Читать книгу Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer - Страница 4
2. Kapitel: Auf dem Pfad des Grafen
ОглавлениеEs war neun Uhr morgens, als es an der Tür klingelte. Zu diesem Zeitpunkt war Jane Willkins gerade erst vor zwei Stunden ins Bett gegangen. Natürlich hatte es nach der Verhaftung von Henry Fowler noch einige Arbeit auf dem Revier gegeben. Es geschah ja nicht jeden Tag, dass man einen gemeingefährlichen Serienmörder verhaften konnte.
Es klingelte erneut, diesmal länger. Den Unbekannten vor der Tür verfluchend rappelte sich Jane auf und zupfte ihr Nachthemd zurecht. Schlaftrunken wankte sie in Richtung Tür. Fest entschlossen, dem Störenfried eine ganze Reihe übler Beschimpfungen entgegenzuschleudern, nahm sie den Hörer von der Gegensprechanlage. »Ja?«
Jane wohnte im vierten Stock eines für Ealing typischen großen Wohnblocks. Sie würde also noch etwas Zeit haben, richtig wach zu werden, bis ihr Besucher den Weg von der Haustür bis hier herauf hinter sich gebracht hätte.
»Ich stehe schon vor der Tür, Willkins«, drang ein paar Meter weiter die Stimme des unerwünschten Besuchers gedämpft durch die Wohnungstür.
Jane verdrehte die Augen. Veyron Swift, wer sonst? Murrend machte sie auf und funkelte Veyron übellaunig an. »Es ist Samstagmorgen, verdammt!«
»Der fünfzehnte März, um genau zu sein. Morgen Nacht ist Vollmond«, erwiderte er mit einem Unschuldsblick, der seinesgleichen suchte.
»Nett, dass Sie mich daran erinnern«, gab sie bissig zurück. »Genau deswegen hatte ich nur sehr wenig Schlaf. Ich kann mich nämlich nicht einfach so wie Sie verdrücken, wenn ein Täter geschnappt wurde.«
»Hatten Sie nicht einmal erwähnt, Sie wären eher der nachtaktive Mensch?«, fragte er mit gespielter Verwunderung.
Jane schüttelte grummelnd den Kopf. »Kann schon sein. Bei Ihnen muss man aufpassen, was man sagt. Sie vergessen ja nie etwas, nicht einmal die geringste Kleinigkeit. Also, was wollen Sie?«
»Das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen. Es ist nur … nun, wie sage ich das am besten …«, raunte er und blickte an die Decke, als stünde dort die Antwort.
Das brachte Jane zum Schmunzeln, weil sie ihn ja inzwischen recht gut kannte. Mit dem Zwischenmenschlichen, da hatte es Veyron nicht so. Anfangs hatte sie ihn überhaupt nicht ausstehen können. Seine überhebliche Art, diese ständige Rechthaberei und obendrein die unsensible Weise, mit anderen Menschen umzugehen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er bei einem ihrer ersten gemeinsamen Fälle eine Haushälterin wegen ›offenkundiger Unfähigkeit‹ niedergemacht hatte. Woher sollte die Dame denn aber wissen, wie man mit einer Horde diebischer Kobolde umzugehen hatte? Veyron zeigte nur wenig Verständnis für die Schwächen anderer Menschen; entsprechend hilflos war er, wenn er selbst eine Schwäche eingestehen musste. So wie jetzt. Normalerweise verbarg er so etwas, seit ihrem Krankenhausaufenthalt letztes Jahr arbeitete er jedoch an seinem Verhalten.
Tom hatte ihr erzählt, dass sich Veyron selbst die Schuld an ihrer Verwundung gab. Seitdem zeigte er sich viel freundlicher als früher. Für Gemeinheiten entschuldigte er sich meistens sofort – oder er verkniff sie sich gleich ganz. Nicht selten lud er sie nach einem überstandenen Fall auf einen Kaffee oder zum Essen ein. Ja, sie musste ehrlich zugeben, dass sich Veyron Swift gebessert hatte.
»Ach, vergessen Sie es«, meinte sie und winkte ab. »Kommen Sie erst mal rein. Kaffee?«
Veyron zuckte mit den Schultern. »Wenn es Ihnen keine Umstände bereitet, gerne.«
»Kein Problem. Den Weg zur Küche kennen Sie noch?«
Veyron erwiderte ihr schelmisches Lächeln mit einem kurzen Zucken der Mundwinkel, dann trat er in die Wohnung und steuerte auf die Küche zu. Bevor sie die Tür schloss, bemerkte Jane den großen, vollgepackten Rucksack, den Veyron auf dem Flur abgestellt hatte. Aha, dachte sie. Er will mal wieder verreisen.
Sie folgte ihm in die Küche, reichte ihm Zuckerdose und Löffel, holte schnell noch die Milch aus dem Kühlschrank und zwei Tassen aus dem Schrank. Er sagte kein Wort, während sie ihren Kaffeeautomaten einschaltete.
»Haben Sie sich schon entschieden, ob Sie nun gegen Ihr schlechtes Gewissen antreten werden, oder schieben Sie die Sache weiter vor sich her?«, fragte er sie nach einer Weile durch das Zischen und Blubbern, mit dem der Automat derweil seine Arbeit tat.
Verwirrt drehte sie sich zu ihm um. »Was meinen Sie denn damit schon wieder?«
»Ich beziehe mich auf Ihre Diätpläne, Willkins – nicht dass Sie so was wirklich brauchen würden; ganz im Gegenteil. Doch es war ein zweifellos lieb gemeinter Rat Ihrer Freundin, obwohl Sie Weihnachten noch beschlossen, ihn zu ignorieren. Jetzt ziehen Sie diese Sache offensichtlich in Erwägung, haben aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen.«
Ein wenig eingeschnappt und zugleich fassungslos, wie er das schon wieder wissen konnte, stellte sie ihm die Tasse etwas fester als üblich vor die Nase. Der Kaffee schwappte beinahe über. »Okay«, schnaubte sie. »Wer hat Ihnen das gesagt, oder spionieren Sie mir jetzt auch schon hinterher?«
Veyron lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, um Gottes willen, nein. Auf der Anrichte liegt ein Diätratgeber, funkelnagelneu. Vegetarisches Gleichgewicht. Werden Sie ein Kilo pro Woche los. Ich sehe außerdem in Ihrem Papierkorb noch die Schachtel, in der das Buch eingepackt war. Die Größe ist übereinstimmend. Zudem vermag ich am Pappkarton noch einen Streifen Tesafilm auszumachen, an dem ein Rest von Geschenkverpackung klebt. Silberne Schneeflocken auf rotem Papier. Zweifellos ein Weihnachtsgeschenk.«
»Okay«, räumte sie ein. »So weit stimmt es schon mal, was Sie sagen.«
Veyrons Lächeln wuchs noch einmal in die Breite. »Wer würde Ihnen wohl ein solch unsensibles Geschenk machen? Ihre Geschwister? Kaum, und sicherlich nicht Ihre Eltern. Auch ein Verehrer würde seiner großen Liebe unter gar keinen Umständen ein Buch zum Abnehmen schenken. Die höchste Plausibilität hat daher eine Freundin, mit der Sie vertraulich über dieses Thema sprachen. In ihrer freundschaftlichen Naivität war die Gute wohl der Meinung, Ihnen einen Gefallen zu tun. Sie haben das Geschenk jedoch seit Weihnachten nicht weiter angerührt, weil Sie sich ein wenig beleidigt fühlten. Wie auch immer: In den vergangenen Wochen kamen Sie auf die Idee, eine Diät in Erwägung zu ziehen, und haben das Machwerk schließlich ausgepackt. Das liegt jetzt ein paar Tage zurück, denn die Schachtel im Papierkorb liegt unter zahlreichen zerrissenen Briefumschlägen mit verschiedener Datierung. Vorhin konnte ich zudem einen kurzen Blick in Ihren Kühlschrank erhaschen. Sein Inhalt verrät mir eine alles andere als vegetarische, ausgewogene Ernährung. Folglich haben Sie die Ratschläge in diesem Buch noch nicht umgesetzt. Aber Sie überlegen noch, ansonsten wäre dieses Buch entweder ebenfalls in den Papierkorb gewandert oder hinauf ins Regal – und nicht mitten auf die Anrichte.«
Jane musste tief durchatmen. »Vor Ihnen ist doch wirklich nichts sicher. Nicht mal seinen Müll kann man in Ruhe liegen lassen«, warf sie ihm vor.
