Читать книгу Despina Jones und die Fälle der okkulten Bibliothek - Tobias Bachmann - Страница 9
Оглавление3. Kapitel
Es war erst später Nachmittag, aber die Bibliothek für okkulte Fälle war bereits geschlossen. Vor allem hatte das praktische Gründe: Barbarossa hatte zwar den Glaser bestellt, und der hatte, nachdem er Maß genommen hatte, das zerstörte Schaufenster notdürftig mit Holzplatten dicht gemacht, doch bis die Scheiben angefertigt und eingesetzt waren, würden ein paar Tage vergehen. Immerhin heulte der Wind nun nicht mehr durch die Regale und fegte darüber hinaus nicht fortwährend Schnee in den Laden.
Bis der Glaser so weit war, würde Barbarossa sein Geschäft geschlossen halten. Das bedeutete natürlich nicht, dass die geheime Abteilung im Keller der Bibliothek ruhte. Im Gegenteil: Despina, Tori, Jean und Doc hatten sich im Operationssaal zusammengefunden, futterten Kekse und trugen bei Tee, Kaffee und Energydrinks ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammen.
Tori hatte den Laptop vor sich stehen und fertigte eine elektronische Akte an, auf die alle Teammitglieder gleichermaßen Zugriff hatten.
Jean rührte mit einem Löffel quietschend Zucker in ihren Kaffee und resümierte: »Diese Putzfrau kommt mir seltsam vor.«
»Dir kommt immer alles seltsam vor.« Despina grinste sie schelmisch an, doch Jean verdrehte die Augen.
»Nun mal der Reihe nach.« Wie immer war es Doc, der versuchte, Ordnung und Struktur unter seinen Mädels walten zu lassen. Und wie immer gelang es ihm kaum.
»Habt ihr die Nägel nach Spuren untersucht?«, wollte Tori wissen. »Was waren das für Nägel, und wo kommen sie her? Wer hat sie wann wo gekauft und …«
»Die Nägel stammen vom Glockenturm der Kirche«, unterbrach Jean sie.
»Wie?«
»Der Tote hat mir erzählt, im Glockenturm gewesen zu sein, weswegen wir ihn uns näher angesehen haben«, erklärte Despina. »Tatsächlich konnten wir auf den Treppenstufen der höheren Etagen Spuren im Staub finden, die auf einen Kampf schließen lassen. Wir haben eine alte Werkzeugkiste gefunden, mit den gleichen Nägeln wie jenen, mit denen man das Opfer in der Krypta über den Altar genagelt hat. Sehr alte, rostige Nägel, wohlgemerkt!«
»In dem Werkzeugkoffer befanden sich alle möglichen Werkzeuge: Schraubenzieher, Zangen und so Zeug«, ergänzte Jean. »Das Einzige, was man nicht darin finden konnte, war ein Hammer.«
»Und in der Krypta lag auch keiner?«
»Nirgends. Der Täter muss den Hammer mitgenommen haben.«
»Fingerabdrücke?«
»Zu viele bis gar keine«, erklärte Jean und seufzte. »Ich meine, in der Krypta hat man gar nicht erst suchen müssen, weil tagtäglich hunderte Gläubige und Touristen den Ort besuchen, und im Glockenturm fanden wir tatsächlich gar keine. Weder auf dem Treppengeländer noch auf der Werkzeugkiste. Ich hab dir die Bilder geschickt, Tori.«
»Ja, einen Moment.« Sie klickte mit der Maus herum, und die Bilder wurden an die Wand projiziert, so dass sie jeder sehen konnte. Sie liefen als Diashow ab.
Doc seufzte schwer. »Das heißt, wir haben nichts?«
»Wir haben einen verschwörerischen Priester, der den ganzen Fall am liebsten vertuschen möchte, damit ja kein schlechtes Licht auf seine Gemeinde fällt«, führte Jean auf, »und eine recht labil erscheinende Putzfrau, die mit ihrem Job vermutlich die Drogen ihres Bruders finanziert – vielleicht auch ihre eigenen. Sie kam mir reichlich krank vor. Irgendwas hat sie.«
»Was ist mit dem Opfer selbst, Despina?«, wollte Doc wissen.
