätzlich meine Augenlider ganz fest zusammen. Freilich hatte das clevere Rindvieh meine List durchschaut. Es roch an meinem Hinterteil. Erschrocken hüpfte ich hoch, setzte schnell mein freundlichstes Lächeln auf und sprintete los. Ich hörte noch, wie die blöde Kuh mir laut und hysterisch hinterherbrüllte.
Wahrscheinlich holte der Angsthase jetzt noch den ganzen Stall zu Hilfe. Tatsächlich! Plötzlich grölte die Herde hinter mir her. Auf meiner Flucht legte ich vorsichtshalber lieber den vierten Gang ein. So zischte ich wie eine Granate aus der Gefahrenzone hinaus.
Nach einem anstrengenden, aber siegreichen Sprint entdeckte ich am Ende der Wiese eine große Scheune. Die Türe stand einladend offen. Es sprach nichts dagegen, einen Blick zu riskieren.
Super, der Schuppen war vollgefüllt mit kuscheligem Stroh!
Ich verschaffte mir einen Überblick. Da sich keine Dickhäuter oder andere beängstigende Lebewesen in meinem Sichtfeld befanden, hüpfte ich schwuppdiwupp ins getrocknete Gras und verkroch mich darunter. Extrem erholungsbedürftig von den Aufregungen des Tages begab ich mich zur Nachtruhe. Ich wollte meine Batterien für den nächsten Tag wieder aufladen. Nach einer kurzen hektischen Katzenwäsche verließ ich beim ersten Hahnenschrei voller Tatendrang meine Schlafstätte und zog abenteuerlustig weiter. Überglücklich, den Wind in meinen Nackenhaaren zu spüren, streunte ich ausgelassen über die Weite der Felder und durchkämmte die dunklen Wälder. Ich spürte einen Hauch der Freiheit. Interessiert am andersartigen tierischen Wandervolk traf ich zuerst auf ein Pläuschchen den schlauen Fuchs. Dann den bei meinem Anblick aufgeregt am Boden klopfenden Meister Lampe. Und ich lernte mich vor den scharfen Pranken des Marders zu fürchten.
Sorgenfrei schritt ich weiter. Nach Wochen meiner durchaus vergnüglichen Wanderschaft schlug mir aber die Realität mit voller Härte ins Gesicht. Es wurde bitterkalt. Der Himmel trübte sich. Es begann zu schneien. Gegen die ersten Schneeflocken, die vom Himmel fielen, hatte ich noch nichts einzuwenden. Amüsiert hüpfte ich der weißen Pracht hinterher. Doch es schneite unaufhörlich und bald wurde jeder meiner Schritte zu einem strapaziösen Kraftakt. Ich versank im weißen Pulver. Keinesfalls wollte ich aufgeben. Ich mobilisierte all meine Kräfte und stapfte bei meiner verzweifelten Suche nach Nahrung einfach aufs Geradewohl immer weiter durch die Schneelandschaft. Aber ich fand nichts. Die schlauen Vögel waren bereits in die Wärme des Südens geflogen und selbst die sonst etwas doofen Mäuse verweigerten mittlerweile einen Blick aus ihrem geheizten Erdreich in die kalte Wirklichkeit. Hoffnungslos musste selbst ich erkennen – und dabei gebe ich nie auf – dass es keine Aussicht auf eine Mahlzeit mehr geben würde. Ich ging zu Plan B über, zu meinem Notfallplan: Raus aus der Eiszeit und rein in die Warmzeit. Bestätigung für meine gefällte Entscheidung fand ich in der ersten Grundregel meiner Mutter: Mache nichts selbst, was nicht auch ein Mensch für dich tun könnte!
Schnell passte ich diese klare Ansage an mein Bedürfnis nach Futter an.
Wo Menschen sind, musste auch Nahrung sein.
Das ist Fakt.
Warum noch länger vergeblich weitersuchen, wenn ich die Menschen doch einfach höflich bitten konnte, mir etwas von ihrem Kuchen abzugeben?