Beiläufig zuckte er mit den Schultern. »Ich beobachte nur, Willkins und ziehe aus dem Gesehenen meine Schlüsse. Nehmen Sie es nicht persönlich.«
Sie nickte und beschloss, endlich das Thema zu wechseln. Veyron Swift tauchte bestimmt nicht vor ihrer Tür auf, um über Diäten oder unsensible Freundinnen zu fachsimpeln. »Also, wie kann ich Ihnen helfen? Sind Sie schon wieder an einem neuen Fall dran?«, fragte sie ihn schließlich.
»Sozusagen. Ich fürchte, ich muss Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, Willkins. Wenn Sie sich also rasch was anziehen und zusammenpacken könnten … Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen. Spätestens bis Mittag sollten wir in Dover sein.«
Jane zuckte kurz zusammen. »Was wollen Tom und Sie denn in Dover? Geht es um das Schwarze Manifest?«
»Nein, nicht Tom und ich, sondern Sie und ich, Willkins. Nur wir beide. Tom ist diesmal nicht dabei«, erwiderte er, jetzt schon wieder viel kälter und distanzierter als noch vor einem Moment.
»Aha. Streit mit Tom?«
»Lediglich eine Meinungsverschiedenheit. Es ist besser, wenn er diesmal zu Hause bleibt. Ich kann ihn ja nicht ständig aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen, wenn es einen Fall zu lösen gibt«, sagte er.
Jane nickte. Wie oft sie das Veyron schon gepredigt hatte. Offenbar fing er jetzt endlich an, ihre Ratschläge zu beherzigen. Eine weitere große Verbesserung. »Endlich nehmen Sie Vernunft an. Okay, wie lange werden wir weg sein?«
»Schwer zu sagen. Wir fahren nach Dover, von dort geht es sehr wahrscheinlich nach Elderwelt. Eventuell ein paar Wochen, vielleicht auch ein paar Monate – aber das ist jetzt eine sehr pessimistische Einschätzung«, erklärte er.
Sie japste, als sie das hörte. Ein paar Wochen? War er denn total übergeschnappt? »Veyron, das geht nicht …«, begann sie und suchte nach den richtigen Worten, um es ihm schonend beizubringen. Ehe sie jedoch etwas sagen konnte, hob er beruhigend die Hände.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Urlaubsantrag lautet auf unbestimmte Zeit und liegt bereits auf Inspektor Gregsons Tisch, genehmigt von Commissioner Hopkins.«
»Was?«, stieß sie ungläubig hervor. Ihre Gedanken rasten wild hin und her, verzweifelt bemüht, irgendeine Ordnung zu finden. Was hatte Veyron da nun wieder angerichtet? »Haben Sie meine Unterschrift gefälscht? Das fällt Gregson doch sofort auf!«
»Nein, das habe ich selbstverständlich nicht getan. Der Antrag ist maschinell ausgefüllt«, rechtfertigte er sich ein wenig fahrig und pikiert, als hätte sie ihm unterstellt, ein Einfaltspinsel zu sein.
Jane atmete erleichtert aus.
»Ich musste lediglich die Unterschrift des Commissioners fälschen«, sagte Veyron schließlich.
Instinktiv schlug Jane die Hände vors Gesicht. »Veyron …«
»Keine Sorge, ich habe zwei Stunden damit verbracht, sie zu üben. Es hat mich einige Dutzend Versuche gekostet, aber das Ergebnis ist perfekt, und …«
»Veyron!«, unterbrach sie ihn.
»Sie haben recht. Es tut mir leid. Natürlich hätte ich Sie vorher einweihen müssen. Aber ich hatte einige Vorbereitungen zu treffen, viele davon simultan. Es blieb keine Zeit mehr, um …«
Abermals schnitt sie ihm mit einem »Veyron!« das Wort ab; diesmal sehr viel lauter.
Aufmerksam blickten seine großen, eisblauen Augen sie an. Mit den hochgezogenen Augenbrauen und dem zusammengekniffenen Mund wirkte er wie ein übergroßer Spitzbub, den man gerade bei einem Streich erwischt hatte.
»Das geht nicht, was Sie da machen. Sie könne mich nicht einfach so entführen, okay? Im Gegensatz zu Ihnen führe ich ein geregeltes Leben. Ich kann mich nicht einfach in ein Abenteuer stürzen.«
Veyron zuckte zurück, vollkommenes Unverständnis auf seinem hageren Gesicht. »Ich führe ebenfalls ein sehr geregeltes Leben, Willkins, sehr viel geplanter und geregelter als das Ihre oder das von Inspektor Gregson. Bitte vertrauen Sie mir. Ich würde Sie nicht um Hilfe bitten, wenn es nicht notwendig wäre. Doch ich brauche einen Assistenten, und ich wüsste niemanden, der dafür besser geeignet wäre als Sie.« Er atmete einmal tief durch und schloss kurz die Augen.
Ein Moment verging.
»Ich brauche Sie, Jane«, sagte er.
Unentschlossen rang sie ihre Finger. Jane, hatte er gesagt. Das tat Veyron nur, wenn er es absolut ehrlich meinte. Er wurde sonst nie persönlich. Also nach Elderwelt, dachte sie. Einmal war sie schon dort gewesen und hatte einige Abenteuer erlebt. Trotz zahlreicher misslicher Lagen, in die sie geraten waren, hatte sie es eigentlich recht genossen. Sollte sie sich diese Chance entgehen lassen, dieses magische Reich erneut aufzusuchen?
»Also gut. Was soll ich einpacken?«, fragte sie.
Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs. Jane wollte zunächst ihren Wagen nehmen, doch Veyron bestand darauf, mit dem Zug zu fahren, weil das schneller ginge. Also fuhren sie zum Bahnhof St Pancras International. An den ziegelroten, kathedralgleichen Bau des alten, viktorianischen Bahnhofsgebäudes schloss im Osten ein moderner Gebäudekomplex aus Stahl und Glas an, und diese Mischung aus Alt und Neu erinnerte Jane unweigerlich ein wenig an das, was vor ihnen lag. In Kürze würden sie die moderne Welt verlassen und in die archaische, von Magie beherrschte Elderwelt übertreten.
Mit dem Zug ging es ohne Halt nach Dover, und während der Fahrt zeigte sich Veyron recht verschwiegen. Die ganze Zeit über schaute er nur aus dem Fenster ihrer Reisekabine, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet.
»Was ist eigentlich aus dem Schwarzen Manifest geworden? Konnten Sie da schon was rausfinden? Das war ja ein echt gruseliges Buch«, versuchte sie, ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Es gab nicht viel, mit dem man Veyron begeistern konnte, aber für außerweltliche Themen war er eigentlich immer zu haben.
