Читать книгу Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer - Страница 6

4. Kapitel: Die Zaltic Asp

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Zunächst kehrten sie in Wimilles Wohnung zurück und besprachen das weitere Vorgehen. Tom stellte seinen Plan vor – oder besser gesagt, das, was er sich im Verlauf der Rückfahrt ausgedacht hatte. Überraschenderweise erklärte sich Wimille mit allem einverstanden. Anschließend verschwand er in seinem Hacker-Zimmer, um kurz darauf von einem Raum der Wohnung in den nächsten zu eilen, einmal mit Werkzeug, ein anderes Mal mit irgendwelchen Geräten in der Hand. Tom vormochte sich nicht einmal vorzustellen, was Veyrons Bruder so alles trieb, darum schrieb er Vanessa und Lilly ein paar Nachrichten und warnte die beiden Mädchen davor, irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu erzählen.

Als Wimille nach etwa dreißig Minuten mit seinen Tätigkeiten fertig war, setzte er sich zu Tom an den Tisch des karg eingerichteten Wohnzimmers. »So, nun können wir konkreter werden. Die wichtigsten Vorbereitungen sind abgeschlossen«, sagte er.

Tom nickte eifrig und zeigte Wimille die Dinge, die er aus Veyrons Arbeitszimmer mitgebracht hatte. »Und dann wäre da noch das Daring-Schwert«, verkündete er, streckte die Hand in die Luft und rief den Geist von Professor Daring, der in der magischen Klinge steckte. Wie aus dem Nichts materialisierte das Schwert in Toms Hand; das feine Juwelenmuster seiner Klinge leuchtete blau. Tom reichte Wimille die Waffe, der sie mit professionellem Interesse untersuchte.

»Überraschend leicht«, stellte er fest, als er das Heft in die Hand nahm. Probehalber schwang er sie einmal nach links und dann nach rechts. »Lässt sich gut führen, hervorragend ausbalanciert. Einem Rapier nachempfunden, aber die Klinge ist etwas breiter und kürzer, der Griff massiver. Ein schön gestalteter Korb. Handarbeit, wie ich sehe.«

Er gab es Tom zurück, der die Waffe in seinen Gürtel steckte, wo sie sich von einem Augenblick zum nächsten in nichts auflöste.

Wimille hob interessiert die Augenbrauen. »Weißt du, wie dieses Materialisieren und Dematerialisieren funktioniert?«, wollte er wissen.

Tom zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Zauberwaffe. Professor Lewis Daring, der zum Zaubererorden der Simanui gehörte, hat nach seinem Tod seinen Geist auf dieses Schwert übertragen. Und ich sage Ihnen, das Verschwinden und bei Bedarf Auftauchen ist noch einer der harmlosesten Tricks. Ich schätze, es hängt mit der Simarell zusammen, der Zauberkraft der Simanui«, versuchte er zu erklären.

Wimille machte ein missmutiges Gesicht. »Magie, Magie, Magie!«, rief er aus und hob in flehender Geste die Hände. »Warum lassen sich die Menschen mit solch billigen Antworten abspeisen? Der Begriff Magie, mein lieber Tom, steht für nichts anderes als ›Ich weiß es nicht‹. Hinter jeder Magie steckt zumeist nichts weiter als ein der Allgemeinheit unbekanntes technisches Verfahren unter Ausnutzung der Physik. In diesem speziellen Fall wohl Quantenphysik. Nur weil unsere Wissenschaft noch nicht alle Geheimnisse entschlüsseln konnte, haben wir es hier noch lange nicht mit Zauber zu tun.«

Tom musste kurz schmunzeln. Wimille wirkte wie ein Oberlehrer, der an der Ahnungslosigkeit seines Schülers verzweifelte. Ein Wesenszug, den sich die Swift-Brüder teilten. Eben wollte er etwas zu Wimille sagen, als es plötzlich klingelte – nicht der schrille Ton von vorhin, sondern ein ganz normales, angenehmes Klingeln. »Moment mal«, sagte Tom verwirrt.

Wimille gestattete sich ein listiges Lächeln. »Die richtige Klingel ist die zweite von unten. Ich habe nach unserer Rückkehr nur schnell das Namensschild ausgetauscht, um die Nachbarschaft nicht mitten in der Nacht aufzuscheuchen. Ich erwarte nämlich wichtigen Besuch – von der Polizei«, erklärte er, wirbelte auf den Absätzen herum und verschwand im Treppenhaus.

