Читать книгу Hide and Seek - TM Smith - Страница 6
Prolog
ОглавлениеDusty saß auf dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite von Jons Krankenbett und las die New York Times. Sie war schon einige Tage alt und hatte im Papierkorb unter dem Waschbecken gelegen, aber die Schlagzeile auf der Titelseite hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Dusty hatte gewartet, bis Kory und Jons Bruder Tristan zum Essen gegangen waren und ihn mit dem schlafenden Jon zurückgelassen hatten, bevor er die Zeitung aus dem Papierkorb gezogen und begonnen hatte, den Artikel zu lesen. Es war ein Bericht über einen Angriff auf The Monster Bar, bei dem drei Menschen gestorben und zahllose weitere verletzt worden waren. Einer von ihnen war Jon Brennan, Korys fester Freund und Detective beim NYPD.
Die Ereignisse dieser Nacht hatten beinahe jeden in Dustys Umfeld hart getroffen. Wenige Stunden nach der Schießerei hatte Kory zusammen mit Jons Familie im Wartebereich des Krankenhauses gesessen und nervös auf Nachricht über Jons gesundheitlichen Zustand gewartet. Er hatte die Operation überstanden und es ging ihm Tag für Tag besser. Dasselbe konnte man leider nicht von Gio behaupten, der als Barkeeper in The Monster Bar gearbeitet hatte und als Gabes Partner zum harten Kern der Familie von All Cocks gehört hatte. Man hatte ihn am darauffolgenden Tag beerdigt und Gabe war am Boden zerstört gewesen.
Ein Foto von Gio hatte Dustys Aufmerksamkeit auf die Zeitung gelenkt. Darüber prangte die Schlagzeile Drei Tote und Dutzende Verletzte bei einer Schießerei in einem bekannten Szeneviertel in Village, daneben war das Foto eines Polizisten mit blondem Haar und kalten blauen Augen, der ebenfalls sein Leben gelassen hatte, und das von Dale Thompson, dem Schützen. Der Artikel erzählte die Geschichte eines ohnehin schon psychisch labilen Mannes, der seinen kleinen Bruder fast zu Tode geprügelt hatte, als er erfahren hatte, dass er schwul war. Danach war er in die Bar zurückgekehrt, in der er seinen Bruder und dessen Freund auf frischer Tat ertappt hatte, und hatte das Feuer eröffnet. Der Artikel endete damit, dass die Ärzte zum aktuellen Zeitpunkt nicht sagen konnten, ob der Bruder, David Thompson, die schweren Verletzungen überleben würde.
Dusty zerknüllte die Zeitung. Es machte ihn rasend, dass es da draußen Menschen gab, die so grausam mit der eigenen Familie umsprangen. Verdammt, wahrscheinlich war der junge Mann inzwischen seinen lebensbedrohlichen Verletzungen erlegen und dieser Psycho Dale Thompson hatte nun vier statt drei Leben auf dem Gewissen. Was musste ihre Mutter durchmachen? Der eine Sohn tot, der andere von ihm krankenhausreif geschlagen. Dusty übersah beinahe das Kleingedruckte am Ende des Artikels: Lesen Sie weiter auf Seite 23. Seine zitternden Hände strichen die Zeitung glatt und er blätterte langsam durch die Seiten.
Kunststudent David Thompson kämpft im New York Presbyterian Hospital um sein Leben. Der 21-jährige wurde vergangene Woche bewusstlos zu Hause aufgefunden, wo er mit seiner Mutter, Diane Thompson, und seinem älteren Bruder, Dale Thompson, lebte. Die Polizei geht davon aus, dass David von seinem älteren Bruder zusammengeschlagen wurde …
Dusty knurrte und überflog die nächsten Absätze, die noch einmal zusammenfassten, was in der Bar vorgefallen war, und genauer auf die möglicherweise labile Psyche des älteren Thompson-Bruders einging. Die Mutter, Diane, war eine streng gläubige Christin und nicht nur entsetzt über die Taten ihres älteren Sohnes, sondern auch über die sexuellen Vorlieben des jüngeren. »Fick dick, Schlampe«, murmelte Dusty, während sein Blick über die letzten Zeilen auf der Seite wanderte.
Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Artikels liegt David Thompson noch immer mit einer langen Liste an Verletzungen im Krankenhaus. Darunter eine gebrochene Nase, ein gebrochenes Bein sowie ein gebrochenes Schlüsselbein. Er leidet unter einer so starken Hirnschwellung, sodass er in ein künstliches Koma versetzt werden musste, bis die Schwellung abklingt oder er seinen Verletzungen erliegt.