»Nein, bedauerlicherweise konnte ich dafür noch keine Zeit erübrigen. Nach meiner Rückkehr plane ich allerdings einen Besuch bei Mr. Albert Tommerberry«, sagte er, ohne sie dabei anzusehen.
»Dieser Buchhändler, der seinen Tod fingiert hatte? Der sitzt doch im Gefängnis«, meinte sie überrascht.
»Ihr Gedächtnis funktioniert, Willkins. Sie selbst waren dabei, als es damals zur Verhaftung kam«, erwiderte er kalt.
Jane ballte kurz die Fäuste. Da war er wieder, der gefühllose, stoische, gemeine Veyron Swift. Dann eben nicht, dachte sie beleidigt und tat es ihm gleich, sinnlos aus dem Fenster zu starren. Ein paar Minuten später verschwamm die vorbeihuschende Landschaft vor ihren Augen, ihre Lider fielen zu, doch gerade, als sie so richtig in die Tiefschlafphase versank, weckte sie Veyron auch schon wieder auf.
»Wir sind da.«
Mit ihren Rucksäcken (ihrer war viel üppiger bepackt als jener Veyrons) verließen sie den Zug und machten sich auf die Suche nach den Lkw-Parkplätzen. Veyron nutzte die Zeit, um sie über die letzten Ereignisse in der Wisteria Road aufzuklären.
»Ich konnte im Dienstwagen der beiden Polizisten, die meine Klientin in die Wisteria Road brachten, ein rumänisches Wörterbuch auf dem Armaturenbrett erkennen; aufgeschlagen. Daher scheint es mir schlüssig, anzunehmen, dass sie damit beschäftigt waren, mit einem rumänischen Fahrer ins Gespräch zu kommen, als sie von meiner Klientin übernommen wurden«, erklärte er ihr, während sie auf den riesigen Parkplätzen die Lastwagen abklapperten.
»Übernommen? Sie meinen im Sinn von Kontrolle?«, hakte sie nach.
Veyron bestätigte das kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf die Nummernschilder der Trucks.
Schließlich fanden sie fünf Lastzüge aus Rumänien, die laut Logo und Aufschrift einer Spedition mit den Namen Demeter Transports gehörten. Die Fahrer standen in einer kleinen Gruppe beisammen. Jane bemerkte jedoch, dass sie kein einziges Wort sprachen. Die fünf Männer standen einfach nur da, starrten sich an und regten keinen Muskel. Ihre Augen wirkten trübe, als stünden sie unter Drogen. In der Nähe parkte ein Polizeiwagen, doch die beiden Constables im Inneren zeigten am Geschehen keinerlei Interesse. Auch sie schienen nur in eine einzige Richtung zu starren. Trotz der hellen Mittagssonne kam Jane das alles sehr gespenstisch vor.
»Mit denen stimmt etwas nicht«, raunte sie Veyron zu, der kurz die Augen zusammenkniff.
»Mit meinen Männern ist alles in Ordnung«, erklang hinter ihnen eine weibliche Stimme.
Veyron und Jane drehten sich um, wobei Veyron ein kurzes Lachen ausstieß. »Interessant«, sagte er.
Jane wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Vor ihnen stand eine junge Frau, allerhöchstens Mitte zwanzig, hochgewachsen und gertenschlank. Die perfekte Modelfigur, dachte Jane mit einem Anflug von Neid. Sie war zwar ebenfalls schlank, aber ein paar Kilo könnten ruhig noch runter – wie bereits ihre charmante Freundin angemerkt hatte.
Die junge Frau entblößte ihre Zähne zu einem wölfischen Grinsen, während sie ihnen entgegenkam. Jane fand, dass es für das enge Tanktop und die knappe schwarze Lederjacke der Lady noch etwas zu frisch war, sie hatten immerhin erst Mitte März. Offenbar gab sich die Dame hart im Nehmen. Und streng schien sie auch zu sein, zumindest erweckte das blonde – beinahe schon weiße –, zu einem Zopf geflochtene Haar diesen Eindruck. Verunsichert fuhr sich Jane mit den Fingern durch ihr eigenes dunkles, offen herabhängendes Haar. Irgendwie schien die Fremde optisch das genaue Gegenteil von ihr zu sein.
»Hervorragend«, sagte die Frau und schnippte mit den Fingern.
Vor Janes Augen wurden die Fahrer plötzlich lebendig, traten auseinander und eilten zu den Führerhäusern ihrer Trucks.
»Ihr habt Euch also entschlossen, meinen Auftrag anzunehmen. Sehr gut. Hier«, sagte sie an Veyron gewandt und zog zwei Tickets hinter ihrem Rücken hervor. »Boardingpässe für die Fähre. Die Whitby 2. Ich sehe, Ihr habt Euren vorlauten Bengel zurückgelassen und gegen eine weibliche Begleitung eingetauscht? Mir soll es recht sein.«
Sie berührte das eine Ticket mit ihren Lippen wie zu einem kurzen Kuss. Jane weitete überrascht ihre Augen. Eben hatte noch Thomas Packard als Name darauf gestanden, der nun spurlos verschwunden war. Sie muss eine Hexe sein, dachte Jane und spürte, wie sie sich auf einmal erheblich unbehaglicher fühlte.
»Jane Willkins«, sagte Veyron beiläufig.
Die junge Hexe schüttelte das Ticket und reichte es Jane. Tatsächlich: Jetzt stand ihr Name darauf. Etwas ratlos blickte sie zu Veyron.
»Ich habe das Gefühl, Sie müssen mir noch ein paar Sachen erklären«, flüsterte sie ihm zu.
Veyron schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, dann wandte er sich wieder der Hexe zu. »Bei unserer letzten Begegnung habt Ihr ein anderes Outfit getragen, Mylady. Ich nehme an, diese Tarnung ist eine Projektion in unseren Gedanken und nicht Euer tatsächliches Erscheinungsbild?«
Die Hexe lächelte selbstgefällig. »Zutreffend erkannt, Meister Swift. Aber bitte, nennt mich Jenna Davis, solange wir uns in Eurer Welt aufhalten. Wir müssen los. In Calais sehen wir uns wieder, danach fahren wir weiter nach Rumänien.«
»Sie gehen gar nicht mit an Bord?«, fragte Jane misstrauisch.
Jenna Davis lachte kurz auf. »Doch, aber als Frachtgut. So ist es sicherer, falls sich Spione des Dunklen Meisters an Bord der Fähre aufhalten«, sagte sie und stieg ins Führerhaus eines der Lastwagen.
Veyron nahm Jane am Arm und führte sie von den Lastwagen fort. Wütend patschte sie ihm auf die Finger.
»Sie hätten mir sagen sollen, dass wir es mit einer Hexe und dem Dunklen Meister als Gegenspieler zu tun haben. Wenn wir an Bord sind, will ich die ganze Geschichte hören, sonst setzen Sie den weiteren Weg allein fort«, zischte sie ihm missmutig zu.
Veyron deutete ein kurzes Salutieren an. »Wie Sie wünschen, General Willkins.«
Eine Stunde später legte die Fähre ab, und die Fahrt ging über den Ärmelkanal nach Europa. Calais erwartete sie.
Zunächst genehmigte sich Jane ein ausgiebiges Mittagessen im Bordrestaurant, während ihr Veyron endlich von seiner neuen Klientin erzählte. In Elderwelt werde sie »Seelenkönigin« genannt und sei die Herrscherin eines kleinen Landes. Einst eine Anhängerin des Dunklen Meisters, wolle sie nun nichts mehr mit diesem Unhold zu schaffen haben. Deswegen plane der Dunkle Meister ihre Ermordung auf einer internationalen Konferenz, welche von den Simanui einberufen worden sei. Veyrons Auftrag sei es, den Attentäter des Dunklen Meisters unter dem Gefolge der Könige und Regenten Elderwelts aufzuspüren.