Tom fühlte sich nach dieser Offenbarung ein wenig unbehaglich. Warum sollte Wimille die Polizei ins Haus bestellen, obendrein noch diskret? Wollte Wimille ihn verraten, um ihn hier in London festzusetzen und allein nach Felixstowe zu fahren?

Einen Moment später kehrte Wimille zurück, in den Händen ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen. Von Polizeibeamten war nichts zu sehen. Wimille riss ungeduldig die Folie vom Päckchen und öffnete es dann. Triumphierend zeigte er Tom den Inhalt. »Das Schwarze Manifest!« Mit kindlicher Begeisterung schlug Wimille das abscheuliche Machwerk auf, blätterte ein paar Seiten vor und dann zurück.

»Woher haben Sie das?«, fragte Tom finster.

Wimille warf ihm das Buch zu. »Es gehörte einem gewissen Henry Fowler«, sagte er.

Tom schauderte. Es war wahrhaftig das Buch dieses widerwärtigen Frauenmörders. Am liebsten hätte er es weggeworfen, so weit wie nur irgend möglich. Dann stockte er. »Moment mal! Henry Fowler wurde verhaftet, und dieses Buch ist ein Beweismittel. Es sollte eingelagert sein!«, protestierte er.

Wimille zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe es anfordern lassen. Im Namen von Commissioner Hopkins. Der Polizist an der Tür machte zwar ein komisches Gesicht, aber letztlich befolgte er ja nur seine Anweisungen«, erklärte er.

Tom musste lachen. Noch eine Gemeinsamkeit, welche sich die Swift-Brüder teilten. »Sie haben Hopkins’ dienstinternen E-Mail-Account gehackt? Mann, kein Wunder, dass Veyron immer mit seinen krummen Dingern durchkommt«, meinte er.

Wimille wollte das nicht weiter kommentieren, sondern deutete auf das Schwarze Manifest und räusperte sich in seiner Oberlehrer-Art. »Zurück zum Thema! Das Buch ist wichtig. Du wirst es benötigen, um dich als Anhänger der Schwarzen Horde auszugeben.«

Toms Abscheu verwandelte sich schlagartig in Neugier. »Was ist die Schwarze Horde?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, mein Junge«, erwiderte Wimille mit unpassender Fröhlichkeit. »Aber darum geht es in der Einleitung. ›An alle Anhänger der Schwarzen Horde‹, lautet der Aufruf. Ich schlage vor, du studierst es. Am besten fängst du damit jetzt an.« Pfeifend verschwand Wimille in einem Nebenzimmer und schloss ab.

Tom legte das Schwarze Manifest auf den Tisch. Widerwillig schlug er es auf und begann zu lesen. Weit kam er damit nicht. Er schaffte gerade die Einleitung, in der von Verschwörungen die Rede war und davon, dass man aus dem ›goldenen Käfig‹ ausbrechen müsse, welcher von den ›Institutionen‹ geschaffen worden sei, um die Gesellschaft zu kontrollieren, dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief über dem Schwarzen Manifest ein. Die kurze und aufregende Nacht forderte ihren Tribut.

Als er wieder aufwachte, schien bereits die Sonne durch die Fenster herein. Er fand sich auf der einzigen Couch in Wimilles Wohnung wieder. Sein Gastgeber selbst war nirgendwo zu finden, dafür aber ein Zettel mit ein paar Informationen: Er sei einkaufen gefahren, um sich neu einzukleiden, und er schlage Tom vor, dies ebenfalls zu tun. Veyrons Bruder hatte ihm sogar genaue Anweisungen hinterlassen, was er sich kaufen sollte und wo er die Sachen am besten bekäme. Des Weiteren legte ihm Wimille einen Besuch beim Friseur nahe, ebenfalls mit genauen Anweisungen Haarschnitt und Farbe betreffend.

Tom konnte nur den Kopf schütteln. »So was ziehe ich bestimmt nicht an. Verunstalten lasse ich mich nicht«, murmelte er.

Auf dem Tisch fand er noch einen weiteren Zettel:

Tu es! Oder wir haben heute Nacht nicht die geringste Chance!

W.S.

Tom seufzte. Auch das noch!

Also fuhr er mit dem Bus in die Stadt und besorgte die geforderten Sachen: alles in Schwarz. Am schlimmsten fand er die schweren Stiefel und die dicken Ledersachen, in denen er sich nur eingeschränkt bewegen konnte. Beim Friseur ließ er sich einen Schnitt mit Linksscheitel verpassen, sein krauses Haar glätten und das natürliche Rotblond von einem tiefen Schwarz überdecken.