Despina nahm einen Schluck Kaffee. »Wir wissen nichts über seine Identität. Er selbst hält sich für keinen geringeren als Jesus Christus und verhält sich auch so. Er freut sich auf seine Wiederauferstehung in drei Tagen.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Leider nein, Doc. Der Kerl ist absolut irre. Ich hatte dergleichen noch nie. Ich habe schon überlegt, ob es eine Form von Schizophrenie ist, an der er bereits zu Lebzeiten gelitten und die sich nun bis in den Tod hinein gehalten hat. Das ist zwar ungewöhnlich und mit Sicherheit höchst selten, aber prinzipiell kann es schon sein, dass so was passiert.«
»Da fällt mir ein«, sagte Jean, »dass ich dem Gemeindepfarrer nicht glaube, wenn er behauptet, er kenne das Opfer nicht. Meiner Meinung nach wusste er nur zu gut, wer der Mann war.«
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Barbarossa.
»Meine Menschenkenntnis. Der Pfarrer lügt entweder, oder er verheimlicht uns etwas.«
»Dann müsst ihr noch mal mit ihm sprechen. Nehmt ihn ins Kreuzverhör. Und du musst dir diesen toten Jesus noch mal vorknöpfen, Despina.« Und an Tori gewandt: »Was ist mit dem Motorrad?«
Tori blickte auf und zeigte mit dem Daumen hinter sich, an die Wand, wo die Maschine stand. »Meinst du das da?«
»Ja. Hast du dich damit bereits befassen können?«
»Es ist eine Honda CB 750 Four K2, die 1976 das erste Mal zugelassen wurde. Sie verfügt über 67 PS und einen Hubraum von 731 Kubik. Den Zustand würde ich als garagengepflegt und poliert bezeichnen. Alle sichtbaren Teile sind Originalbauteile, mit Ausnahme deines Kästchens, das tatsächlich ein fernzusteuernder Bremsmechanismus ist, der losgelöst von den eigentlichen Bremsen funktioniert. Das heißt, der Fahrer kann das Ding nicht selbst ausgelöst haben, es sei denn, er hätte selbst auf den Knopf der Fernbedienung gedrückt.«
»Die Maschine wurde also manipuliert?«
»Ja, und jemand hat dafür Sorge getragen, dass der Fahrer in dein Schaufenster kracht, Doc. Denn wenn man es geschickt anstellt, kann man alleine mittels der Bremse des Vorderrads das Motorrad in die richtige Richtung steuern.«
»Ein Zufall ist ausgeschlossen?«
»Ausschließen würde ich ihn nicht völlig, aber das wäre schon ein sehr unwahrscheinlicher Zufall.«
»Danke.«
»Wen hast du in Verdacht?«, wollte Jean wissen.
»Den Priester.« Barbarossa erzählte von dem Anruf heute Vormittag und wie sich alles mit dem Unfall gefügt hatte.
»Und wie hieß das Buch noch gleich, das er haben möchte?«
»Die Cruciforma.«
»Worum geht es da?«
»Um das Kreuz als Symbol und die Kreuzigung im Detail.«
Despina zog die Stirn kraus. »Ist das auch wieder nur ein Zufall?«
»Wie meinst du das?«
»Die Parallelen zu unserem Fall sind doch recht augenscheinlich, wie ich finde.«
»Kreuzigungen sind eh sehr beliebt momentan«, sagte Tori.
»Häh?«
»Na, Leute. Schaut ihr eigentlich keine Nachrichten? Lest ihr keine Zeitung? Habt ihr keine Newsapp auf euren Handys?«
»Du warst schon immer besser informiert als wir alle«, sagte Doc und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Na gut, die Meldung ist in den Medien auch nicht so breitgetreten worden, wie es aussieht. Auch hat man von Seiten des Yards wohl teilweise eine Nachrichtensperre verhängt, aber irgendetwas sickert ja immer durch.«
»Nun erzähl doch schon.« Jean zeigte sich wie so häufig von ihrer ungeduldigen Seite.
»Aktuell zieht eine Welle von Selbstkreuzigungen durch die Stadt.«
»Selbstkreuzigungen?«, riefen alle fast im Chor.