»Kein Wunder, dass Tom da nicht mitmachen wollte«, meinte Jane, nachdem Veyron mit seinen Erklärungen fertig war. »Welcher normale Mensch würde denn schon gern im Dienste einer Hexe stehen, die früher obendrein für den Dunklen Meister gearbeitet hat.«
Veyron nickte bestätigend. »Tom ist ein junger Idealist, der felsenfest daran glaubt, dass Gut und Böse streng voneinander getrennt sind. Sicher ist das in seinem Alter normal. Waren wir nicht alle ausgesprochen idealistisch in unserer Jugend?«, erwiderte er mit einem Seufzen.
Jane musste lachen. »Es ist besser, wenn Sie nicht wissen, was ich in meiner Jugend angestellt hab. Mit Idealismus hatte das ganz sicher nichts zu tun«, sagte sie und stieß ein amüsiertes Lachen aus, als sie seinen verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte. Anschließend fragte sie ihn, was sie wohl diesmal in Elderwelt erwarten würde, aber Veyron wusste darauf keine Antworten.
Nach dem Mittagessen spürte Jane, wie sie ein wenig seekrank wurde. Bevor die Übelkeit ein unerträgliches Maß erreichte, suchte sie den Ruhebereich des Schiffs auf und legte sich hin. Die aufregende Nacht rund um die Verhaftung Henry Fowlers und der Schlafmangel setzten ihr schwer zu, und es stand nicht zu erwarten, dass die nächste Zeit weniger aufreibend werden würde. Deshalb sollte sie jede Gelegenheit nutzen, um ein wenig abzuschalten. Veyron hatte die Reise nach Rumänien mit rund zwanzig Stunden veranschlagt. Ausreichend Zeit also, um sich zu erholen.
Ein Steward weckte sie nach der Ankunft in Calais. Zusammen mit Veyron verließ sie das Schiff und spazierte eine Weile über die weitläufige Hafenanlage. »Hier im Hafen gibt’s nur jede Menge Beton, Teer und Stahl. Ich würde mir gern das Stadtleben ansehen, wenn ich schon mal in Frankreich bin.«
Veyron hob interessiert die Augenbrauen, als er das hörte. »Sie waren noch nie in Frankreich?«
»Nein. Im Urlaub zieht es mich eher an die Strände weiter südlich. Spanien, Mexiko, Ägypten, Mallorca … wo man halt Spaß haben kann«, antwortete sie. Innerlich biss sie sich sogleich auf die Zunge, als sie einen Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht auszumachen glaubte. Kurz darauf wirkte er jedoch wieder so neutral und beherrscht wie eh und je.
»Natürlich. Ich vergaß, dass Sie ja in Kürze erst zwanzig werden«, meinte er mit einem frechen Lächeln.
Jane spürte Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen. Möglichst gelassen sagte sie: »Schön wär’s. Aber ich hab mich gut gehalten für fast zweiunddreißig, oder?«
»Ach, sind Sie doch schon so alt?«
»Sie sind ein Arsch!«
»Ist mir immer wieder ein Vergnügen, liebe Willkins.«
Am liebsten wollte sie ihm noch eine Reihe weiterer Beleidigungen an den Kopf schmeißen. Da war sie wieder, seine fiese Art. Die ganzen Besserungen seines Charakters schienen mit einem Mal wie weggeblasen.
Plötzlich blieb ein rumänischer Truck neben ihnen stehen. Die Beifahrertür schwang auf, und Miss Davis lächelte ihnen beiden kokett zu. »Wie ein altes Ehepaar, entzückend. Steigt ein, es geht sofort weiter«, sagte sie.
Eine unsichtbare Hand schien Jane an den Schultern zu packen und förmlich in das Innere des Trucks zu ziehen. Entsetzt starrte sie Miss Davis an, die ein wahrhaft teuflisches Grinsen aufgesetzt hatte. Janes Augen weiteten sich noch mehr. Waren das etwa Fangzähne, die ihr da entgegenblitzten? Hinter ihr stieg Veyron ein und schloss die Tür.
»Die anderen Lastwagen nehmen unterschiedliche Routen zum Ziel, nehme ich an?«, fragte er.
Miss Davis nickte. »Eine Vorsichtsmaßnahme, um die Spione des Dunklen Meisters zu täuschen. Sie werden sich aufteilen müssen, um uns alle zu verfolgen, und nicht jeder der Trucks fährt nach Rumänien«, erklärte sie. Dann schnippte sie mit den Fingern, und der Kerl am Steuer, ein kräftig gebauter junger Mann, legte den Gang ein und fuhr los.
»Das ist Radu, der zuverlässigste meiner Fahrer«, stellte Miss Davis ihn vor. Sie berührte ihn an den Schultern und schmiegte sich in fast schon zutraulicher Art und Weise an ihn. Radu schien es nicht zu bemerken, sondern starrte nur geradeaus. Er zuckte nicht einmal zusammen, als die Rechte von Miss Davis unter sein Hemd glitt. »Er ist ausnahmslos treu und besitzt noch weitere entzückende Qualitäten«, meinte sie, schnurrend wie eine Katze.
Janes rechte Augenbraue zuckte skeptisch. Mit einem vorwurfsvollen Blick wandte sie sich an Veyron. »Aha«, knurrte sie. Offenbar verschwieg er ihr weiterhin einiges, nicht nur Kleinigkeiten.
Veyron zuckte jedoch in ahnungsloser Geste die Schultern. »Vielleicht können Sie sich Radu ja mal ausleihen, falls Sie ebenfalls gewisse Bedürfnisse entwickeln«, flachste er.
Jane stieß ihm grob den Ellenbogen in die Seite, was Veyron jedoch nur kurz auflachen ließ.
Von Calais ging es über die Grenze und quer durch Belgien, danach durch Deutschland. Um kurz nach acht Uhr abends machten sie in Frankfurt bei einem Schnellrestaurant halt, wo Jane auf die Toilette musste und Miss Davis für Radu ein Getränk und einen Burger organisierte. Veyron verzichtete aufs Essen. Als alle wieder eingestiegen waren, ging die Fahrt weiter. Irgendwann schlief Jane ein, wobei ihr nichts anderes übrig blieb, als sich an Veyron anzulehnen. Anstatt sich zu wehren, versuchte er sogar, es ihr so bequem wie möglich zu machen. Als sie viele Stunden später wieder aufwachte, waren sie gerade auf einen Rastplatz gerollt. Jane blinzelte gegen das noch junge Morgenlicht und rieb sich die Augen.
»Wie spät ist es?«
»Fünf Uhr. Guten Morgen, Willkins. Budapest liegt bereits hinter uns, falls Sie es wissen wollen«, sagte Veyron.
Jane reckte sich ein wenig, nur um festzustellen, dass alles schmerzte. Sie musste total verspannt sein. »Wo sind Radu und Miss Davis?«, fragte sie müde.
»Es ist wohl gescheiter, wenn Sie das nicht wissen. Sie gönnt dem armen Mann keine Pause. Zum Glück ist er in bester körperlicher Verfassung. Ich meine natürlich Ruhepausen und Zeit zum Schlafen, nicht das, was Ihnen jetzt in den Sinn kommen mag. Wir sind die ganze Nacht durchgefahren«, erklärte er.
