Читать книгу Despina Jones und die Fälle der okkulten Bibliothek - Tobias Bachmann - Страница 8
Оглавление2. Kapitel
Der Kirchturm der All Hallows by the Tower-Kirche spiegelte sich in der Glasfassade des gegenüberliegenden Gebäudes am Tower Place, in dessen Parkhaus Despina ihren Wagen abgestellt hatte.
Despina verspürte Kirchen gegenüber stets eine besondere Ehrfurcht, die mit dem Alter der heiligen Gemäuer stieg. All Hallows by the Tower war die älteste Kirche der Stadt und ließ sich bis ins siebte Jahrhundert zurückdatieren. Selbstredend, dass das Gebäude eine bewegende Geschichte hinter sich hatte. Eine Geschichte mit vielen Toten.
Sie umrundete das altehrwürdige Kirchenschiff und erreichte die belebte Byward Street, die weiter vorne in Tower Hill mündete. Dort tummelten sich die Touristen, die trotz der Kälte in Scharen zum Tower of London pilgerten. Auf der anderen Straßenseite öffnete soeben der Pizza-Express, und weiter hinten gab es eine Starbucks-Filiale.
Despina wandte sich nach rechts und stapfte durch den Schnee bis zum Eingang der Kirche, unter dessen Rundbogenportal ein Mann im schwarzen Mantel wartete, der deutlich zu der Beschreibung passte, die Doc ihr gegeben hatte. Sie öffnete soeben den Mund, um sich dem jungen Gottesmann vorzustellen, als eine ihr wohlbekannte Stimme von der anderen Straßenseite ihren Namen rief.
Der Mann hob pikiert die Augenbrauen, und Despina wandte sich um und sah Jean auf der anderen Straßenseite, die wie ein kleines Kind vor Freude hüpfte und ihr zuwinkte. Dabei lachte sie schrill und führte Bewegungen aus, um die Autos zum Halten zu bewegen, damit sie die Straße überqueren konnte.
»Ein paar Meter nach links und Ihre Freundin könnte die Fußgängerampel verwenden, Ms Jones.« Der Mann, der in dem Eingangsportal der Kirche gewartet hatte, war an sie herangetreten. »Sie sind doch Ms Jones von der Bibliothek?«
Despina lächelte und reichte ihm die Hand. »So ist es.«
»Es freut mich sehr«, sagte der Mann, während sie ihre Hände schüttelten. »Ich bin Pater Victor.«
»Sie sind recht jung für einen Priester«, sagte sie, erhielt als Antwort jedoch nur ein mildes Lächeln.
Gleichzeitig hupten die Fahrzeuge, da Despinas bessere Hälfte die Straßenseite wechselte. »Das ist meine Kollegin Jeanette Dark.«
Im gleichen Moment tauchte sie wie gerufen neben den beiden auf. »Hi Süße!« Sie küsste Despina auf die Wange, und die dachte bei sich, dass der Pfarrer Glück hatte, nicht Jeans übliche Willkommensgebaren erleben zu müssen.
»Und Sie sind … ?«, fragte Pater Victor.
»Jean.« Sie hielt dem Mann die Hand entgegen. »Despina und ich, wir …«
»Ja, ja. Nun denn, es ist etwas frisch hier draußen. Bitte folgen Sie mir doch ins Innere unserer Kirche«, unterbrach der Pastor Jean ungeduldig.
Jean machte eine verlegene Geste, schmunzelte aber dabei, und Despina war froh, dass sie hier war. Gerne hätte sie Jean gefragt, wie es im Urlaub war und wie es ihr ging – ihrem Verhalten nach zu urteilen, vortrefflich – aber im Beisein des Priesters kamen ihr derlei weltliche Gespräche falsch vor, und so verschob sie dergleichen auf später.
»Die Kirche ist sehr archaisch«, sagte sie daher, als sie das Innere der heiligen Hallen betreten hatten. Es roch nach Weihrauch und vergangener Zeit.
»Die Krypta, in die wir nun gehen werden, entstammt dem siebten Jahrhundert. Man hat aber auch ein Bodenstück in römischer Mosaikbauweise freilegen können, das auf das späte zweite Jahrhundert datiert werden konnte. Man geht davon aus, dass es einmal Teil eines Wohnhauses war.«
Despina hob die Augenbrauen. Sie wusste, wenn sie sich anstrengte, könnte sie die wahren historischen Hintergründe herausfinden, doch lag ihr Interesse eher an den persönlichen Schicksalen der Toten.