Für einen Moment herrschte fassungslose Stille, die Tori durchbrach, indem sie sagte: »Na, nun guckt mich nicht so entgeistert an. Ich kann ja auch nichts dafür.«
»Wie geht das denn allein technisch?«, fragte Jean. »Ich meine, mal vom Schmerz abgesehen, irgendwann hat man doch keine Hand mehr frei, um Hammer und Nagel halten zu können.«
»Soweit ich weiß, sind die Nagelkreuze so präpariert, dass die Spitze des Nagels nach vorne zeigt – man haut also seine Hand mit Kraft dagegen und den Nagel somit durch.«
Doc verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Wer macht denn sowas? Und vor allem, warum? Was ist das Motiv?«
Tori zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand. Es ist ja jetzt auch keine laute Form des Suizids, sofern man nicht vor Schmerzen schreit. Die meisten wurden erst entdeckt, als sie schon tot waren.«
»Dann könnte ich sie ja nach ihrem Motiv befragen«, sagte Despina. »Befinden sich die Leichen noch in der Pathologie?«
»Davon gehe ich aus.«
Barbarossa beugte sich vor. »Kann es möglich sein, dass unser Jesus in All Hallows by the Tower auch ein Selbstkreuziger war?«
»Unmöglich«, sagte Jean. »Die Nägel entsprechen nicht der von Tori beschriebenen Art.«
»Aber ein seltsamer Zufall ist das schon«, meinte Tori wiederum. »Der Priester, der das Buch Cruciforma haben möchte, der gekreuzigte Jesus in der Kirche und die Selbstkreuzigungen der letzten Tage. Was stimmt denn mit der Welt nicht?«
»Was wissen wir denn über das Wesen der Kreuzigung an sich? Wie sind sie entstanden? Welche Mythologie steckt dahinter?«
»Das haben wir gleich«, sprach Tori und tippte auf dem Laptop herum, um entsprechende Suchanfragen zu starten.
Jean schlürfte von ihrem Kaffee und sagte: »Vielleicht solltest du mal mit dem echten Jesus quatschen, Pina.«
»Mach ich gern, wenn du mir seine sterblichen Überreste bringst.«
»Sehr witzig.«
»Find ich auch.« Despina schenkte sich Kaffee nach. »Aber du hast recht, es gibt einige Tote, die ich danach befragen werde.«
»Nicht nötig«, rief Tori. »Guckt mal, hier steht: ›In der symbolischen und esoterischen Sprache versteht man unter der Kreuzigung den Verlust aller äußeren Dinge des Lebens, die keinerlei Wert für die Persönlichkeit selbst haben. Im Christentum symbolisiert das Kreuz zugleich den tiefsten Schmerz und das höchste Heil und war als Erkennungszeichen bereits im dritten Jahrhundert gebräuchlich. Bis in die Gegenwart hinein spricht man dem Kreuz geheime Kräfte zu und nutzt es unter anderem als Schutzmittel gegen böse Geister. Dabei dient es auch heidnischen Völkern zur Darstellung von Naturkräften.‹ Das steht im Internet auf einer Seite über Geheimsymbole.«
»Na, so geheim ist das dann ja nicht«, murmelte Doc missmutig und legte etwas auf den Tisch. Es war ein Buch. Die Cruciforma.
»Du hast es? Ich dachte, du hast es nicht und kannst es daher nicht verkaufen?«
Barbarossa grinste. »So hat jeder seine Aufgabe. Ich werde mich mit dem Buch hier beschäftigen. Du, Tori, suchst uns alles über diese Selbstmordkreuzigungsfälle heraus. Alles, was du finden kannst. Jeanette wird sich noch einmal mit dem Pfarrer von All Hallows auseinandersetzen, und Despina tut das, was sie immer tut: sich mit den Toten unterhalten.«
»Na schön«, sagte Despina und erhob sich. »Ich würde sagen, Jean, dass wir beide morgen früh zum Yard fahren, um uns über diese Kreuzigungsopfer zu informieren. Vielleicht lässt man mich ja mit den Toten sprechen, wenn ich meine Hilfe zusage.«
»Mich wundert eh, dass man nicht schon längst an dich herangetreten ist.«
»Wer weiß, wer den Fall bearbeitet«, warf Tori ein. »Ich selbst werde mich auf jeden Fall gleich an die Arbeit machen und uns ein Exposé über die Kreuzigung und Kreuzigungskulte zusammenstellen, damit wir gleich morgen wieder alle auf dem gleichen Stand sein werden und ihr beide bei Scotland Yard gut vorbereitet seid.«
»Gut. Dann gehst du noch mal zu dem Priester, Jean?«
»Ja, und die Putzfrau nehme ich mir vielleicht auch noch mal vor.«
»Mach das. Doc hat seine Abendlektüre bereits gefunden, wie mir scheint.« Sie blickte zu ihrem Onkel, der geistesabwesend und tief versunken in der Cruciforma blätterte.