Jane sah sich um, dann entschuldigte sie sich schnell. Auch sie drückten nun gewisse Bedürfnisse. Sie sprang aus dem Lastwagen und ließ Veyron allein. Als sie wenige Minuten später zurückkehrte, sah sie Radu und Miss Davis, die über alle Maßen fröhlich wirkte, aus einer anderen Richtung auf den Truck zuschlendern. Der arme Fahrer dagegen sah aus wie ein Häuflein Elend. Den Blick starr geradeaus gerichtet, wirkte er jedoch seltsamerweise noch immer würdevoll.
Vielleicht hatte Tom recht, als er es ablehnte, mit auf diese Reise zu gehen. Diese Miss Davis ist ja schlimmer als ein Folterknecht, dachte Jane. Kommentarlos stieg sie ein, nur um festzustellen, dass Veyron eingeschlafen war. Wie harmlos und friedlich er aussah, ganz entspannt und überhaupt nicht konzentriert. Die Fahrt ging weiter.
Sie passierten die Grenze nach Rumänien, und um Punkt zwölf erreichten sie das Gebiet Siebenbürgen, das tiefste Herz Rumäniens. Jane war von der Schönheit der friedlichen Landschaft recht angetan. Grüne Hügel, die sich wie sanfte Wellen aneinanderreihten, unterbrochen von blau glitzernden Flüssen, die sich durch die Täler schlängelten und die weiten, dunklen Fichtenwälder teilten. Dahinter hoben sich die Karpaten gegen den blauen Himmel ab, majestätisch und mit glitzernden Kronen aus Eis und Schnee. Die Straße folgte dem ungefähren Lauf des Flusses Bistrita, und so kamen sie schließlich in die Stadt Bistritz, von der Jane überrascht war, wie normal und vertraut sie doch wirkte. Alte Gebäude vorangegangener Jahrhunderte standen hier neben Wohnhäusern, wie man sie überall in Europa finden konnte. Manchmal, wenn sie die hohen Wände mit ihren glatten Fassaden und den großzügigen Fenstern betrachtete, war sie sich sogar nicht einmal sicher, ob sie sich nicht doch noch in Frankreich oder Deutschland befanden.
»Gut, hier machen wir Rast. Das Hotel ›Goldene Krone‹ sollte Euch die notwendigen Annehmlichkeiten bieten. Anschließend nehmen wir die Straße zum Tihuta-Pass, unserem Ziel«, entschied Miss Davis. Sie berührte Radu am Arm. Zum allerersten Mal drehte ihr stummer Fahrer den Kopf und schaute seine Gebieterin an.
»Auch du darfst rasten und dich stärken. In einer Stunde geht es weiter«, sagte sie.
Radu nickte gehorsam, dann parkte er den Lastwagen und stieg aus. Jane, Veyron und Miss Davis folgten ihm.
Im Hotel angekommen verschwand Veyrons attraktive Klientin auf einem Zimmer. Veyron und Jane besuchten derweil das Restaurant und bestellten sich ein kräftiges Mittagessen.
»Wie viele Touristen es hier gibt«, bemerkte sie beeindruckt und nickte in Richtung einer Gruppe junger Leute, die eifrig ein Selfie nach dem anderen machten. Sie entdeckte noch weitere Reisegruppen, darunter auch einige Goths mit blass geschminkten Gesichtern und dunklen, aber aufwendig gestalteten Gewändern. Allen Leuten gemein war die sichtliche Begeisterung.
»Ist Ihnen bewusst, wo wir uns befinden?«, fragte Veyron sie einen Moment später.
»Irgendwo in Rumänien«, antwortete sie und schämte sich sofort. Mit Veyrons universellem Wissensschatz konnte sie nicht mithalten. Sie musste zugeben, dass sie von der Welt außerhalb Englands herzlich wenig wusste. Gewiss hielt er sie jetzt für eine ungebildete, oberflächliche Person – dabei war Jane durchaus wissbegierig, nur hatte sie sich noch nie so recht mit Geografie und Geschichte beschäftigt. Ich muss das ändern, nahm sie sich vor.
»Wir sind mitten in Siebenbürgen, das auch als Transsylvanien bekannt ist, der Heimat von Graf Dracula. Bistritz war in jenem Roman der Ausgangspunkt des Abenteuers. Unser Zielort, der Tihuta-Pass, ist auch als der Borgo-Pass bekannt, wo sich dem Roman nach das Schloss Draculas befand. Wir wandeln sozusagen auf den Spuren des Vampirfürsten – genau wie diese ganzen neugierigen Touristen«, erklärte er.
Jane schluckte. »Sorry, das wusste ich nicht.«
»Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen, Willkins. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was wohl die Motivation Bram Stokers gewesen sein mag, die Handlung nach Transsylvanien zu verlegen. Der echte Graf Dracula, also der Fürst Vlad III. Drăculea, genannt ›der Pfähler‹, herrschte über die Walachei im Süden Rumäniens. Zweifellos war Stoker dieser Fakt bekannt. Dennoch machte er die Kunstfigur Dracula zu einem Tyrannen Transsylvaniens.« Nachdenklich rieb Veyron das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wenn wir davon ausgehen, dass sich irgendwo am Tihuta-Pass ein Durchgang nach Elderwelt befindet, unbewacht vom Zaubererorden der Simanui und unter Kontrolle der Seelenkönigin, könnte es sein, dass so mancher Spuk von dort in unsere Welt kam. Dieser Besuch mag sich in Form von Legenden und Mythen über die Jahrhunderte erhalten haben. Vielleicht war es das, was Stoker so sehr an Transsylvanien reizte«, mutmaßte er.
Diese düsteren Enthüllungen beschäftigten Jane noch eine ganze Weile. Mehr und mehr war sie davon überzeugt, dass Tom recht daran getan hatte, sich diesem Abenteuer zu verweigern. Doch sie würde jetzt nicht kneifen und umkehren. So verrückt Veyron auch sein mochte und so gefährlich seine Unternehmungen, so wusste er doch eigentlich stets, worauf er sich einließ.
Wenig später kehrte Miss Davis mit einem sichtlich gestärkten Radu zurück. »Es geht weiter«, ließ sie Veyron und Jane wissen.
Sie zahlten die Rechnung und gingen ihrer Auftraggeberin nach draußen hinterher.
Mit dem Truck folgten sie eine gute Stunde lang der Straße. Bald ließen sie die Stadt und einige angrenzende Ortschaften hinter sich. Wenn ihnen jetzt noch ein wenig Zivilisation begegnete, dann in Form vereinzelter Bauernhäuser oder entgegenkommender Fahrzeuge. Jane fielen einige Viehweiden zwischen der Straße und den endlos erscheinenden Wäldern auf. Ebenso die Heuhaufen in der hierzulande typischen Form aufrechter Tannenzapfen. Schließlich hielt Radu auf einem gekiesten Rastplatz, wo er den Motor abschaltete.
»Wir sind da«, sagte Miss Davis vergnügt, als sie die Tür öffnete.
Veyron und Jane schulterten ihre Rucksäcke und folgten der jungen Frau hinaus ins Grüne. Radu blieb regungslos hinter dem Steuer sitzen.
»Was passiert jetzt mit ihm?«, fragte Jane die Hexe, nachdem sie sich schon einige Meter von der Straße entfernt hatten.
»Ich werde ihn freigeben, sobald wir diese Welt verlassen haben. Er wird sich an nichts mehr erinnern«, erklärte sie kalt.