Ich änderte meine Route und begab mich auf die Suche nach zweibeiniger Gesellschaft.
Doch meine bisherige Reise hatte mich so tief in die Wildnis geführt, dass ich einsam meinen endlos scheinenden Überlebenskampf austragen musste. Auch die Kollegen Fuchs und Hase hatten sich bereits in ihr warmes Winterdomizil zurückgezogen.
Eines Abends mit Einbruch der Dunkelheit, gerade als ich meinen ausgelaugten Körper in einem schneefreien Erdloch zusammenkauern wollte, sah ich plötzlich Licht.
Zuerst dachte ich noch an eine Sinnestäuschung, dann an das letzte Aufflackern meiner Sicherungen im Kopf.
Als ich vorsichtig zu dem Schein schlich und es immer heller wurde, strahlte er mir mitten ins Gesicht. Nur eine Straße trennte mich noch von dem hell erleuchteten Areal. Diese galt es nun zu bezwingen. Wie es mir in der dritten Grundregel beigebracht worden war – niemals mein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen – und weil ich mich auch für eine übereilte Kamikazeaktion noch viel zu jung hielt, bezog ich zuerst einmal Stellung am Straßenrand. Ich musste der Gefahr ins Auge blicken, um sie richtig abschätzen zu können.
Ich begann das Fahrverhalten der vorbeirasenden und der kurz anhaltenden Autos zu studieren.
Man musste keine besondere Leuchte sein, um zu erkennen, dass das Erreichen meines Ziels von einem grün- oder rotleuchtenden Licht abhing. Bei Grün blies der Fahrtwind mir von allen Seiten mitten ins Fell. Somit: no chance. Einzig und allein bei Rot lag meine Möglichkeit. Die erste Spur war frei und auf der zweiten kamen die Autos zum Stillstand. In diesem kurzen Moment der Ruhe sah ich, wie die auf der Rückbank sitzenden Kinder ihre Nase an der Seitenscheibe platt drückten und mich mit weit aufgerissenen Augen ängstlich anstarrten. In der Hoffnung, die Familienkutsche würde am Fahrbahnrand stoppen und die Kids würden zu mir herüberkommen, um mich aufzulesen, wollte ich noch schnell ein paar nette Kunststücke zeigen. Zu spät. Da brausten sie schon wieder los. Die an der Heckscheibe klebenden kleinen Gesichter verschwanden in der Dunkelheit.
Enttäuscht wandte ich mich wieder meinem Ursprungsplan zu. Ich wollte den beleuchteten Ort erreichen. Ich vergaß die Halbwüchsigen und konzentrierte mich wieder vollends auf die zeitliche Abfolge der Farben. Das mir für einen sicheren Sprint über die Straße zur Verfügung stehende notwendige Zeitfenster bei rotem Leuchten erschien mir zwar äußerst kurz, aber dennoch machbar.
Selbst ist die Frau!
Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und machte mich zum Absprung bereit. Die Signalfarbe kam.
Tschakka, du schaffst es!
Hektisch flitzte ich über die erste freie Spur. Stopp. Ein weißer Lieferwagen saust an mir vorbei, bevor er in der Kolonne zum Stillstand kam. Ich machte einen gestressten Hacken nach rechts, im Wettlauf mit der Geschwindigkeit des herannahenden silbernen Sterne-Autos sprintete ich zwischen der Hecktür eines Lastkraftwagens und der Motorhaube eines Mercedes hindurch.
Ja! Geschafft!
Gerade noch rechtzeitig.
Hinter mir brausten mit vollem Tempo die Vierräder die Straße auf und ab.
Voll durchgedreht fegte ich, auf der anderen Straßenseite angekommen, im Zickzacklauf an Menschenbeinen vorbei, bevor ich unter einen mir sicher scheinenden, parkenden Kleinwagen hetzte, um mir eine Verschnaufpause zu gönnen. Diese hatte ich bitter nötig. Doch wer rastet, der rostet.