»Und was wirst du tun?«
»Ich ziehe mich eine Weile ins Legat zurück und bespreche mich dort mit meinen Freunden. Wir sehen uns morgen. Sagen wir, gegen neun?«
***
Das Legat war nach Despinas Wünschen entworfen und eingerichtet worden. Der Raum verfügte über keinerlei Fenster, war dafür aber an ein kompliziertes Belüftungs- und Klimatisierungssystem angeschlossen, das dafür sorgte, dass das Legat über konstante Temperaturen und Luftfeuchtigkeitsbedingungen verfügte – gleich einem Humidor, in dem man Zigarren über Jahrzehnte hinweg ohne Qualitätsverluste lagern konnte.
Die drei mal zweieinhalb Meter beherbergten lediglich einen drehbaren Sessel, ein kreisrundes orientalisch wirkendes Tischlein und eine Schrankvitrine, in der sich Despinas Urnen aneinanderreihten. Zu jeder Urne gab es eine Schublade, die mit bestimmten Dingen befüllt war, die dem jeweils Eingeäscherten zu Lebzeiten gehört oder etwas bedeutet hatten.
Despina bezeichnete die Urnen als Freunde, und genau genommen waren sie das auch. Da wäre zum einen Gloria Winfield, mit der sie sich im Heim für Kinder mit besonderen Verhaltensweisen ein Zimmer geteilt hatte. Gloria hatte sich das Leben genommen, in einem Alter, in dem die wenigsten Teenager im Heim, die allesamt mit seelischen Narben belastet waren, mit ihrem Leben zurechtkamen. Da sie keine Angehörigen hatte, wäre sie anonym bestattet worden, doch Despina hatte es geschafft, die Urne mit Glorias Asche ausgehändigt zu bekommen. In den ersten Gesprächen zeigte sich Gloria zornig darüber und war wütend auf ihre Freundin. Inzwischen hatte sich dies aber gelegt, Gloria bereute ihren Suizid und war dankbar über jedes Wort, das Despina mit ihr wechselte. Sie sehnte sich so sehr nach dem Leben, dass es die Einsamkeit des Todes für sie bitterer machte, als sie ohnehin schon war.
Eine imposante Persönlichkeit ihrer verstorbenen Freunde stellte Ben Carter dar. Seine Asche hatte sie persönlich mit Schaufel und Besen aufgefegt und in eine Urne gegeben, nachdem er bei einem Bombenanschlag verbrannte. Ben war ein angesehener Polizeibeamter beim New Scotland Yard gewesen. Leider hatte er den letzten Fall vermurkst. Eine schreckliche Fehlentscheidung habe zu seinem eigenen Verbrennungstod geführt, hieß es in der Presse, und Despina hatte einiges zu tun gehabt, bis sein Ruf wiederhergestellt war. Bis es so weit gewesen war, hatte er im Jenseits in einer Art Dauerschleife festgehangen und in einer Art traumgleichen Zustand immer und immer wieder dasselbe wirre Abenteuer erlebt. Auch hiervon hatte Despina ihn therapieren können, und nun war er dankbarer Dauergast ihres Legats und hatte bei manchen Fällen unterstützend helfen können.
Aber in ihrem Legat waren nicht nur Tote, die sie zu Lebzeiten gekannt hatte. Es befanden sich auch Verstorbene darunter, die lange vor ihrer Zeit gelebt hatten; und die Geschichten, wie Despina an deren Asche gekommen war, waren zuweilen verworrener als die Lebensgeschichten der entsprechenden Persönlichkeiten selbst. Ihre Bekanntschaft hatte sich meist aus purem Zufall ergeben, doch waren die Toten so erfüllt von der spirituellen Begegnung mit Despina, dass sie regelrecht darum bettelten, regelmäßige Gespräche mit ihr führen zu dürfen. Viele ihrer toten Freunde besuchte sie auch an ihren Gräbern, doch gerade bei Verschiedenen, deren Überreste nicht in London oder Großbritannien vergraben waren, hatte Despina für eine – teils illegale – Überführung gesorgt.
So wird es niemand bemerkt haben, aber eines von Despinas bestgehüteten Geheimnissen war es, die Asche des berühmten Schriftstellers, Historikers und Philosophen Umberto Eco in ihrem Legat zu verwahren. Schon zu Lebzeiten hatte sie seine Bücher verschlungen und sich beim Lesen am unermesslichen Wissen dieses Mannes ergötzen können. Als er 2016 an einem Krebsleiden starb, machte sich Despina unverzüglich auf den Weg nach Mailand, um seine Überführung zu organisieren. Natürlich hatte sie zuvor mit ihm gesprochen, und erst, als er begriffen hatte, welche Möglichkeiten des Schaffens und Wirkens ihm dadurch über den Tod hinaus angedeihen würden, stimmte er Despinas Plan zu, seinen Körper illegalerweise als Urnenasche nach London zu exportieren. Seitdem ruhte er hier und freute sich, sobald Despina mit ihm sprach. Er half, wo er nur konnte, und unterstützte Barbarossa North mit seinen okkulten Werken – ohne dass dieser davon wusste.