Sie folgten dem Pastor durch die Kirche, der sie an den berühmten Intarsien des Gotteshauses vorbeiführte und nicht umhinkam, seine Besucher auf etliche Details und Kunstgegenstände hinzuweisen. Neben dem Zugang zum sogenannten Queen Mother Centre 2000, der mit dem Besuch der Königin zu tun hatte, führten altertümliche Treppenstufen hinab in die unterirdischen Teile des Kirchenschiffs. Mit jedem Schritt spürte Despina das Alter und die Schwere der Historie. Fast schon meinte sie, die Stimmen der Vergangenheit zu hören, wie Flüstern aus weiter Ferne.
»Die Krypta ist eine Kapelle aus dem Jahre 1280 und dem Heiligen Franz von Assisi geweiht. Dreihundert Jahre lang war sie nicht zugänglich, heißt es, bevor sie 1925 wieder entdeckt wurde. Der ursprüngliche Eingang war vom Chor oben durch die Stufen in der Westwand. Im fünfzehnten Jahrhundert war es wohl eine Kapelle die nur von Nonnen und Frauen betreten werden durfte.« Er sah Jean mit einem seltsamen Blick an, als er das sagte. »Die Kapelle ist durch ein schmales Fenster mit dem benachbarten Oratorium von St. Clare verbunden, in dem sich hinter einem Gitter die sogenannte Lamp of Maintenance befindet.«
Jean blickte Despina an, zuckte mit den Schultern und lief weiter. Je tiefer sie gelangten, desto dunkler wurde es. Es war kühl, aber nicht so kalt wie draußen im winterlichen London.
»Es gibt noch eine weitaus beeindruckendere Gewölbekapelle, die dem 14. Jahrhundert entstammt. Im dortigen Altar wurden Steine verarbeitet, die aus der Templer-Kirche der Athlit-Festung in Israel stammen. Darüber hinaus dient die Kapelle als Aufbewahrungsort etlicher Urnen-Boxen, in denen sich die eingeäscherten Überreste geschätzter Gemeindemitglieder befinden.«
»Ist ja fast wie bei dir zu Hause im Legat«, raunte Jean Despina zu, doch sie erhielt als Antwort nur ihren berühmten Blick, der zum Schweigen ermahnte.
Der Priester blieb nun in dem Gewölbe stehen und sagte: »Worauf ich hinaus will, ist: Es haben sich schon viele Unglücke in diesen Gemäuern ereignet, aber das hier ist eine einzige Katastrophe.« Dann erst gab er den Blick frei auf den Eingang der Franz-von-Assisi-Krypta.
Ehrfürchtigen Schrittes durchmaß Despina den schmalen Gewölbegang und betrat die unterirdische Kapelle, die gerade mal so groß war, dass eine Handvoll Betender nebst einem Prediger darin Platz fanden.
Der Tote saß in Christus-Pose auf dem an der Wand stehenden Altar, der mit einer weißen Decke abgedeckt war. Die Arme des Toten waren zu beiden Seiten hin ausgestreckt und oberhalb des Kopfes mit Nägeln an die Wand fixiert. Rechts und links davon brannten die Kerzen auf ihrem Lüster, schräg darunter zu beiden Seiten des Altars standen Marienstatuen auf hölzernen Ständern.
Despina trat näher heran, aber nicht zu nah. Sie wollte noch keinen Kontakt zu dem Toten aufbauen, dessen Körper mit Ausnahme weißer Shorts unbekleidet war. Er mochte um die 60 Jahre alt sein und trug sein leicht gewelltes, aber bereits ergrautes Haar schulterlang.
»Wer ist der Tote?«, fragte Despina.
»Das weiß ich nicht«, gab der Pfarrer Auskunft.