Die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit drängte. Denn sollte sich das Blatt für mich heute noch zum Positiven – zu einem vollen Magen – wenden, musste schnell was geschehen.
Ich robbte bis zum Auspuffrohr vor, um meine Lage besser sondieren zu können. Juhu!
Viele Menschen bedeuteten viel Nahrung. Doch als ich näher hinsah und vor allem hinhörte, schwand meine Chance, jemals wieder gesund und munter meinen Unterschlupf verlassen zu können.
Die Frequenz am Areal, bedingt durch das ständige Ein- und Ausfahren der Karossen, stellte eine riesige Gefahr für mich dar. Selbst wenn ich es schaffen würde, in die Nähe einer vermeintlich netten Person zu kommen, würde mich diese wahrscheinlich niemals hören. Der hohe Lärmpegel, kombiniert mit meiner nicht gerade ausgeprägten Miau-Schrei-Bega-bung, würde mich mit Sicherheit alt aussehen lassen. Mutlos kroch ich von meinem Aussichtsplatz wieder unter die Mitte des Autos zurück.
Traurig rollte ich mich zusammen.
Meine Situation schien ausweglos. Ich befand mich auf dem Gelände eines Autohauses.
Die Zeit drängte. Hastige Schritte kamen auf meinen Unterstand zu. Dann ging alles ultraschnell. Die Fronttüren wurden aufgerissen, der Schlüssel im Zündschloss gedreht, der Motor jaulte hoch, der Retourgang wurde eingelegt und ab ging die Fahrt. Ich hatte mich gerade noch rechtzeitig unter den danebenstehenden, tiefergelegten Unterboden eines Sportwagens gequetscht.
Fortan war ich auf der Flucht.
Auf der Flucht vor der zweibeinigen Karawane des Schreckens.
Immer wieder musste ich ihnen rechtzeitig entkommen. Ich roch längst nicht mehr interessiert an jedem neuen Auspuffrohr, sondern verkroch mich voller Sorge und im bangen Warten auf die nächste Zündung unter den Fahrzeugen. Ans Aufgeben dachte ich aber keineswegs. Nicht um alles in der Welt wollte ich nochmals die riskante Straße überqueren. Ich hoffte auf die Stille der Nacht, um meinen Weg zum ersehnten Futtertrog fortsetzen zu können.
Es wurde dunkel und immer mehr grölende Menschen verließen hastig kurbelnd in ihren fahrbaren Untersätzen das Gelände. Der Parkplatz leerte sich. Es wurde angenehm ruhig. Ich entspannte mich und beschloss nun mit klarer Sicht – ohne zappelnde Füße oder quietschende Reifen vor meiner Nase – die örtlichen Gegebenheiten neu zu beurteilen. Vorsichtig guckte ich unter einem Kombi hervor. Ein kleines, damit meine ich ein richtig kleines Auto – mittlerweile kannte ich definitiv die Größenunterschiede – fuhr auf den Parkplatz. Da sonst alle hinaus- und nicht hereinfuhren, empfand ich den roten Stadtflitzer als besonders verdächtig.
Interessiert starrte ich in dessen Richtung.
Ich war hoch konzentriert. In geheimer Mission beobachtete ich, wie eine schlanke, schwarzhaarige Frau mit langen Haaren und ein großer, sportlicher, lässig in Jeans und dunkler Lederjacke gekleideter Mann aus dem roten Auto ausstiegen. Nicht zu jung und nicht zu alt. Ich schätzte beide gleich mal professionell auf Anfang dreißig. Sofort galt meine ganze Aufmerksamkeit – denn wie sollte es als Frau auch anderes sein – dem männlichen Ankömmling.