Zu guter Letzt gab es noch Freunde, zu denen sie Kontakt hatte, die bereits seit so langer Zeit tot waren, dass man nicht einmal ihre Asche hätte bergen können. Meist waren ihre Rückstände mit dem Boden, in dem sie bestattet wurden, verknüpft und an diesen gebunden. Manche waren aber auch nie bestattet worden, sondern verschüttet, und so gab es bestimmte Orte, die für Despina heilig waren und die sie in unregelmäßigen Abständen besuchte, um mit den dort Ruhenden zu sprechen – mit John Dee etwa, dessen Geist sie in Mortlake ausgemacht hatte und der sich seitdem in angeregtem Austausch mit ihr befand. Der Mathematiker, Astronom, Astrologe, Geograph und Mystiker war 1608 oder 1609 im Alter von 82 Jahren in Mortlake-Surrey verstorben. Sein genaues Todesjahr war ihm selbst nicht bekannt, da er seiner Aussage nach zu der Zeit mit wichtigeren Dingen zu tun hatte, als sich mit Jahreszeiten auseinanderzusetzen. Zwar existierten weder Sterberegister noch Grabstein, aber Dees und Despinas Freundschaft bedurfte dergleichen nicht. Ihnen langte eine alte Eiche, deren Wurzeln sich tief im Erdreich um einen lange vergessenen Wikingerschatz wanden, den nie mehr ein Mensch ausgraben würde, wie Dee meinte zu wissen.
Ihr größter Schatz aber war ihre Großmutter, die in ihrem Legat eine Sonderstellung einnahm. Nicht nur, dass sie denselben Namen trug – Despina war nach ihr benannt worden – sie war darüber hinaus eine hondurische Voodoo-Priesterin gewesen. Sie starb lange vor Despinas Geburt, und es war kein geringerer als Barbarossa North, der ihr die Urne zu ihrem 30. Geburtstag als Geschenk überreicht hatte.
Despina liebte ihre Großmutter und unterhielt sich sehr oft mit ihr, war sie doch wohl so eine Art Mutterersatz für sie, obwohl es die Mutter ihres Vaters war. Mit ihren eigenen Eltern hatte sie dahingegen noch nie ein Wort gewechselt. Despinas Vater stammte aus Honduras und ihre Mutter aus Großbritannien, so wie sie selbst. Ihre Kindheit hatte sie in einer Einrichtung für Kinder mit psychischen Auffälligkeiten verbracht. Ihr Onkel, Barbarossa North, hatte all die Jahre als ihr Vormund agiert, wobei er eigentlich nur die Obhut über Despinas Finanzen innehatte. Erst später nahm er sich ihrer an, half ihr dabei, ihre Gabe unter Kontrolle zu kriegen, sorgte dafür, dass sie ihre Halbschwester Tori kennen und auch lieben lernte, und gemeinsam bauten sie die Bibliothek für okkulte Fälle aus. Von ein paar wenigen Momenten abgesehen waren ihre Eltern nie Thema gewesen, und Despina wollte auch, dass dies so blieb. Wenn es einen wunden Punkt in ihrem Leben gab, dann diesen.
Ihre Großmutter indes konnte zu alledem nichts sagen. Sie wusste nicht, was ihre Eltern dazu getrieben hatte, sie ins Heim zu geben. Nun, man konnte die Toten lieben oder hassen – sie vermissen oder froh sein, dass sie fort waren. Für Despina stand lediglich fest, dass man die Freundschaft zu den Toten ebenso hegen und pflegen musste wie die lebendigen Kontakte der Gegenwart, die sie darüber leider nur zu oft vergaß.
Dennoch ließen all diese Kontakte Despina nicht vergessen, dass sie lebte und dieses Leben mitunter auch genießen konnte. Doch zum Genuss des Lebens – Despinas Leben – gehörten ihrer Meinung nach nicht zuletzt inspirierende Gespräche; und diese fand sie beinahe ausschließlich mit jenen, die ihr Leben bereits hinter sich gelassen hatten. Despina verfiel dann immer in so eine eigenartig melancholische Stimmung, die dazu beitrug, dass sie die Urne ihrer Großmutter aus der Vitrine nahm und sie auf den kreisrunden Tisch stellte.
