Читать книгу Despina Jones und die Fälle der okkulten Bibliothek - Tobias Bachmann - Страница 6
ОглавлениеProlog
Auf den ersten Blick wirkte All Hallows by the Tower viel unscheinbarer, als die Kirche in Wirklichkeit war. Die mächtige Schneedecke, die sich wie ein Leichentuch über London ausgebreitet hatte, konnte diesen Eindruck nicht schmälern.
Rauchend stand der Mann im Schneetreiben und starrte auf den Kirchbau, der auf das siebte Jahrhundert zurückging. Inmitten der City gelegen wirkte die anglikanische Kirche wie ein Fremdkörper zwischen dem Tower of London und Tower Place, einem wahrhaft pompösen Bürokomplex mit gläsernen Fassaden. Doch hier arbeitete gerade niemand. Es war Sonntag.
»Am siebten Tage aber sollst du ruhen«, murmelte der Mann, der seinen Mantelkragen aufgestellt hatte und nun zielsicheren Schrittes auf die Kirche zuging. Die Nacht brach gerade an, und die bereits untergehende Sonne spendete nur noch wenig Licht. Dennoch haftete sich der Blick des Mannes kurzzeitig an der Infotafel fest, die man nahe der Außenfassade angebracht hatte, um die spärlichen Informationen über Gottesdienstzeiten und andere Programme der Gemeinde zu lesen. Dann trat er auf das Eingangsportal zu, öffnete es und flüchtete hinein, Schnee und Kälte hinter sich lassend.
In der Kirche brannten nur wenige Kerzen, sodass das vorhandene Licht nicht ausreichte, um die Kunstwerke zu fotografieren: den John Croke Altar etwa, der gleichsam ein Grab war, der prächtig geschnitzte Deckel des Taufbrunnens oder das sogenannte Tate Panel, ein geflügeltes Tetraptychon. All das sah man im Schein der Kerzen nur schemenhaft. Skulpturen warfen dunkle Schatten über die Bodenfliesen und schienen ihn überwältigen zu wollen.
Eine Frau, die gebetet hatte, ging an ihm vorbei auf die große Pforte zu, die in den Schnee, in die Kälte hinausführte, und nickte ihm verabschiedend zu. Nun war er völlig allein, und die gespenstische Art der Kirche drückte den Gläubigen nieder, auf den Boden. Er bekreuzigte sich und begann zu beten.
»Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, den Retter.« Es war das Magnificat, das er zitierte. Hier wurde er unterbrochen, denn er hörte plötzlich Schritte hinter sich. Die Frau von eben? Der Priester? Neugierig drehte er sich um, doch da war niemand.
»Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen«, fuhr er fort und zitierte nun das Requiem, ein Teilstück der katholischen Totenmesse. Und weil er sich sicher war, dass er sich allein in der Kirche befand, erschrak er bis aufs Mark, als mit einem Mal die Orgel zu spielen anfing. Die monotonen Töne und Disharmonien, die diese von sich gab, wirkten an diesem Ort bizarr. Ob ein Orgelschüler zu so fortgeschrittener Stunde noch Unterricht bekam?
Der Mann stand auf. Trotz all der Dissonanzen schreckte er nicht davor zurück, dem so plötzlich einsetzenden Spiel auf den Grund zu gehen. Die Orgel befand sich im hinteren Kirchenschiff, und man musste eine Treppe zu ihr hinaufgehen. Doch als er endlich bei ihr war, war sein Entsetzen groß, da niemand an ihr saß und das Instrument von selbst spielte. Er dachte an einen Mechanismus, wie bei einem Harmonium, und um sich selbst diese Erklärung zu beweisen, suchte er nach einem Knopf oder Schalthebel, mit dem man die Geräuschkulisse stoppen konnte. Was ihn zusätzlich irritierte, war, dass die von Geisterhand gespielten Melodien keine ihm vertrauten Kirchenlieder waren.
Plötzlich beendete er seine hektische Suche. Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Tür gelenkt, die sich in einer kleinen Nische neben der Orgel befand. Er wusste nicht, warum, aber die Tür zog ihn wie magisch an. Kurz bevor er sie öffnete, hörte er ein obszönes Lachen hinter sich.
»Will mir hier jemand einen Streich spielen?«, fragte er laut gegen das wütende Gekeife der Orgel und wandte sich um, sah aber wieder niemanden. Er blickte zum Altar und erkannte im Schatten eines Gegenlichtes das riesige Kreuz.