»Sie haben ihn noch nie zuvor gesehen?«
»Nein.«
»Und Sie haben ihn so, wie er hier zur Schau gestellt ist, gefunden?«
»Gefunden hat ihn unsere Putzkraft, Mrs Cathrin.«
»Wir müssen mit ihr sprechen.«
»Natürlich. Sie befindet sich oben bei der Orgel und …«
»Erledigst du das, Jean?«
»Logisch. Soll ich den Pfarrer gleich mitnehmen, damit du … ?«
»Eins noch, Pater Victor.« Despina wandte sich von dem Toten ab und blickte dem Priester ins Gesicht. »Weshalb haben Sie sich an die Bibliothek gewandt und nicht die Polizei gerufen?«
»Nun«, er nestelte nervös mit seinen Händen herum, »die Sache ist die, dass die Gemeinde sehr erpicht darauf ist, dass nichts hiervon an die Öffentlichkeit gerät. Sie müssen wissen, wir hatten erst kürzlich einen recht unschönen Missbrauchsskandal, und …«
»Meinen Sie, dass der mit diesem Mord hier in Zusammenhang stehen könnte?«
Pater Victor schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er. »Ich sehe überhaupt keinen Zusammenhang zur Gemeinde. Weder kann ich sagen, wer der Tote ist, für dessen Seele ich bereits gebetet habe, noch, warum man ihm das angetan hat. Und wieso ausgerechnet hier?«
»Wir werden das herausfinden«, sagte Despina.
»Die Kleidung des Toten«, warf Jean ein, »wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Priester.
Jean seufzte. »Bringen Sie mich zu der Putzfrau, bitte.« Und an Despina gewandt: »Bist du so weit?«
Sie nickte. »Klar. Bitte sorge dafür, dass keiner hier hinunterkommt.«
»Dafür bin ich doch da, Süße.« Sie zwinkerte ihr zu und verließ mit Pater Victor, der unablässig redete, die Krypta.
Despina wartete, bis sie die Stimmen im Treppenschacht verhallen hörte, und wandte sich erst dann wieder dem Toten zu.
»Na schön«, murmelte sie. Sie atmete tief ein und aus und schritt dann regelrecht ehrfürchtig auf den Leichnam zu. Sie sah das Blut, das aus den Wunden in seinen Händen geflossen und das bereits an der Wand und auf dem weißen Altartuch eingetrocknet war. Auf dem Kopf hatte man ihn mit einer Dornenkrone gequält. Sie bemerkte seine dehydrierten Lippen und fand einen Schwamm mit einem Strohhalm auf dem Boden unter einer der Sitzbänke.
»Wie Jesus«, sagte sie. »Einzig die Wunde durch die heilige Lanze fehlt.« Sie rief sich ein Bildnis des Hauptmanns Longinus vor Augen, das so oft gemalt wurde und ihn zeigte, wie er die heilige Lanze in den Brustkorb oder die Flanke Jesu trieb, um zu überprüfen, ob er bereits tot war. Der Lanze selbst sagte man eine mächtige Wirkung nach. Dank des Blutes Christi mache sie den Träger der Lanze unsterblich, so dass bereits im Mittelalter heftige Auseinandersetzungen und Intrigen um den Besitz der Lanze ausgefochten wurden. Sie zogen sich bis ins dritte Reich, da selbst Hitler an der Reliquie interessiert war, die seit 1946 in der Schatzkammer der Wiener Hofburg verwahrt wurde, soweit Despina recht informiert war.
Ihr Wissen in historischen Belangen war umfassend. Nicht, weil sie so viel las oder weil Tori regelmäßig für sie recherchierte, sondern weil die Toten ihr all die Geschichten erzählten – und sie taten es gerne, da es sonst kaum jemanden gab, der die Fähigkeit dazu hatte zuzuhören. Despina wusste: Nach dem Tod ist es einsam.
Sie sagte: »Bereiten wir der Einsamkeit ein Ende«, und legte ihre linke Hand auf die Stirn des Toten und ihre Rechte auf dessen Brust.
Der Erstkontakt war stets für beide Seiten verwirrend: Zwei Bewusstseine trafen sich wie in einer Art paramythologischen Wolke, die für die Beteiligten zwar sichtbar war, in Wirklichkeit aber gar nicht existierte. Blitze zuckten am imaginären Himmel, und Donner grollte obendrein. Für Außenstehende war dergleichen nicht hörbar, doch für Despina war der Lärm des Donners ohrenbetäubend. Die Blitze blendeten sie, weswegen sie ihre Augen verschlossen hielt, und die Wolken rochen nach Ozon.