Dusty atmete tief ein, um sich zu beruhigen, knüllte die Zeitung zu einer kleinen Kugel zusammen und warf sie zurück in den Papierkorb. Er widerstand dem Drang, den Raum zu verlassen und die Stationsschwester zu fragen, in welchem Zimmer David Thompson lag. Er geriet kurz in Panik, als er darüber nachdachte, wie Kory reagieren würde. Nicht nur, wenn er erfuhr, dass der Bruder des Mannes, der seinen Freund beinahe umgebracht hatte, im selben Krankenhaus lag, sondern auch, dass Dusty diesen … Drang verspürte, herauszufinden, wie es dem jungen Mann ging. Andererseits hatte sich David Thompson nicht ausgesucht, als Dale Thompsons Bruder geboren zu werden. Man konnte ihn nicht dafür verantwortlich machen, was Jon, Gio und den anderen in der Bar zugestoßen war. Und Dusty sollte sich nicht dafür schämen, sich für sein Schicksal zu interessieren, auch wenn er ein Wildfremder war.
Das leise Klicken der Türklinke verriet Dusty, dass Kory und Tristan zurück waren, bevor ihre Schritte einige Sekunden später durch den stillen Raum hallten. Kory setzte sich sofort auf den Stuhl an Jons Bett und Tristan ließ sich auf den Liegestuhl in der Ecke fallen.
»Ruft mich an, wenn ihr irgendwas braucht«, flüsterte Dusty, um Jon nicht zu wecken. Dann verabschiedete er sich, verließ das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Er war erschöpft, und da er morgen einen Dreh hatte, entschied er, keine weitere Zeit zu verschwenden. Er wandte sich nach links statt nach rechts und sein Fehler wurde ihm erst bewusst, als er bemerkte, dass er nicht bei den Aufzügen ankam. Er gab ein genervtes Brummen von sich und folgte dem Gang, bis er am Stationszimmer angelangte, allerdings von der anderen Seite. Dusty seufzte erleichtert. Wenigstens wusste er, wie er von hier aus zu den Aufzügen kam.
Er blieb wie angewurzelt stehen, als ihm ein Name auf einer der Türen, die zu den Krankenzimmern führten, ins Auge fiel … David Thompson. Nun ja, das beantwortete zumindest die Frage, ob der Bruder noch am Leben war. Dusty sah sich nach beiden Seiten um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, also drückte er die Tür auf und trat in das Zimmer.
Die Geräte, die sich neben dem Bett aufreihten, erfüllten den Raum mit ihren Geräuschen, und die einzige Lichtquelle war das Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren. Ein schmächtiger Körper lag im Bett, über Kabel und Schläuche mit den Geräten daneben verbunden. Ein Bein war vom Knie bis zu den Zehen eingegipst und lag in einer Schlinge, die an einer Stange am Fußende des Bettes befestigt war. Ein Auge war mit einem Stück Gaze bedeckt, das mit einem Verband um seinen Kopf befestigt war. Es erinnerte Dusty unwillkürlich an einen Piraten. Der schmächtige Körper des jungen Mannes war mit Bandagen, Schnittwunden und Blutergüssen übersät. Der Anblick löste Übelkeit in Dusty aus, auch wenn er nicht genau sagen konnte, wieso. Er hätte gar nicht erst herkommen sollen. Dieser Junge war der Bruder des Mannes, der versucht hatte, den Partner seines besten Freundes zu töten.
Doch statt sich umzudrehen und wieder zu gehen, verspürte er den unwiderstehlichen Drang, den Stuhl in der Ecke ans Bett zu ziehen und über den jungen Mann zu wachen, der zerbrochen, verletzt und geschunden vor ihm lag. Und wehe dem, der es wagte, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Und das tat er dann auch.
Dusty wusste nicht, wie viel Zeit verging, während er an Davids Seite saß und beobachtete, wie sein Brustkorb sich bei jedem seiner Atemzüge kaum merklich hob und senkte. Plötzlich zog ein erschrockenes Keuchen hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf sich und er wandte sich um, nur um dem Blick einer kleinen Krankenschwester zu begegnen, die ihn mit großen Augen anstarrte. Als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, ging sie zur anderen Seite des Bettes und prüfte alle Schläuche, Monitore und Geräte, ohne Dusty dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Dann schließlich sprach sie ihn an. »Sind Sie ein Freund der Familie?«
Dusty schüttelte den Kopf. »Nein.« Als er sah, wie ein Anflug von Misstrauen über ihr hübsches Gesicht huschte, fügte er rasch hinzu: »Ich bin ein Freund von David.«
Sie entspannte sich und schenkte Dusty ein Lächeln. »Na Gott sei Dank. Ich dachte schon, der arme Junge habe niemanden auf der Welt, der sich für ihn interessiert.«
Ich interessiere mich für ihn. Auch wenn ich nicht weiß, wieso, dachte Dusty, behielt diesen Teil der Geschichte aber besser für sich.
Als er wieder allein im Raum war, stellte er fest, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, zu bleiben. Er würde David den Rückhalt geben, den er ganz offensichtlich nicht hatte, aber dringender als alles andere brauchte.