Jane schüttelte den Kopf. »Können Sie ihm nicht eine schöne Erinnerung geben oder irgendetwas anderes, damit er sich nicht wie ein Geisteskranker vorkommt, wenn er wieder er selbst ist?«
Miss Davis verzog verständnislos das Gesicht. »Wozu sollte das gut sein? Er ist ein Sklave wie jeder andere auch. Was interessiert mich sein Wohlbefinden, wenn ich keine Verwendung mehr für ihn habe? Er soll froh sein, dass ich ihn nicht töte.«
Jane sagte darauf nichts mehr. Tom hatte absolut recht, dachte sie finster. Sie fragte sich, welcher Teufel Veyron nur geritten hatte, einen Auftrag von so einer herzlosen Person anzunehmen.
Der Marsch führte sie in den Wald, dann über einen Bach und weiter nach Norden den mächtigen Karpaten entgegen. Immer steiler ging es bergauf, schon bald war von der Straße nichts mehr zu sehen. Der Wald wurde dichter und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Erst am späten Nachmittag kamen sie wieder aus dem Halbdunkel heraus und wanderten über eine große Schafsweide, die nur von einem einzelnen Feldweg durchschnitten wurde. Die blökenden Tiere befanden sich ganz in der Nähe, hinter einem Holzgatter eingesperrt. Jane bemerkte auf der Weide erneut die großen Heuhaufen, die man kunstfertig in die Form von Zapfen gebracht hatte.
»So sollte man das überall machen. Das sieht schön aus«, meinte sie, doch weder Miss Davis noch Veyron antworteten darauf. Plötzlich vernahm sie Motorengeräusche. Ein einsamer Land Rover zuckelte über den Feldweg heran, ein altes, rostiges Fahrzeug mit einer großen Pritsche, vollgestellt mit Käfigen. Jane zählte sieben Stück, und in jedem befand sich ein schwarzer Hund, wohl eine Art Schäferhund. Die Tiere wirkten ausgemergelt und ihr Fell zottig.
»Das ist die reinste Tierquälerei«, beschwerte sie sich, je näher der Land Rover kam. Wahrscheinlich saß der Schäfer am Steuer. Wie es schien, unterhielt er mehrere Schafsweiden. Wozu würde er sonst gleich sieben Schäferhunde benötigen? Veyron schien sich diese Frage auch zu stellen, denn er ließ sich merklich hinter Miss Davis zurückfallen. Misstrauisch beäugte er das alte Geländefahrzeug.
Ein Donnergrollen ließ Jane hochfahren. Über ihnen hatte sich schlechtes Wetter zusammengebraut. Dunkle, fast schon schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Bisher war es schöner Tag gewesen. Das fand Jane ein wenig überraschend, denn ihr war gar nicht aufgefallen, wann das Wetter umgeschlagen war. Ihr kam es so vor, als wäre es gerade eben geschehen – innerhalb von Sekunden.
Veyron fasst sie an der Schulter und brachte sie zum Halten. Er nickte zu dem alten Fahrzeug hinüber, das jetzt gut und gerne fünfzig Meter vor ihnen zum Stehen kam. »Sehen Sie genau hin. Was erkennen Sie?«, wollte er wissen.
Die Polizistin in ihr war geweckt. Abgesehen von den sieben Hundekäfigen vermochte sie an dem Fahrzeug jedoch nichts Ungewöhnliches zu entdecken – bis auf eine Kleinigkeit, die ihr schon die ganze Zeit seltsam vorgekommen war. »Der Wagen hat getönte Scheiben«, sagte sie.
Veyron schenkte ihr ein zufriedenes Lächeln. »Seltsam, nicht wahr? Der ganze Wagen ist rostig und schmutzig, aber die Scheiben sind getönt und überraschend sauber«, fasste er ihre Beobachtung zusammen.
Jane spürte, wie sich in ihr alles zusammenzog. Das schien in der Tat sehr seltsam. Ihr kam wieder in den Sinn, dass Miss Davis vom Dunklen Meister gejagt wurde. »Wie weit ist es noch bis zu Ihrem Durchgang«, rief sie der Hexe zu.
Miss Davis deutete auf das Waldstück gegenüber der Schafsweide. »Dahinter gibt es eine kleine Lichtung mit zwei sonderbar verwachsenen Bäumen«, sagte sie. »Das ist der Durchgang.«
Sie hatte dies kaum ausgesprochen, als der Land Rover auf einmal mit einem lauten Knall explodierte. Nicht von einer Bombe gesprengt, sondern von einer unsichtbaren Kraft. Es gab kein Feuer, keinen Rauch, nur eine Druckwelle, die sie alle von den Füßen fegte. Zerfetzte Trümmer regneten vom Himmel, eine Staubwolke bauschte sich auf. Hoch über ihnen grollte das Unwetter wie mit bösartiger Begeisterung. Immer mehr Wolken zogen sich zusammen, ließen es immer dunkler werden. Plötzlich kam Wind auf, stark und eiskalt. Jane rappelte sich mühevoll auf, schüttelte den Kopf. Sie war ganz benommen, ihre Ohren klingelten. Das Wrack des Fahrzeugs war noch immer hinter Staub verborgen, doch dafür nahm etwas anderes ihren Blick gefangen.
Auf der anderen Seite des Feldwegs stand jetzt eine Gestalt, hochgewachsen, mit breiten Schultern. Ihr schwarzer Mantel flatterte im Sturm, trotzdem war die Kapuze tief über das Gesicht gezogen. Jane rieb sich die Arme. Der Fremde schien eine Eiseskälte zu verbreiten. Nach einem Moment, als wollte er allen die Gelegenheit geben, seiner gewahr zu werden, schlug der Schwarze die Kapuze zurück. Janes Herz pochte sofort schneller. Fast erwartete sie, in das vertrocknete Moorleichengesicht des Schattenkönigs zu blicken, jenes Dämons, der vor knapp einem Jahr beinahe ihr Leben gefordert hatte. Doch diese Fratze war sogar noch abscheulicher. Früher wohl menschlich, war dieses Gesicht verzerrt, besaß fledermaushafte Züge und auch Elemente eines Wolfs. Die Kreatur stieß ein schauderhaftes Brüllen aus, spreizte lange, messerscharfe Klauen.
Im gleichen Moment ging auch mit Miss Davis eine Veränderung vor. Als wäre der aufkommende Sturm mit Säure durchsetzt, löste sich ihr attraktives Aussehen auf. Ihre gesunde Gesichtsfarbe wechselte zu leichenhafter Blässe, ihr helles Haar wurde pechschwarz, und Jeans und Tanktop verschwanden, ersetzt durch ein gewaltiges, schwarzes Kleid, mit einer gigantischen Schleppe, die sich im Wind bauschte. Die Seelenkönigin streckte ihren rechten, gepanzerten Arm vor und legte die metallenen Fingerkrallen zusammen. Sie vereinigten sich zu einer messerscharfen Klinge, die in die Länge wuchs, bis sich ihr eiserner Handschuh in ein regelrechtes Schwert verwandelt hatte.
»Wer ist das?«, fragte Jane panisch. Die Angst ließ ihr Herz rasen, es schien aus ihrer Brust springen und fliehen zu wollen. Sie mussten hier weg, auf der Stelle!
»Der Bestiengeneral, einer der Sieben Schatten des Dunklen Meisters. Ich kenne Beschreibungen von ihm«, sagte Veyron, der ganz dicht hinter ihr stand.
Dann, nach dem nächsten Donnerschlag, stürzten die beiden Dämonen aufeinander los. Die Seelenkönigin schnappte ihre gewaltige Schleppe und riss sie in die Luft, wo sie sich in Paar gewaltiger Fledermausflügel verwandelte. Die Dämonin sauste in den dunklen Himmel, verfolgt von ihrem Widersacher, der mit seinem Mantel einen ähnlichen Trick beherrschte.