Diese intensive Form war tatsächlich und zum Glück nur bei einer Erstbegegnung zu verspüren, was mit Sicherheit auch daran lag, dass der Tote noch nicht allzu lange tot war und sie den Leichnam mit ihren baren Händen berühren konnte. Nahm sie Kontakt zu einem Toten an dessen Grab auf, war der Erstkontakt zwar ebenso intensiv, aber in sich sanfter. Diesmal jedoch kam die Erst-Berührung einer einzigen elektrischen Entladung gleich.
Und erst als die Wolken sich langsam lichteten, war Despina so weit, dass sie mit dem Toten sprechen konnte.
Die Irritation des Toten war spürbar. Es begann immer mit der Irritation darüber, dass da plötzlich jemand war, der Kontakt aufnahm. Als Toter – das wusste Despina aus anderen Gesprächen – spürte man die Präsenz einer Gegenwart, die sonst nicht da war. Oft folgte der Irritation ein Seufzen der Wehmut, bevor die Konversation begann. Hier jedoch war es anders. Der gewohnten Irritation folgte ein ungewohnt herzliches Lachen.
»Du scheinst glücklich zu sein«, sagte Despina daher.
»Glücklich – ja«, gluckste die Stimme des Toten in ihrem Kopf.
»Bist du froh darüber, das Leben hinter dir gelassen zu haben?« Oder war er sich darüber noch nicht im Klaren?, überlegte sie weiter.
»Ich werde wieder auferstehen«, lautete die kichernde Antwort.
»So? Wie soll das möglich sein? Tote stehen in den seltensten Fällen wieder auf. Das passiert nur im Film. Bei Zombies etwa.«
»Nein. Bei mir ist es anders. So wie es schon einmal geschehen ist.«
»Wie es schon einmal geschehen ist? Erklär mir das, bitte.«
»Du solltest die Legende kennen.«
»Welche Legende?«
»Die des wiederauferstandenen Christengottes.«
»Hältst du dich etwa für Jesus?«
»Ich halte mich nicht nur für ihn: Es ist kein geringerer als Jesus Christus, mit dem du sprichst.«
Despina öffnete die Augen und besah sich den toten Körper des Mannes, den man gekreuzigt hatte wie sein religiöses Vorbild. »Jesus starb vor gut 2.000 Jahren.«
»Und stand wieder auf, bevor er am dritten Tag gen Himmel fuhr. So wird es wieder geschehen.«
»Aber du kannst nicht Jesus sein.«
»Wieso nicht?«
»Dein Körper befindet sich in einer Krypta in London. Du wurdest umgebracht. Zwar hat man dich nach Christi Vorbild gekreuzigt, aber das alleine heißt noch lange nicht, dass du Jesus Christus bist. Von der Möglichkeit einer Auferstehung brauchen wir gar nicht erst zu sprechen.«
»Ah, ich verstehe. Du willst mich auf die Probe stellen. Bist du ein gesandter Engel meines Vaters?«
»Nein, ich bin kein Engel. Man nennt mich Despina Jones. Ich bin ein Mensch und besitze die Gabe, mit den Toten sprechen zu können. Ich nutze diese Gabe, um Verbrechen aufzuklären, aber auch um den Toten einen Dienst zu erfüllen, indem ich etwa Botschaften an Hinterbliebene überbringe oder umgekehrt etwas ausrichte – vor allem aber, indem ich ihnen zuhöre.«
»Das sind wahrlich seltene Fähigkeiten. Und weswegen sprichst du dann mit mir?«
»Mit dir spreche ich, weil an dir ein Verbrechen verübt wurde. Du wurdest umgebracht, und ich möchte wissen, wer das getan hat. Außerdem würde es mir helfen zu wissen, wer du wirklich bist.«
»Ich bin Jesus Christus«, beharrte der Tote auf seiner Meinung. »Und ich werde wiederauferstehen!«
Na, das kann ja heiter werden, dachte Despina und überlegte krampfhaft, wie sie Jesus klarmachen konnte, dass er eben nicht der war, für den er sich hielt. Vielleicht war er zu Lebzeiten bereits in psychiatrischer Behandlung, weil er sich für Jesus gehalten hatte? Dergleichen gab es doch öfter. Wenn man eine psychiatrische Einrichtung besucht, sitzt dort Gott Vater neben Napoleon.