Das Pärchen wurde von einem Wollmützenträger, den sie Max nannten, empfangen. Dieser gesellte sich zu den zweien und schon platzierte sich die illustre Runde direkt vor mein Schlachtschiff. Sie besprachen definitiv nichts, was mich wirklich interessieren würde, doch ich konnte meine Ohren nicht von der wohltuenden, freundlich klingenden Stimme des Jeansträgers abwenden. So traf ich eine Entscheidung: Jetzt oder nie! Ich beschloss loszuschreien.
Aufgrund der kalten Jahreszeit steckte mir nicht nur ein Frosch im Hals, sondern ich bin nicht gerade das, was Menschen eine Sprechkatze nennen.
Dennoch wollte ich nichts unversucht lassen und so miaute ich einfach aufs Geradewohl los.
Doch es kam nichts. Weder ein gequetschter noch ein gepresster Ton. Nichts.
In voller Panik, dass mein auserkorener Retter seinen Stellplatz verlassen könnte, änderte ich schnell meine bisherige Sitz- zu einer Stehposition. Ich spannte meinen ganzen Körper an und würgte mit letzter Kraft ein Miau aus meinen eingerosteten Stimmbändern. Diesen kraftvollen Akt wiederholte ich schließlich solange, bis ich endlich erhört wurde. Plötzlich beendete mein Auserwählter mit aufgeregt klingender Stimme die Unterhaltung.
»Ruhe! Hört mal, da weint doch eine Katze!«
Suchend drehte er sich stürmisch nach rechts, dann ungeduldig nach links, anschließend auch noch nach vorne. Natürlich waren alle diese Richtungen falsch, denn ich saß ja hinter ihm. Wahrscheinlich hatte er etwas an den Ohren, urteilte ich vorschnell. Denn zu guter Letzt bückte er sich und unsere Blicke fanden sich unter der verzinkten Auspuffanlage.
Es war das erste Mal, dass ich David in die Augen sah.
In seinen braunen Augen sah ich Mitgefühl, Liebe, aber auch diese unendliche Freude, mich gefunden zu haben. Ich weinte und jammerte einfach drauflos. »Lena, wir haben doch zwei Schinkensemmeln im Auto. Bring sie mir!« Schnell eilte die Langbeinige mit den guten Stücken heran. Dann verließ sie mit dem roten Flitzer den Parkplatz.
Etappenweise und in wirklich kleine Ministücke zerrissen warf er mir den Schinken unter das Auto. Gierig aß ich alles, was ich bekam. Ich spürte, wie langsam die Energie in meinen müden Körper zurückkehrte. Da es mir aber eindeutig zu schleppend ging und mir auch der nasse Beton die Aufnahme der Nahrung erschwerte, beschloss ich, mein Versteck vorsichtig zu verlassen. Immer in Augenkontakt mit David, tapste ich in geduckter Haltung, ein Pfötchen vor das andere setzend, auf seine ausgestreckte, mit Schinken gefüllte Hand zu.
Das Objekt meiner Begierde war endlich erreicht; ich umschmeichelte zuerst artig sein Hosenbein und beschnüffelte anschließend gut erzogen seine Finger. Doch dann verlor ich die Contenance und vergrub mein Maul in seiner Hand. Hemmungslos fraß ich alles, was darin lag.
Da standen wir nun. David, Max und ich. Unsicher und fragend schauten wir uns an. Doch längst schon hatte ich Davids Herz erobert und so folgte ich meinem Helfer kommentarlos, als er sich in Bewegung setzte.
Es war eine filmreife Szene. Drei einsame Seelen überquerten nebeneinander, still vor sich hin trottend, im grell leuchtenden Scheinwerferlicht einen menschenleeren, ewig langen Parkplatz.
Um uns herum war nur Dunkelheit und Stille.
Max öffnete die breite, gläserne Eingangstür des Autohauses. Ein Schwall von Wärme und ein Gefühl von Geborgenheit wehten mir entgegen. Doch nichts an diesem Gebäude interessiert mich wirklich. Kein Kontrollgang. Kein Patrouillieren. Keinesfalls wollte ich David, meinen Superstar, aus den Augen verlieren. Dicht gedrängt heftete ich mich an seine Fersen und schlenderte mit ihm quer durchs Gebäude ins Bad. Dann ging es hinauf in den ersten Stock zum Getränkeautomaten und wieder hinunter, bis wir uns schließlich im Büro von Max einfanden.