Ein wildes Knurren ließ Jane herumfahren. Aus den Trümmern des gesprengten Land Rovers kamen nun die Hunde des vermeintlichen Schäfers heraus. Jetzt, wo sie aus ihren Käfigen befreit waren, wirkten sie noch kränker als zuvor. Ihre langen, krummen Schnauzen waren besetzt mit messerscharfen Dolchzähnen, die schwarzen Leiber mit Geschwüren übersät. Doch am schlimmsten fand Jane die glutroten Augen – und sie starrten alle in ihre Richtung. »Was sind das für Monster?«, fragte sie keuchend.
»Schattenwölfe aus Darchorad, die Diener des Bestiengenerals. Er war der Heerführer der Monsterarmee des Dunklen Meisters«, wusste Veyron. Er packte Jane an der Schulter und stieß sie vorwärts. »Laufen Sie, Jane! Laufen Sie um Ihr Leben!«, rief er.
Das brauchte er ihr nicht zweimal zu sagen. Schneller als jemals zuvor in ihrem Leben nahm sie die Beine in die Hand. Veyron überholte sie von rechts und steuerte genau auf das Schafsgatter zu. Ohne darüber nachzudenken, folgte Jane ihm. Das Hecheln und Knurren der Bestien kam rasend schnell näher. Schon stieg Veyron über das Gatter, und mit ausgebreiteten Armen, wie ein Verrückter brüllend, stürmte er auf die Schafe zu. Jane schwang sich über den Zaun und wagte einen hastigen Blick über die Schulter. Die Schattenwölfe stürmten heran, geiferten mordgierig. Veyrons Schreie versetzten die Schafe in heillose Panik. Wild rannte die Herde hierhin und dorthin, bis ein vollkommenes Durcheinander entstand. Jane versuchte, zu Veyron aufzuschließen, und musste aufpassen, nicht über das eine oder andere Schaf zu stolpern. Die Tiere blökten wie verrückt, wichen Jane springend aus, prallten zusammen und purzelten über den Boden. Nun setzten die Schattenwölfe über das Gatter, warfen ihre monströsen Schädel von einer Seite zur anderen. Die panischen Schafe stachelten ihre Mordgier nur noch mehr an. Veyron und Jane weitgehend vergessend hasteten sie hinter den Schafen her, versuchten sie zu schnappen und zu reißen.
Jane empfand tiefes Mitleid mit den wolligen Tieren, als sie auf der anderen Seite wieder über das Gatter ins Freie kletterte. Bedauerlicherweise gab es keinen anderen Weg, die Bestien abzuhängen und das eigene Leben zu retten, als die Schafe zu opfern. Wenn sie doch nur eine Pistole mitgenommen hätte …
Ein wildes, unmenschliches Brüllen schallte durch die Luft, und ein schwarzer Schatten fegte über das Schafsgatter hinweg. Jane erkannte den Bestiengeneral, der einer gigantischen Fledermaus gleich durch den Himmel segelte und seinen Wölfen Befehle gab. Im Nu stellten die abscheulichen Kreaturen den Angriff auf die Schafe ein und hetzten wieder hinter Veyron und Jane her.
»Scheiße«, fluchte Jane und beeilte sich, Veyron einzuholen, der bereits den Rand des nahen Waldes erreicht hatte.
Der erste der Schattenwölfe sprang schon über das Gatter, die Zähne gefletscht. Er bellte heiser. Endlich erreichte auch Jane den Wald, wo Veyron ungeduldig auf sie wartete. Gemeinsam hasteten sie jetzt durch das Gebüsch, sprangen über Wurzeln und Farne, Äste peitschten ihnen ins Gesicht, Sträucher und Zweige rissen an ihrer Kleidung. Hinter ihnen stürmten unter Gebell und Geheul die Schattenwölfe in das Dickicht.
»Da lang, ich habe den Ausweg gefunden«, rief Veyron, schnappte Jane am Handgelenk und zog sie in eine bestimmte Richtung.
Ohne genau hinzusehen, folgte sie Veyron. Sie benötigte ihre ganze Konzentration, um nicht an Wurzeln hängen zu bleiben. Das Unwetter hoch über ihnen ließ es in dem Wald beinahe so finster sein wie in der Nacht.
Plötzlich türmte sich vor ihnen eine Felswand auf, so hoch, dass an ein schnelles Erklettern nicht zu denken war. Erst jetzt schaute sich Jane an, wo sie überhaupt waren, nur um festzustellen, dass sie die ganze Zeit einer Schlucht gefolgt waren.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, rief sie aufgeregt. »Veyron, das ist eine verdammte Sackgasse!«
»Exakt«, sagte Veyron nur. Er hatte den Rucksack abgenommen und kramte darin herum. Schließlich brachte er einen seltsamen Gürtel und eine Pistole zum Vorschein. Ohne Jane etwas zu erklären, schnallte er den Gürtel um und nahm die Pistole in beide Hände. In der Nähe erklang schon das Knurren eines Schattenwolfes. Vor ihnen leuchteten rote Augen in der Dunkelheit.
»Schießen Sie!«, herrschte sie Veyron an, der mit einer unbegreiflichen Seelenruhe einfach nur dastand. Gelassen schulterte er seinen Rucksack, dann erst zielte in die Luft und feuerte. Der Schuss ließ die Schattenwölfe zögern. Schritt für Schritt trabten sie jetzt heran. Sie hatten ihre Beute ja in der Falle, ein Entkommen war unmöglich.
»Was tun Sie da? Schießen Sie nicht in die Luft, schießen Sie auf diese Mistviecher!«, heulte Jane verzweifelt.
Veyron packte sie an der Hüfte und presste sie grob an sich. »Festhalten«, sagte er.
Dann erklang ein leises Sirren, und eine unsichtbare Kraft zog sie beide in die Luft. Jane ertastete mehr, als sie es sah, ein Stahlkabel, das mit Veyrons Gürtel verbunden war, und dann begriff sie: Er hatte einen Greifhaken in die Baumkronen geschossen, der mit einer kleinen Seilwinde auf der Rückseite des Gürtels verbunden war.
»Ich wollte diese Ausrüstung schon lange erproben«, meinte er, und sie konnte sein selbstgefälliges Grinsen beinahe hören.
Sie war allerdings zu verängstigt und panisch, um darüber zu staunen. Die Reise durch die Luft ging viel zu langsam vonstatten, und die Schattenwölfe stürmten nun bellend heran. Sie sprangen hoch, versuchten, ihre flüchtende Beute zu fassen. Veyron und Jane mussten um sich treten, um die Bestien auf Abstand zu halten. Als sie merkten, dass sie so nicht an ihre Beute herankamen, versuchten die Monster, die steilen Felswände zu erklimmen, doch sie rutschten von den glatten Steinen immer wieder ab. Veyron hielt die Felsen mit ausgestrecktem Arm auf Abstand, während sie Meter für Meter nach oben gezogen wurden, damit sie nicht dagegen pendelten. Jane klammerte sich fest an Veyron, um nicht ebenfalls abzurutschen und den Schattenwölfen doch noch zur Beute zu werden. Sobald sie sich jedoch der Kante der Schlucht näherten, dirigierte Veyron sie aus den Baumkronen heraus. Mühsam krabbelte Jane mit seiner Hilfe über den Grat und blieb einen Moment keuchend liegen, bevor sie Veyron ihre Hand reichte und auch ihn hochzog. Kaum hatte er den ebenen Waldboden erreicht, löste Veyron die Seilwinde vom Gürtel und fischte zwei runde Gegenstände aus seiner Jackentasche.