»Also gut, Jesus. Dann erkläre mir doch bitte, was du in der Kirche All Hallows by the Tower zu suchen hattest«, versuchte es Despina nun.
»Weswegen betritt man ein Gotteshaus, mein Kind? Um mit Gott zu sprechen, natürlich. Auf geweihtem Boden ist man Gott näher, und mir war wohl nach einem Gebet zumute.«
»Du sprichst so, als wüsstest du es nicht genau, als seist du dir nicht sicher.«
»Bin ich mir auch nicht«, gestand Jesus sich ein. »Ich kann mich daran erinnern, auf dem Glockenturm gewesen zu sein. Aber was ich dort oben wollte, das weiß ich nicht mehr. Die Orgel spielte eigenartige Musik.«
»Hast du irgendwen gesehen? Bist du jemandem begegnet?«
»Mir hat sich das Bild einer Jesusfigur eingeprägt. Eine gekreuzigte Statue mit lächelndem Gesicht. So wie ich.«
»Du redest wirr.«
»Der wirre Geist birgt Weisheit in sich.«
Despina seufzte. »Wer hat dich gekreuzigt?«
»Jesus.«
»Und wer bist du?«
»Jesus.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.« Der vermeintliche Jesus kicherte wieder.
»Und worum soll ich bitten? Nach wem soll ich suchen? Und an welche Tür soll ich bitteschön klopfen?«
»An Gottes Tür natürlich. Er ist es, nach dem du suchen und den du um Weisheit und Erkenntnis bitten sollst.«
Na toll, dachte sie und sagte: »Ich werde dich jetzt verlassen. Aber ich werde wiederkommen, um mit dir zu sprechen. Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein. Vielleicht finde ich etwas heraus, das deinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Wir werden sehen.«
»Was wird mit meinem Körper geschehen? Man muss mich in eine Grabkammer bringen.«
»Ich werde dergleichen veranlassen«, versprach Despina. »Vertrau mir.« Dann löste sie die Verbindung, indem sie ihre Hände vom Korpus des Leichnams hob. Noch spürte sie das Kribbeln in den Fingern, und fast war ihr, als könnte sie die unsichtbaren Wolkenstränge wie zähe Fäden zwischen dem Leichnam und ihren Händen sehen. Nach und nach rissen sie, und die Stimme des Toten und seine Präsenz in ihrem Verstand verblassten zunehmend, je mehr sie sich von ihm löste.
Es gab besonders intensive Verbindungen, da waren jene imaginären Wolkenstränge fester und schwerer zu durchtrennen. Doch der Tote, der sich für Jesus hielt, kämpfte nicht so sehr darum, in der Welt der Lebenden verankert zu bleiben. Er schien vollkommen losgelöst von allem zu sein. Regelrecht überirdisch kam er ihr vor, und das zum Teil absurde Gespräch hallte mit vielen Fragezeichen in ihr nach, als Despina die Krypta verließ, um nach Jean und Pater Victor zu suchen.
Sie fand die beiden auf der Empore der Kirchenorgel – ein imposant anzusehendes, mächtiges Instrument mit riesig erscheinenden Pfeifen und drei Manualen, die zum Bespielen einluden. Auf der Sitzbank, die für den Organisten bestimmt war, saß eine Frau, die sich ihr als Cat vorstellte und bei der es sich um die besagte Putzfrau handelte, wie Jean sie unverzüglich aufklärte. »Eigentlich heißt sie Mary Cathrin«, erklärte Jean.
Despina schätzte Cats Alter auf etwa 40 Jahre, wobei sie älter aussah. Womöglich ein Drogenproblem, überlegte sie und betrachtete die eingeschüchtert wirkende Frau, die abwechselnd zu Pater Victor und Jean blickte. »Kann ich nun gehen?«
»Halten Sie sich zu unserer Verfügung«, sagte Jean. »Unsere Karte haben Sie, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.«
»Und es kommt auch ganz sicher keine Polizei?« Despina hätte gerne gefragt, was der Frau solche Angst bereitete, wollte aber keine Fragen stellen, die Jean mit großer Wahrscheinlichkeit bereits gestellt hatte.