»Ich sehe aus wie ein Zombie«, meinte er zu Wimille, als sie sich kurz nach Mittag wieder in 213 Gloucester Crescent trafen.

»Hast du das Buch nicht gelesen? Es schreibt sehr detailliert vor, wie sich die Anhänger der Schwarzen Horde zu kleiden haben, um sich von der fehlgeleiteten Masse abzuheben und sich untereinander zu erkennen«, meinte er vorwurfsvoll.

Tom seufzte. »Ich bin eingeschlafen, hab’s nicht mal über die Einleitung hinaus geschafft«, gab er zu.

Wimille schaute ihn tadelnd an. »Ich weiß. Zum Glück konnte ich letzte Nacht noch etwas Zeit erübrigen, um rund zweihundert Seiten zu lesen. Ein interessantes Machwerk, ganz eindeutig mit dem Ziel, verlorene Seelen zu manipulieren und in die Arme dieses Teufels, des Dunklen Meisters, zu treiben.«

Nun zeigte Wimille auch seine Einkäufe vor: ein teurer Smoking, ebenso kostspielige Lackschuhe und – was Toms Verwunderung noch steigerte – ein Sack voller Golfbälle.

»Was wollen Sie denn mit denen?«, fragte er.

Veyrons Bruder gluckste vergnügt. »Ich nehme an, du würdest es Magie nennen. Ich dagegen nenne es eine kleine technische Spielerei. Du wirst es sehen, wenn es so weit ist. Ruh dich derweil noch etwas aus, sammle deine Kräfte. In zwei Stunden fahren wir nach Felixstowe. Dann geht es um Leben und Tod.«

Während Wimille in seinem Arbeitszimmer verschwand, studierte Tom die jüngsten Nachrichten auf seinem Smartphone. Die letzte Nachricht von Jane besagte, dass Veyron und sie in einer Stadt namens Bistritz angekommen seien, wo sich irgendwo der Durchgang nach Elderwelt befinde. Tom hatte kein gutes Gefühl dabei, Jane mit seinem Patenonkel allein zu lassen, aber in Wahrheit konnte er gar nichts dagegen tun. Selbst wenn er jetzt sofort nach Elderwelt aufbräche, käme er an einem ganz anderen Punkt heraus als Veyron und Jane. Er hatte nicht einmal den Hauch einer Vorstellung, wo sich das Reich der Seelenkönigin befand. Wahrscheinlich bräuchte er Wochen, um von Fabrillian oder Talassair in jenes Reich zu kommen. Und dann könnten Jane und Veyron längst wieder zu Hause sein und ihrerseits Tom suchen.

Nein! Das alles würde nur in einem sinnlosen Teufelskreis enden. Klüger wäre es, Veyrons Angelegenheit vollkommen zu vergessen und sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, Ernie Fraud vor der ZTC und der Schwarzen Horde zu retten.

Mit dem VW Käfer ging es kurz darauf nach Felixstowe. Während der Fahrt hatten sich Tom und Veyrons Bruder nicht viel zu sagen. Wimille trug den sündhaft teurer aussehenden Smoking und hatte sich die Haare mit reichlich Gel nach hinten gestrichen, er dagegen trug seine schwarzlederne Rockerkluft. Ein größerer optischer Kontrast zwischen ihnen war eigentlich gar nicht möglich. Er fragte sich, was Wimille damit wohl bezwecken wollte. Abermals kamen ihm Zweifel, ob der Mann auch wirklich denselben messerscharfen Verstand besaß wie sein Bruder, oder ob er schlichtweg verrückt war.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie die große alte Hafenstadt an Englands Ostküste. Die gewaltige Hafenanlage mit ihren hoch aufragenden Lastenkränen war schon aus weiter Ferne auszumachen und bildete einen starken Kontrast zu den altehrwürdigen Gebäuden der Stadt.

Sie hatten den Hafen kaum erreicht, als sie auch schon die Zaltic Asp ausfindig machten. Wie ein Turm ragte sie auf, jenes Containerschiff, auf dem Ernie Fraud sein Schicksal zu besiegeln gedachte – falls Tom es nicht in eine andere Richtung zu wenden vermochte. Mit dem pechschwarzen, wuchtigen Rumpf, dem breiten, runden Bug und den sich dagegen fast wie Spielzeug ausnehmenden schneeweißen Deckaufbauten wirkte die Zaltic Asp fast ein wenig anachronistisch im Vergleich zu den anderen modernen, meist eher farbig gehaltenen Containerschiffen. Jedoch verzwergte sie mit ihren rund vierhundert Metern Länge und 200.000 Tonnen Verdrängung nahezu alle anderen Schiffe in Felixstowe. In strengen, blutroten Lettern lief der Schriftzug der Zaltianna Trading Company von Bug bis Heck, als wollte die ZTC ihre Konkurrenten regelrecht bedrohen. Tausende winzig aussehender Container stapelten sich auf dem gewaltigen Oberdeck, die meisten nachtschwarz und mit dem Schriftzug der ZTC versehen, die wenigen andersfarbigen Container anderer Logistikunternehmen wirkten inmitten der dunklen Türme wie Fremdkörper.