Befand sich daran nicht eine aus Holz gefertigte Jesus-Statuette? In seiner Vorstellung hatte das geschnitzte Gesicht des hölzernen Jesu etwas Grinsendes, das ihm nicht gefiel. War er es, der gelacht hatte? Dabei war er sich nicht einmal sicher, überhaupt eine Jesusfigur gesehen zu haben. Oder war es eines der geschnitzten Motive auf dem Deckel des Taufbeckens? Wie auch immer. Er könnte das später überprüfen. Stattdessen, und um dem Lärmen der wütenden Orgel zu entkommen, öffnete er die Tür. Es war der Zugang zum Glockenturm, den er soeben betreten hatte. Behäbig stieg er Stufe um Stufe eine steile Wendeltreppe empor. Als er hinter sich Schritte vernahm, drehte er sich nicht um, sondern lief immer weiter. Die letzten Male war dort auch nichts, dachte er.
Das Lärmen der Orgel ließ er bald unter sich zurück. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Schrecken, die dort oben möglicherweise auf ihn lauern mochten. Oder eine unschlagbare Aussicht über ein winterliches London.
Dennoch wurden die Schritte hinter ihm zunehmend schneller, wie er festzustellen meinte, sodass auch er sein Tempo beschleunigte. Unmittelbar stolperte er, lief aber gleichzeitig halb kriechend weiter und rappelte sich in derselben Bewegung wieder auf.
Welche Scheußlichkeiten richten den Blick auf mich?, dachte er. Sein Herz raste, und er hörte seinen eigenen keuchenden Atem.
Oben angekommen fand er sich neben einer großen Glocke wieder. Ein eindrucksvolles Eisengebilde, in dessen Inneren eine lechzende Zunge aus Metall darauf wartete, dass sich der stählerne Mantel in Bewegung setzte. Mit harten Schlägen gegen die innere Wand würde die Stahlzunge dem Eisenkorpus schmerzerfüllte Klänge entlocken.
»Verliere ich den Verstand?«, dachte der Mann laut, als seine Vorstellung vom Glockeninneren mit einem Mal wahr wurde. Ächzend setzte sich die Glocke in Bewegung, und mit einem Mal wurden die ohrenbetäubenden Schwingungen durch seine gesamte Welt getragen. Auf die Lautstärke nicht vorbereitet, drangen die zwölf Glockenschläge in seine Ohren: hämmernd, stoßend, brutal schreiend, so lange, bis er nichts mehr hören konnte außer einem schrillen Tinnitus. Er war nahezu taub, noch ehe der zwölfte Glockenschlag erklungen war.
Der Mann, der vor wenigen Minuten erst die Kirche betreten hatte, um sich an ihr zu ergötzen, begann zu schreien, konnte jedoch seine eigenen sich krampfhaft überschlagenden Schreie nicht hören. Und schließlich, als hätte er noch nicht genug, sah er, wie das Götzenbild Jesu, das vor Kurzem noch an dem Kreuz über dem Altar gehangen hatte, auf ihn zukam. Das Grinsen hatte sich zu einem Lachen gewandelt, und das Kreuz, an dem er vorhin noch fest angenagelt gewesen war, trug er nun über seine Schulter wie seinerzeit beim Marsch zur Kreuzigung.
Dumpf spürte der Mann seine Füße, als er die Stufen hinuntereilte. Fast schlitterte er, und er bemerkte den Spreißel, den er sich am Geländer durch den Handschuh hindurch tief in die Haut seiner rechten Hand rammte.
Völlig taub war er durch das Schlagen der Glocke jedoch nicht geworden. Er vernahm ein Poltern hinter sich, spürte es wohl eher, wandte sich um und erkannte das Kruzifix des hölzernen Jesu, das – sich überschlagend – die Stufen hinabdonnerte. Panisch schrie der Mann auf und hatte endlich die Tür erreicht, doch sie war verschlossen. Er lief weiter, tiefer hinab, in den unterirdischen Bereich der Kirche. In die Katakomben und geheimen Untiefen des Kirchenschiffs. Verfolgt von Jesus, wie er meinte.
Was für eine Hölle ist die Hölle?, dachte er sich, als er die Krypta erreichte, eine unterirdische Kapelle, die dem Heiligen Franz von Assisi geweiht war. Hinter einem Gitter erblickte er das benachbarte Oratorium der Heiligen Klara. Auch erkannte er die Lamp of Maintenance, ein Symbol der Frauenbewegung Toc H, wie er wusste. Er wusste so viel, aber nicht, warum sich die Lampe nun entzündete. Er begriff auch nicht, warum der hölzerne Jesus auf ihn zukam und sich grinsend seiner annahm. Er spürte Schmerzen und sah die gesunde Röte seines Blutes, das dort austrat, wo die Nägel ihn durchbohrten.
Kurz bevor er starb, machte sich Gleichgültigkeit in ihm breit, begriff er doch nicht einmal mehr, wer er war. Und alsbald grinste er selbst … dem Angesicht des Todes gütig entgegen.