Ohne dass ich meinen Wunsch hätte kundtun müssen, klopfte David enthusiastisch auf seine Schenkel und ich sprang hinauf.
So als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, als wäre alles gesagt worden, was zu sagen ist. Glücklich eingerollt auf seinem Schoß verspürte ich endlich wieder die schon lange vermisste Nestwärme.
Es war ein Tag vor Silvester. Es würde ein großartiges neues Jahr werden! Glückselig träumte ich in aller Ruhe vor mich hin.
Plötzlich wurde ich aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen.
Die Eingangstür knallte schwungvoll ins Schloss, gefolgt von lauten Schritten, die sich uns näherten. Das Mädchen mit der Schinkensemmel. Da war es wieder. Unverschämt, dachte ich mir, unsere angenehme ruhige Dreierrunde so lautstark zu stören. Ich strafte sie zur Begrüßung mit einem frostigen Blick. Doch sie stand mir in nichts nach.
In meine Richtung blickend schnauzte sie, aber mit einem doch sanftem Unterton:
»Habe ich mir gleich gedacht, dass die Katze noch da ist. Ich bin deshalb zur 24-Stunden-Tankstelle gefahren, um Katzenfutter zu kaufen. David, du kannst ihr jetzt gleich etwas zu essen geben.«
Das war meine erste Begegnung mit Lena.
David und ich setzten uns langsam in Bewegung. Wir steuerten gemütlich zwischen schwarzen Audis und silbernen Golfs hindurch, vorbei an riesigen Blumentrögen und gläsernen Büros, bis wir die kleine schwedische Küche am anderen Ende des Gebäudes erreicht hatten. Meinen Bärenhunger stillend – auch ein bisschen niveaulos schmatzend – ließ er mich dort zurück. Als ich fertig war, unternahm ich einen kleinen Verdauungsspaziergang durchs Erdgeschoß. Danach kehrte ich mit vollem Bauch und hundemüde wieder auf seinen Schoß zurück. Aufmerksam spitzte ich meine Ohren. Es wurde aufgeregt diskutiert, was mit mir passieren sollte. Von der Frau kamen mehrere Vorschläge:
»Bringen wir sie doch zu einem Bauernhof!«
Nein! Abgelehnt!
Von Kühen hatte ich die Nase gestrichen voll.
»Max, du hast doch Kinder, nimm du die Katze mit. Deine Knirpse freuen sich sicher.«
Bedaure! Abgelehnt!
Ich war mit meinen knapp sechs Monaten selbst noch ein kleines, schützenswertes Mädchen.
»Am besten ist es, wir lassen sie hier im Autohaus. Morgen früh findet sie sicher die nette Angestellte und nimmt sie zu sich mit nach Hause.«
Das ging gar nicht. Knallhart abgelehnt! Ich würde mich doch nicht zwischen einer wild gewordenen Meute herumreichen lassen und darauf warten, dass irgendjemand Erbarmen mit mir hätte und mich mitnehmen würde. Abgelehnt!
Ich kuschelte mich immer enger an David. Ich war grenzenlos darüber enttäuscht, dass keiner etwas mit mir anzufangen wusste. Während Davids und Lenas Wortgefecht blinzelte ich zwar immer wieder abwechselnd zum einem und dann wieder zum anderen hoch, doch es schien zwecklos. Ich presste meine Augenlider ganz fest zusammen. Mein Unsichtbarmachen funktionierte nicht ewig. Irgendwann musste ich den geschützten Bereich wieder verlassen.