»Fürs Erste nicht«, beeilte sich da der Priester zu sagen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Alles ist gut. Gehen Sie nun nach Hause, Cat.«
»Aber ich bin noch nicht fertig.«
»Für heute ist es sauber genug.«
Cat nickte und erhob sich vorsichtig. »Gut, dann gehe ich jetzt.«
»Eine Frage noch«, sagte Despina nun.
»Ja?«, sagte sie leise und wandte sich vorsichtig um.
Der Spitzname passte, dachte Despina. Ein ängstliches, scheues Kätzchen. »Gehört die Reinigung des Glockenturms auch zu Ihren Aufgaben?«
»Nur einmal im Monat muss ich die unteren Stiegen fegen. Das sei ausreichend, wurde mir gesagt. Ganz oben war ich noch nie.«
»Und gestern? Waren Sie da im Glockenturm?«
Cat schüttelte den Kopf. »Nein. Gestern habe ich gar nicht geputzt. Ich war nur zum Gebet hier.«
Despina nickte und lächelte freundlich. »Ich danke Ihnen.«
Sowohl der Priester als auch Jean sahen Despina fragend an.
»Eine schöne Orgel ist das«, sagte sie, anstatt ihre offenen Fragen zu beantworten.
»Das ist wohl wahr«, ereiferte sich Pater Victor sogleich. »Sie wurde 1957 von Harrison and Harrison Ltd. erbaut und enthält eine Silberpfeife, die der verstorbenen Queen Mary gewidmet ist.«
»1957 erst? Ich dachte, die Kirche wäre eine der ältesten der Stadt?«, sagte Jean.
»Das ist richtig, aber es gibt viele Kriegsschäden zu bedauern. Die alte Orgel wurde 1940 bei einem Luftangriff vollständig zerstört.« Pater Victor schaute betroffen in die Runde. »Aber es gibt ganz berühmte Tonaufnahmen von Albert Schweitzer, der Bach spielen konnte wie kein anderer.«
»Der Albert Schweitzer?«, fragte Jean ungläubig.
»Natürlich. Dr. Ludwig Philipp Albert Schweitzer.«
»Man nannte ihn auch den Urwaldarzt«, ergänzte Despina. »1952 erhielt er den Friedensnobelpreis. Aber er war nicht nur Arzt, sondern auch Organist. Seine Interpretationen der Musik Johann Sebastian Bachs gelten noch heute als stilbildend.«
»Was du schon wieder weißt.« Jean bedachte Despina mit einem Blick der sagte, dass sie es nicht übertreiben sollte. »Sag uns lieber, was du herausgefunden hast beziehungsweise, was du mit deiner Frage über den Glockenturm wolltest.«
»Auf dem Glockenturm muss irgendetwas passiert sein«, sagte sie und ersparte sich längere Erklärungen, die bei Pater Victor nur zu unnötigen Fragen geführt hätten. »Wir sollten dort nach Spuren suchen.«
»Aber wieso denn ausgerechnet auf dem Glockenturm?«, wollte der Priester wissen.
Jean lächelte den Mann an. »Zeigen Sie uns bitte den Weg dorthin?«
»Aber natürlich. Hier entlang, bitte.« Er ging voran, und während er sie zum Turmeingang führte, ließen Jean und Despina sich ein wenig zurückfallen.
»Diese Putzfrau wirkt nicht ganz sauber«, raunte Jean ihr zu.
»Der Tote auch nicht«, antwortete sie.
»Wieso?«
»Hält sich für Jesus und spinnt total. So ein Gespräch wie heute hatte ich noch nie.«
Jean runzelte die Stirn. »Und nach was suchen wir im Glockenturm?«
»Nach Spuren eines Kampfes oder etwas in der Art.«
»Okay«, sagte Jean und wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, als Pater Victor auch schon stehenblieb, da sie den Zugang zum Turm erreicht hatten.