Sie musste die Urne nicht einmal berühren, um mit ihrer Großmutter Kontakt aufzunehmen. Je öfter sie mit den Verstorbenen sprach, desto einfacher war es, sie gezielt und alleine mit der Kraft ihrer Gedanken anzusprechen. Sie musste nur an die entsprechende Person denken.
»Hallo!«, sagte sie nur.
»Despina, mein Kind«, sprach ihre Großmutter. »Schön, dass du da bist und mir einen Besuch abstattest.«
»Niemanden besuche ich lieber als dich, Oma.«
»Das freut mich.« Sie seufzte wohlig. »Gibt es einen bestimmten Anlass für deinen Besuch?«
»Um mit dir zu sprechen, brauche ich keinen Anlass.«
»Ich weiß, Liebes, aber ich spüre, dass dich etwas umtreibt.«
»Da hast du recht.« Despina legte ihre Stirn in Falten. »Ich frage mich gerade, wie viel man von seiner Persönlichkeit mit ins Jenseits nimmt. Bist du, so wie du mit mir sprichst, auch so gewesen, als du noch gelebt hast?«
»Ich wüsste nicht, wie ich sonst gewesen sein sollte.«
»Und meinst du, dass man, wenn man zu Lebzeiten an einer psychischen Erkrankung gelitten hat …, dass man die Symptome, die ja Teil der Persönlichkeit sein können, ebenso mit ins Totenreich nimmt?«
»Natürlich ist das möglich«, wusste ihre Großmutter. »Die Persönlichkeit ändert sich nicht. Sie bildet sich bereits im Mutterleib und hört auch mit dem Tod nicht auf.«
»Aber ein psychisches Krankheitsbild bildet sich doch nicht im Mutterleib.«
»Nein, aber die Veranlagung dazu sehr wohl.«
Despina blähte die Backen auf und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, schlug Großmutter vor, von der Despina nicht nur ihren exotischen Vornamen geerbt hatte – in ihrem früheren Leben hieß sie einmal Maria Despina Flores –,sondern auch ihre Schönheit, wie sie anhand einiger weniger Fotografien wusste. »Mein einziges Kind, das später einmal dein Vater werden sollte, war noch Quark im Schaufenster, wie man so schön sagt, und ich war ein junges Ding und bildhübsch und trug das Gefühl in mir, der Mittelpunkt des Universums zu sein. Ich lebte in den Wolken und fühlte mich wie die Leichtigkeit des Seins. Die Männer, gleich welchen Alters, rannten mir scharenweise hinterher oder lagen mir zu Füßen; und ich genoss es, ihre Blicke auf mir zu spüren, wenn ich zur Siesta die Hauptstraße unseres kleinen Dorfes entlangschlenderte. Einer davon war Lupo, der sich damit rühmte, Enkelsohn eines der letzten spanischen Konquistadoren zu sein. Das sagte in erster Linie natürlich nicht sonderlich viel über den Burschen aus, erklärte mir aber im Nachhinein ein wenig seinen Eroberungsdrang.« Die Tote kicherte schelmisch.
»Du wirst mir jetzt aber keine intimen Details erzählen, oder?«
»Natürlich nicht, Liebes. Wo kämen wir denn da hin. Man genießt und schweigt. Und zu genießen gab es da einiges, worüber schweigen sich lohnt.« Wieder kicherte sie.
»Großmutter!«, mahnte Despina und schüttelte den Kopf, musste aber grinsen.
»Ein Schelm, wer schmutzig dabei denkt«, lachte die Frau, die im seligen Alter von 103 glücklich eingeschlafen war.
»Worauf willst du denn jetzt eigentlich hinaus?«
»Richtig, fahren wir fort: Dieser Lupo also war der Schwarm meiner schlaflosen Nächte. Heimlich trafen wir uns an geheimen Treffpunkten, nachdem wir uns wochenlang zuvor Liebesbriefe hin und hergeschrieben hatten, die wir an der Baumwurzel einer großen Palme nahe des Strandes in eine Schatulle sperrten und vergruben.«
»Meinst du, die Briefe gibt es noch?«
»Das denke ich nicht, Liebes. Das ist nun über hundert Jahre her, und die Schachtel war aus Holz und vermutlich nicht dafür geschaffen, Jahre und Gezeiten zu überdauern.«
»Vielleicht ergibt sich mir ja mal die Gelegenheit, und ich kann für dich nach den Briefen suchen.«
Großmutter schüttelte im Geiste ihren Kopf. »Das brauchst du nicht zu tun, Liebes. Es wäre der Mühe nicht wert, und ich hätte ja doch nichts davon, bin ich doch ebenso vergangen wie das Papier, auf das wir unsere Briefe schrieben.« Sie seufzte traurig und einen kurzen Moment lang spürte Despina die ihr so vertraute Bitterkeit, die viele Toten mit ausstrahlten, wenn ihnen bewusst wurde, dass ihr Leben vorbei war.