Keiner sagte ein Wort. Max drehte das Licht ab, fuhr davon und ich stiefelte meinem Beschützer hinterher in Richtung Auto. Lena nahm eilig auf dem Fahrersitz Platz. David setzte sich daneben und beugte sich zu mir hinunter auf den Boden. Mit zittriger Stimme flüsterte er mir zu: »Dies ist deine Chance! Entweder du hast Vertrauen zu mir und springst jetzt ins Auto oder du bleibst hier allein zurück.«
Schnell überlegte ich, wo ich das Wort »Vertrauen« schon mal gehört hatte. Na klar, schoss es mir ein. Mamas zweite Grundregel.
Ja, ich vertraue dir!
Ich hechtete ins Auto, der Schlüssel wurde gedreht und schon fuhren wir los.
Ein neuer aufregender Lebensabschnitt begann.
Die von heißen musikalischen Rhythmen begleitete Fahrt endete vor einem dreistöckigen Wohnblock. David griff zum Türgriff, schmunzelte mich an und machte eine kurze, aber aussagekräftige Ansage: »So, du kleine Katze, es ist ganz einfach. Du hüpfst jetzt hinaus und wartest auf mich direkt neben der Autotür. Dann gehen wir alle gemeinsam in Lenas Wohnung in der dritten Etage.«
Schnell blickte ich seitlich zu Lena hoch, die nur ungläubig mit den Achseln zuckte, dann hastig aus dem Wagen flüchtete und noch schneller zum ungefähr dreißig Meter entfernten Hauseingang sprintete.
Ich ließ mich von ihrem Verhalten nicht aus der Ruhe bringen, sondern folgte wohlerzogen den männlichen Anweisungen. Leichtfüßig hüpfte ich mit einem Satz ins Freie und wartete an der vereinbarten Stelle.
Ich musste lange warten. Es dauerte, bis David endlich etwas umständlich aus dem Zweisitzer herauskroch und wir über den Parkplatz zu Lena schlendern konnten.
Der große Mann und sein kleines Auto – ich amüsierte mich über sein ungewöhnliches Ausstiegsszenario. Ich beobachtete Lena, die ungeduldig an der Eingangstür mit ihren Beinen hin und her zappelte und unseren Marsch äußerst kritisch beäugte.
In trauter Dreisamkeit flanierten wir über den menschenleeren, langen Hauskorridor. Vorbei an den Wohnungsschildern der Müllers und Schmidts und zu meinem Erstaunen auch vorüber am Lift. Wir nahmen die Treppe.
Natürlich wunderte ich mich über diese nächtliche körperliche Ertüchtigung, doch es schien, als wäre es immer so.
Ich hopste, so als würde es mir gar nichts ausmachen, beschwingt hinter den beiden her. Natürlich wunderte sich Lena, die ständig zu mir nach hinten blickte, dass ich noch immer da war. Und David wunderte sich, dass Lena sich wunderte, dass ich noch immer da war. Aufgrund dieser allgemeinen Verwunderung verging das Hochsteigen wie im Fluge und wir kamen alle mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck bei der Wohnungstüre an.
Lena war gestresst.
David siegesbewusst.
Und ich, ich war einfach nur glücklich.
Obwohl mir die Augen von dem actionreichen Tag bereits zufielen, verzichtete ich nicht auf eine ausgedehnte Inspektion der Wohnung. Zu meinem Entzücken erspähte ich gleich ein paar gemütliche Plätzchen für mich. Auch die Terrasse blieb mir nicht verborgen. Klar, dass ich da sofort rauswollte, und noch klarer war, dass mir David die Tür auch prompt öffnete. Begeistert watete ich durch die dort befindlichen Wasserpfützen. Als ich mir jedoch ein Hatschi nicht mehr verkneifen konnte, war meine Freiluftexpedition wieder zu Ende.
David hob mich schnell hob und setzte mich fürsorglich auf dem kuscheligen Wohnzimmerteppich ab. Mit Sicherheit waren meine Pelzstiefel nicht klitschnass, sondern nur tröpfchenweise feucht. David blieb trotzdem ein strafender, echt krasser Blick von Lena nicht erspart. Aber ich, ich fand alles hier großartig.