»Der ursprüngliche Turm wurde 1650 durch eine Explosion zum Einsturz gebracht. Damals lagerte man große Mengen Schießpulver an diesem Ort. Im Jahre 1666 aber, gelang es keinem Geringeren als Samuel Pepys …«
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach Jean den Gottesmann. »Wir sind hier, um einen Mordfall aufzuklären. Die Geschichte ihrer Kirche ist zwar sehr interessant, aber Ihre Ausführungen halten uns letztlich nur von unserer Arbeit ab. Wenn Sie uns nun bitte entschuldigen würden?«
Der Unterkiefer Pater Victors war wortwörtlich heruntergeklappt, als Jean ihm ihre Meinung gegeigt hatte. Mit offenstehendem Mund sah er ihr zu, wie sie die Tür zum Glockenturm passierte.
Despina trat mit ihrem bezauberndsten Lächeln an den Priester heran und sagte: »Mich hätten Ihre Ausführungen über den großen Brand von London sehr interessiert. Aber vielleicht holen wir das tatsächlich besser ein andermal nach. Ich danke Ihnen dennoch.«
»Ja, aber …«
»Wir brauchen Sie hier nun nicht mehr. Im Turm suchen wir nur noch nach einigen Spuren, und danach verschwinden wir wieder. Sie sollten sich währenddessen Gedanken machen, wie Sie mit dem Leichnam verfahren wollen. Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie die Polizei holen wollen oder auf anderweitige Mittel zurückgreifen werden.«
»Welche denn? Ist dergleichen nicht in Ihrem Service inkludiert?«
»Tut mir leid. Die Bibliothek für okkulte Fälle ist rein auf die Ermittlungsarbeit spezialisiert. Aber ich kann Ihnen auch einen Kontakt vermitteln, falls Sie den Leichnam im wörtlichen Sinne beseitigen wollen, weise Sie aber darauf hin, dass dergleichen illegal ist und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.«
»Was empfehlen Sie mir?« Der Pater war jetzt sichtlich nervös.
»Ich empfehle immer die Polizei. Wir arbeiten in Teilen mit Scotland Yard zusammen.«
»Das heißt, ich kann denen auch mitteilen, dass ich Sie eingeschaltet habe?«
»Das sollten Sie sogar. Wir müssen ja ebenso unsere Berichte verfassen und die Arbeit dokumentieren, alleine für den Fall, dass wir etwas Brisantes herausfinden, über das die Behörden informiert werden müssen.«
»Ist das bei einer Leiche denn nicht der Fall?«
»Doch – jedoch haben wir ein besonderes Abkommen, in dem festgeschrieben steht, dass wir von dieser Mitteilungspflicht enthoben sind, sofern nicht Gefahr in Verzug ist. Das im Detail zu erklären, führt an dieser Stelle jedoch zu weit.« Sie wollte den Priester nicht darüber aufklären, dass sie mit den Toten sprechen konnte und sie tatsächlich vor vielen Jahren ein entsprechendes Abkommen mit der Leitung vom Yard unterzeichnet hatten, da man im Rahmen einer umfassenden Konferenz darin übereingekommen war, dass auch Verstorbene Anspruch auf eine gewisse Form der Diskretion haben. Despina war auch eine entschiedene Obduktionsgegnerin, obgleich sie wusste, dass diese mitunter sehr aufschlussreich sein konnten. In erster Linie aber bezeichnete sie sich als Sprecherin für die Toten, und mit der Verschwiegenheitsklausel hatte sie gegenüber den Behörden etwas erreicht, das in dieser Form einmalig war.
»Manchmal reicht es schon, mit der Meldung ein paar Tage zu warten«, sagte sie daher und dachte an den Wunsch des toten Jesu in der Krypta. »Vielleicht ist es ausreichend, ihn zunächst in einer Art Grabkammer aufzubahren.«
»In einer Grabkammer? In was für einer Grabkammer denn?«
Despina zuckte mit den Schultern und schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht. Hat man dergleichen nicht mit Jesus getan?«
»Nun, so einen Ort gibt es im Gewölbe der Kirche schon, aber …«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass das im Sinne des Kreuzigungsopfers wäre. Dort kann er natürlich nicht für immer bleiben. Maximal drei Tage.«
»Jesus lag auch nur drei Tage in der Grabkammer, bis er …«
»Na sehen Sie, das passt doch wunderbar«, ereiferte sich Despina, wünschte Pater Victor noch einen schönen Tag und folgte Jean in den Kirchturm.