»Wie auch immer; ich möchte eigentlich auf etwas ganz anderes hinaus: Eines Tages – wir waren wieder zur gewohnten Zeit an unserem gewohnten Ort verabredet – kam Lupo nicht, sondern stattdessen sein Großvater, der Konquistador. Er war wütend auf mich, da ich seiner Meinung nach den Geist seines Enkels vergiften würde. Er drohte mir, mich eigenhändig umzubringen, würde ich mich jemals erneut mit Lupo sehen lassen.«
»Davon hast du dich aber doch nicht wirklich beeindrucken lassen, oder doch?«
»Na, was glaubst du? Er hatte mich auf jeden Fall gehörig eingeschüchtert. Also suchte ich Rat bei meiner Großmutter – also deiner Ururgroßmutter. Sie lebte außerhalb des Dorfes in den Wäldern oberhalb der Kakaoplantagen in einer Hütte. Sie war, so wie ich später, Voodoo-Priesterin. Bei ihr roch es ständig nach Blut, und überall lagen Hühnerbeine und Federn herum. Eigentlich war es von außen betrachtet ein ekelhafter Saustall, in dem meine Großmutter hauste, aber ich mochte es dort. Mir gefielen diese ganzen Voodoozeremonien, und Großmutter war es letztlich auch, die mich in den Zauber einweihte, die mich initiierte und zur Priesterin ausbildete. Zum damaligen Zeitpunkt aber war ich noch nicht reif. Ich mochte gerade mal 16 Jahre alt gewesen sein. Aber sie gab mir einige Zaubermittelchen an die Hand, wie ich mich dem boshaften Konquistador zur Wehr setzen konnte, nachdem sie mich ermahnt hatte, seine Drohung kaltherzig in den Wind zu schlagen; kannte sie den Mann doch wiederum aus ihren eigenen jungen Jahren.«
»Sag schon, was musstest du tun?«
»Ich vollführte einen Zauber, der sehr kompliziert war und von den Ingredienzien des Trunks, den ich zu brauen hatte, unverschämt ekelhaft. Die Details erspare ich dir an dieser Stelle lieber. Wichtig ist letztlich nur, dass der Zauber funktionierte. Er bewirkte, dass der Konquistador den Verstand verlor. Er rastete vollständig aus, brabbelte fortan nur noch unzusammenhängendes Kauderwelsch und wurde anderen Leuten gegenüber sehr aggressiv. Man brachte ihn in eine Irrenanstalt.«
»Großmutter!«, sagte Despina überrascht. »Hattest du das wirklich so perfide geplant?«
»Was?«
»Ich meine, war es tatsächlich dein Plan, dass er verrückt wird?«
»Aber nein! Um Himmels willen. So grausam wäre ich nie gewesen. Ein Beschwichtigungszauber hätte es werden sollen. Ganz harmlos eigentlich. Aber irgendetwas muss ich verkehrt gemacht haben.«
Despina atmete erleichtert auf.
»Aber wenigstens konnte er mir in der Irrenanstalt nicht mehr gefährlich werden«, fuhr sie fort.
»Verstehe. Und Lupo und dir stand er nicht mehr im Wege.«
»Leider nein. Lupo beantwortete meine Briefe nicht und kam auch nicht mehr zu unseren Treffen. Sein Großvater hatte ihn im Wahn erschlagen.«
»Hast du ihn im Totenreich wiedergefunden?«
»Natürlich. Du weißt doch selbst am besten: Wir sind alle hier.« Sie spürte das Lächeln ihrer Großmutter. Aber es war ein verbittertes Lächeln, denn Despina wusste auch, dass das Wiedersehen im Jenseits nicht dem entsprach, was Sterbliche sich so romantisch darunter ausmalten. Diesen Eindruck hatten ihr schon viele Verstorbene immer wieder und unabhängig voneinander bestätigt.