Nur ein klitzekleines Problem tat sich während meines Rundgangs dennoch auf. Nirgendwo konnte ich ein Katzenklo ausfindig machen. Diesen Missstand wollte ich noch mal durchgehen lassen.
Ich entschied mich, bis zum nächsten Morgen durchzuhalten.
Plötzlich verließ David die Wohnung und ließ Lena und mich – ziemlich doof aus der Wäsche blickend – im Vorraum stehend zurück. Mich mit entsetzt weit aufgerissenen Augen und Lena mit einem geöffneten Mund. Sie wollte gerade etwas sagen.
Da stand ich nun mit ihr. Und wie es Frauen eben machen, begutachteten wir uns aus sicherer Entfernung. Mein Blick schweifte von ihren australischen Lammfell-Boots über die etwas abgewetzt wirkende Stretch-Jeans hinauf zu den glatten, schwarzen Haaren, die über ihre hellgraue Kapuzenjacke hingen, und blieb schlussendlich bei ihren Sommersprossen hängen. Der bräunliche Pigmentregen in ihrem Gesicht sah eigentlich nett aus. Doch ich blieb lieber skeptisch, denn die aufeinander gepressten Lippen sahen wiederum gar nicht nett aus.
Wahrscheinlich war sie aber nur ein Katzenneuling und wusste einfach nicht, was sie mit mir jetzt anfangen sollte! Rasch beschwichtigte ich meinen ersten Eindruck. Dabei wären meine Wünsche so leicht zu erraten gewesen.
Ich bräuchte nur eine Kleinigkeit. Besser gesagt etwas Großes aus ihrer prall gefüllten Tankstellentüte. Danach würde ich mich auch schon zu einem gemütlichen Nickerchen aufs Sofa zurückziehen.
Mit gesenktem Blick und unsicher wirkend schlich Lena in die Wohn-Essküche und zauberte nach langem Suchen, endlich das erste Mal lächelnd, drei gleiche weiße, tiefe Suppenschüsseln hervor. In die erste kippte sie schließlich den kompletten Doseninhalt einer geleeartigen Huhn-Gemüse-Masse und hielt mir anschließend das befüllte Porzellan zur Riechprobe unter die Nase.
Yippie, Yippie, Yeah!
Ich jubelte enthusiastisch beim Geruch des Menüs und leckte noch schnell mit der Zunge über meine Lippen, bevor ich auch schon mein kleines Gesicht in der Schüssel vergrub. Ich genoss das Fünf-Sterne-Mahl in vollem Umfang. Trotz Gier habe ich nicht vergessen, ihr zu danken. Ich blickte während meiner Mahlzeit immer wieder zufrieden hoch, um ihr zu zeigen, dass ich ihr die gelungene Auswahl hoch anrechnete. Obwohl ich ehrlicherweise zugeben musste, dass ich in meiner körperlichen Situation sogar einen alten Stiefel gegessen hätte. Mittlerweile war auch schon die zweite Schüssel mit Trockenfutter bis an den Rand gefüllt. In die letzte war Katzenmilch gegossen worden.
Was für ein Schlachtschmaus!
Ich kämpfte mich von Napf zu Napf.
Nur die Dauerbeobachtung nervte.
Glücklich satt, aber dennoch auf der Hut, drehte ich mich von den fast leeren Schüsseln weg. Was würde jetzt passieren? Wie man an meinem fetten Bauch sehen konnte, wollte ich mich gerne auf eines der kuscheligen Polstermöbel zurückziehen.
Doch da sah ich es schon!
Lena saß beim Esstisch und hatte ein dünnes, ungemütlich aussehendes, kleines Stofftuch auf den noch unbequemer aussehenden, gläsernen Tisch gelegt und starrte mich auffordernd an. Was soll´s!