Jane wich zurück. »Handgranaten!«, rief sie erschrocken.
Mit den Zähnen zog Veyron die Splinte ab und warf die beiden Granaten in die Schlucht, hinunter zu den Schattenwölfen. Zwei Explosionen erklangen, begleitet von lautem Jaulen und Winseln. Zufrieden blickte Veyron über den Rand nach unten.
»Vier erwischt, drei sind noch übrig. Aber wir haben ein paar Minuten Vorsprung, ehe die Bestien wieder auf unserer Spur sind. Los jetzt, wir müssen zu diesem Durchgang gelangen«, sagte er.
Sie rannten weiter, folgten einem Trampelpfad, der mal steil nach oben, dann wieder ebenso steil nach unten führte, ehe sie aus dem verfluchten Wald herauskamen. Endlich befanden sie sich auf jener Lichtung, von der die Seelenkönigin gesprochen hatte. Jane atmete erleichtert auf, während sie auf den Torbogen zu hetzte.
Anders als der Durchgang nach Elderwelt, den sie bisher kennengelernt hatte, bestand dieser hier nicht aus Stein. Zwei uralte Bäume, nebeneinander hochgewachsen, hatten sich auf einer Höhe von vier Metern vereinigt und ihre gewaltigen Stämme ineinander verdreht, sodass darunter ein Torbogen entstanden war.
»Haben Sie denn Ihren Erlaubnisstein dabei?«, keuchte Jane angestrengt, als sie den Durchgang schließlich erreichten. Ohne diese magischen Steinchen war es nicht möglich, nach Elderwelt zu gelangen. Sie könnten durch den Torbogen hin und her springen, wie sie wollten; ohne einen Erlaubnisstein blieb ihnen die Magie Elderwelts versagt.
»Nein, den hat Tom in seinem Geldbeutel«, sagte Veyron und blickte hoch in den Himmel.
Als wäre dies ein Stichwort gewesen, stürzte die Seelenkönigin aus der Luft und landete hart auf dem Boden. Mit einem schmerzerfüllten Schrei brach sie zusammen. Ihre schwarzen Flügel verwandelten sich wieder in die riesige Schleppe, die sie nun wie ein Leichentuch einhüllte. Veyron rannte zu ihr, Jane atmete tief durch und folgte ihm. Wie sich herausstellte, war die Seelenkönigin schwer verwundet, schwarzes Blut lief aus einer klaffenden Wunde an ihrer Hüfte. Der Bestiengeneral hatte sich also als der geschicktere Kämpfer erwiesen.
Und da war er auch schon. Mit einem triumphierenden Grinsen auf seinem Monstergesicht landete er am Rand der Lichtung, und zu seinen Seiten erschienen seine drei verbliebenen Schattenwölfe. Jane und Veyron halfen der Seelenkönigin auf die Beine, stützten sie und schleppten sie in Richtung des Durchgangs.
»Euren Erlaubnisstein, Mylady«, meinte Veyron mit herzloser Kälte.
Die Dämonin griff unter ihr schwarzes Gewand und brachte einen feuerroten Kieselstein zum Vorschein. Veyron nahm ihn fest in die Faust. Jane blickte zum Bestiengeneral und seinen Monstern, die sich aufteilten und nun von allen Seiten auf sie zukamen. Jegliche Flucht schien aussichtslos.
Plötzlich erklang von der anderen Seite der Lichtung lautes Heulen, kräftiger und gesünder klingend als das der Schattenwölfe. Jane blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als sie sah, was nun geschah. Ein ganzes Rudel Wölfe war aufgetaucht – als würden die Monster des Schattens nicht schon genügen. Mit gefletschten Zähnen und nach hinten gerichteten Ohren stürmten sie über die Lichtung, genau auf Jane und Veyron zu.
Dann ist es also soweit, dachte sie voll Bitterkeit. Von wilden Bestien zerfetzt. Danke, Veyron Swift. Was für ein grandioses Ende!
Doch die Wölfe preschten an ihnen vorbei, ihren durch dunkle Zauberkraft verderbten Vettern entgegen. Dem Rudel folgte ein einzelner Mann, von seiner einfachen, praktischen Kleidung her ein rumänischer Schäfer. Doch in seinen Händen hielt er ein großes, langes Schwert, in dessen Klinge grüne Juwelen in einem verschnörkelten Muster eingelassen waren. Sie begannen zu glühen, und ein Blitz sprang von der Klinge fort, traf einen der Schattenwölfe und tötete das Ungeheuer mit einem Schlag.
»Ein Simanui!«, rief Jane begeistert und begann zu lachen. »Wir sind gerettet! Endlich tun diese Zauberer einmal was!«
Die Ankunft eines Ritters des Lichts schien auch den Bestiengeneral zu überraschen. Unter seiner schwarzen Kutte zog er nun seinerseits ein Schwert hervor und wich zum Waldrand zurück, während seine Schattenwölfe ihren irdischen Artgenossen entgegensprangen.
Den Rest der Schlacht bekam Jane nicht mehr mit. Jemand packte sie an der Schulter und stieß sie durch den magischen Torbogen.
Die Welt um sie veränderte sich schlagartig. Von einer Sekunde auf die nächste befand sie sich nicht mehr auf jener Lichtung in den Karpaten, sondern auf einem kalten, tristen Festungshof, umgeben von uralten Mauern. Menschen in dicken Kutten saßen im Kreis auf dem Boden, wärmten sich die Hände an einem kleinen Lagerfeuer. Kinder rannten über den Hof und spielten Fangen.
Als sie die drei Neuankömmlinge bemerkten, die soeben aus dem Torbogen der Illauri traten, schreckten alle im Hof auf.
»Sie ist zurückgekehrt«, keuchte eine alte Frau. »Die Seelenkönigin ist zurückgekehrt!«
Gespenstische Ruhe kehrte ein. Jane biss sich auf die Lippe. Was nun wohl geschehen würde?
Still erhoben sich die Menschen von ihren Ruheplätzen. Mütter nahmen ihre Kinder in die Arme und verbargen sie eilig vor dem Antlitz der bleichen Königin. Jane sah, wie selbst die größten und kräftigsten Männer die Köpfe neigten und die Blicke senkten, als fürchteten sie, dem Glosen in den Augen der Dämonin zu begegnen. Das eben noch herrschende Leben auf diesem kalten, finsteren Hof verwandelte sich mit einem Mal in eine bedrückende Stille. Die Angst war überall zu spüren, greifbar wie nichts sonst; eine grausame, stille Furcht vor jener schwarzen Königin. Jane schaute Veyron vorwurfsvoll an. Wo hatte er sie da nur hingebracht? Doch Veyron blieb wie üblich äußerlich ganz gelassen.
Schwarz uniformierte Wachen eilten herbei. Als sie näher herankamen, erkannte Jane, dass trotz ihres zackigen Schritts ihre Augen trüb waren, der Blick starr geradeaus gerichtet. Rücksichtslos stießen sie alle Menschen zur Seite, die ihnen im Weg standen, und hoben ohne ein Wort die verletzte Seelenkönigin auf ihre Arme und trugen sie fort. Niemand nahm Anteil an ihrer Verwundung, niemand blickte ihr hinterher. Allerdings wagte sich auch niemand zu freuen. Still und bedrückt zogen die Menschen von dannen, ließen Veyron und Jane allein unter dem Torbogen stehen.
Wir sind am Hof einer verhassten Tyrannin gelandet, erkannte Jane entsetzt. Konnte es sein, dass Veyron diesmal einen fatalen Fehler begangen hatte?