»Was hat deine Geschichte jetzt mit meiner Frage zu tun?«
»Darauf komme ich jetzt zu sprechen, meine Liebe. Denn nicht nur Lupo habe ich im Jenseits wiedergetroffen und mit ihm aufgearbeitet, was damals geschehen ist. Und das war gar nicht so einfach, denn auch Lupo war wütend auf mich.«
»Weshalb?«
»Weil er seinen Großvater geliebt hat. Sein Großvater jedoch hat den Wahn, den ich ihm mit dem Voodoozauber angehext hatte, mit ins Grab genommen. Auch ihn habe ich getroffen. Er ist noch immer verrückt. Geisteskrank. Völlig irre.«
»Du hast Schuldgefühle«, sagte Despina unvermittelt.
»Nein, nicht direkt. Die hatte ich vielleicht mal, aber Zeit heilt alle Wunden.«
»Nicht aber die Schuld. Das hast du selbst mal zu mir gesagt.«
»Du hast recht, Despina. Ich habe Schuldgefühle. Und ich werde sie immer haben und nie mehr loswerden. Bis in alle Ewigkeit.« Wieder seufzte sie.
»Das brauchst du nicht. Du hast es so ja nicht beabsichtigt.«
»Na ja. Das Ergebnis war nicht das gewünschte. Alles ist schiefgegangen. Einfach nur alles.«
»In deiner Situation erschien es dir dennoch als das Richtige. Hat dich deine Großmutter nicht gewarnt?«
»Du meinst, ob sie ihrer Aufklärungspflicht über Risiken und Nebenwirkungen nachgekommen ist?« Großmutter lachte verbittert auf. »Dergleichen gibt es beim Voodoo nicht.«
»Dennoch hast du seinerzeit aus der Überzeugung heraus gehandelt, das Richtige tun zu wollen. Und das ist es doch, was im Nachhinein zählt, auch wenn es schiefgegangen ist. Der Wille und die Intention dahinter. Alles hat sein Gutes. Und wenn es nur dazu gut war, dass du mir hier aus dem Jenseits heraus mit deiner Geschichte sehr geholfen hast.«
»Habe ich das denn?«
»Du hilfst mir immer, Großmutter!«
»Ich danke dir, Despina. Aber du musst nicht lügen, um mich glücklich zu machen. So etwas gibt es hier, auf der anderen Seite, ohnehin nicht. Gefühle wie Glück gibt es nur bei euch Lebenden.«
»Aber du kannst dich an Glück erinnern.«
»Natürlich. Aber das ist nicht dasselbe.«
»Aber mitunter genauso schön«, sagte Despina und spürte, wie ihre Großmutter im Jenseits lächelte. »Eine Frage habe ich noch, Großmutter.«
»Alle Fragen, die du willst, Pina.«
»Als Voodoo-Priesterin kennst du dich doch mit Zombies und dergleichen aus. Wie lange nach dem Tod ist es einer Seele möglich, mittels Voodoo oder anderer magischer Praktiken zurück in ihren vormaligen Körper zu gelangen? Ist das überhaupt möglich?«
»Natürlich ist dergleichen möglich. Es gibt ganze Bücher darüber. Du musst zunächst einmal mit dem Loa, der Welt der Geister, in Kontakt treten, indem man …«
»Großmutter!«, unterbrach Despina sie. »Ich möchte nicht wissen, wie das geht – noch nicht – vorerst genügt mir der Zeitraum, in dem das alles passieren muss.«
»Drei bis vier Tage maximal. Länger nicht. Das macht sich ja auch am Körper selbst bemerkbar.«
»Jesus benötigte auch nur drei Tage bis zur Auferstehung, oder?«
»Das erzählt zumindest die Bibel«, wusste Großmutter. »Ihn danach befragen kann ich nicht. Er ist hier auch nicht mehr als ein Gespenst, von dem es heißt, dass es mal da war. Ein Geist, an den sich keine der Seelen hier im Jenseits recht erinnern kann. Nun, manche hier verstecken sich und manch andere Seele war nie hier – ohne, dass ich erklären könnte, wieso und warum und wie das alles überhaupt funktioniert. Aber manche reisen auch weiter, heißt es.«
»Wohin?«
»Zu einem anderen, einem besseren Ort. Vielleicht zu Gott oder in die ewige Verdammnis oder doch in einen Garten Eden?«
»Das ist alles sehr vage.«
»Über solche Dinge wird hier auch nicht groß diskutiert, Despina. Hier wird überhaupt nicht viel gesprochen.«
»Großmutter: Glaubst du an eine Wiedergeburt? An Reinkarnation?«
»Glaubst du denn daran?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Despina und begann damit, die Verbindung zu Maria Despina Flores zu lösen, »aber ich werde es herausfinden.«