Ich schnaufte dreimal tief durch und sprang auf ein zwar nett gemeintes, aber unglaublich kratziges, bereitgelegtes Nichts. Mein Not-amused-Gesichtsausdruck blieb ihr nicht verborgen. Prompt huschte sie in Richtung Sofa los, schnappte sich eine dort liegende dicke Wolldecke, hob mich kurzerhand vom Kratzteil runter und legte die neu gebrachte, haarige Textilie darauf. Ich kuschelte mich sofort – diesmal very amused – darauf ein.
Entspannt döste ich vor mich hin und erlebte nebenbei Lenas Wechselbad der Gefühle. Es war zweifellos jede Stimmungsschwankung dabei. Von himmelhoch jauchzend über außer Rand und Band verrückt bis hin zu kraftlos müde.
Gewiss hatte ich Verständnis für ihren etwas komischen Ausnahmezustand. Auch ich hätte die Hose voll, wenn sich auf einmal – der Größenkonstellation von Mensch zu Katze entsprechend – eine kleine Ameise in meinem Reich bequem machen würde. Ich verharrte auf meinem Plätzchen, folgte ihrem etwas einseitigen Gedankenaustausch und hörte auch aufmerksam zwischen den Zeilen.
In diesem Moment wusste ich, dass dies der Beginn von etwas Gutem war.
Nur Lena wusste es noch nicht.
Plötzlich drückte mir Lena vorsichtig einen Gutenachtkuss auf die Stirn.
»Bleib schön brav liegen. Wir sehen uns morgen früh wieder.«
Während sie sich von mir abwendete, konnte sie sich eine logisch klingende Weisheit nicht verkneifen:
»Weißt du, ein neuer Tag bedeutet vielleicht auch ein neues Glück!«
In Lenas Stimme schwang ein schelmischer Unterton mit.
Sie ließ die Schlafzimmertür einen Spalt weit offen. Ich war überrascht.
Zum ersten Mal verspürte ich einen Funken Hoffnung. Auf leisen Sohlen hüpfte ich vom Glastisch, drückte die Tür mit meiner Pfote auf und da stand ich nun, wartend in voller Pracht, mitten in ihrem Zimmer. Es folgte ein kurzer Augenkontakt, dann kam es zur heißersehnten Handbewegung. Sie klopfte auf die Matratze.
»Okay, komm her, ist aber nur für eine Nacht.«
Ganz vorsichtig legte ich mich zu ihren Füßen hin und schlief mit einem verschmitzten Lächeln ein. Als David spät nachts nach Hause kam, wechselte ich aber doch lieber auf seine Bettseite.
Am nächsten Morgen war die Katastrophe im Anrollen. Es war höchste Zeit, ich musste mal. Flehend umkreiste ich David, dann bittend Lena, dann wieder zurück zu David. Fast schon winselnd wie ein Hund, zappelte ich um ihre Beine herum, bis sie endlich verstanden. Schnell warfen sie sich ihre Jacken über und wir rannten alle aus der Wohnung. Mit mir an der Spitze sprinteten wir über den langen Gang und stürzten die Treppen hinunter. So kurz mir der Weg am Vortag vorkam, umso länger kam er mir heute vor. Kurz vor dem Ziel verließ mich die Kraft.
Beschämt schaute ich zu David hoch. Ich rechnete mit Floskeln wie, dass Katzen doch die saubersten Wesen auf der Welt wären oder dass so etwas überhaupt nicht gehen würde.
Doch es kam nichts. Erstaunlicherweise auch nicht aus Lenas Richtung. Wortlos und vollkommen entspannt ging David die Treppen wieder nach oben.
Kurze Zeit später kehrte er mit einer Küchenrolle zurück und beseitigte mein kleines Missgeschick. Dann schritten wir einfach so, als wäre nichts passiert, aus dem Haus. Im Auto sprang ich auf meinen gewohnten Schoßplatz. Wir fuhren los.
Ich war angekommen.