Tom stellte fest, dass der ZTC-Bereich im Hafen der Einzige war, der durch einen doppelten Metallzaun abgeriegelt war. Bewaffnete Sicherheitsmänner in paramilitärischen Kampfanzügen patrouillierten am Zaun entlang. Besucher waren hier eindeutig nicht erwünscht.

Ich weiß nicht, ob Wimille verrückt ist, dachte Tom, als Veyrons Bruder mit einer an Irrsinn grenzenden Selbstverständlichkeit vor das Zugangstor fuhr. Aber ich bin es ganz sicher. Wie sollen wir denn da lebend wieder rauskommen?

Sofort flankierten zwei mit MPs bewaffnete Männer den himmelblauen Käfer. Tom wurde ganz mulmig im Magen. Klar, er hatte zwar schon schlimmere Situationen überstanden, aber diese Kerle waren schwer bewaffnet und viel trainierter als er. Ohne Veyron an seiner Seite fühlte er sich ein wenig schutzlos. Wimille kannte dagegen keine Ängste. In aller Seelenruhe kurbelte er die Scheibe herunter und reichte eine schwarze Checkkarte nach draußen, ohne den Mann anzusehen, der sie mit einiger Verwunderung entgegennahm und sie durch einen Scanner am Tor zog. Sofort summte die elektronische Entsperrung, was die beiden Wachen ebenso zu überraschen schien wie Tom. Respektvoll gab der Mann Wimille die Karte zurück. Ohne einen von beiden anzusehen, gab Wimille Gas, und sie drangen auf das Gelände der ZTC vor.

»Was war denn das jetzt?«, fragte Tom flüsternd.

»Eine ZTC-Zugangskarte, Priorität Ultra, Management Control Department«, erklärte Wimille gelassen.

Tom riss überrascht die Augen auf.

Ein flüchtiges, triumphierendes Lächeln huschte über Wimilles dünne Lippen; ganz ähnlich dem seines Bruders. »Das Management Control Department ist die gefürchtetste Abteilung in der Hierarchie der ZTC. Die Manager dort feuern Leute nach Gutdünken, mit sofortiger Wirkung. Kündigungsschutz hat bei ihnen niemand. Veyron fand heraus, dass sie recht unlautere Methoden beherrschen, um unliebsame Mitarbeiter oder anderweitig lästige Menschen loszuwerden. Erpressung zum Beispiel, oder Mord«, erklärte Wimille. »Für dich bin ich von jetzt an Direktor Swift.«

Tom nickte und fragte Wimille, woher er die Karte hätte.

Der lächelte nun noch breiter. »Veyron hat sie vor zwei Jahren in Auftrag gegeben, als er nach dem Medusa-Fall aus Elderwelt zurückkehrte. Er wollte sich in die ZTC einschleichen, aber andere Dinge haben seither seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich dachte, nun wäre die Zeit reif, diesen Trumpf endlich einmal auszuspielen.« Nach diesen Worten reichte ihm Wimille ein kleines, bohnenförmiges Gerät, kaum größer als ein Fingernagel. »Kleb dir das hinter dein Ohr, am besten auf die Seite, wo die Haare länger sind«, erklärte er.

Tom tat, wie ihm geheißen. Erst hinterher fragte er, für was das gut sein solle.

»Es ist ein Ohr-Mikro«, sagte Wimille in einem Ton, als wäre es das Einfachste auf der ganzen Welt. »Ich habe die Basiskonstruktion verbessert und miniaturisiert. Die Batterie hält dreißig Minuten, so viel Zeit hast du, Mr. Fraud zu finden.«

Dann tippte er an sein eigenes rechtes Ohr. »Ich besitze auch eines. Auf diese Weise bleiben wir in Kontakt. Du kannst hören, was ich sage, und umgekehrt ebenso. Der Schall wird über die Ohrmuschel ins Innere des Ohrs übertragen. Für die Außenwelt ist dagegen nahezu nichts zu hören. Ein raffiniertes Stück Technologie. Pass bitte gut darauf auf.«

Wimille parkte den Käfer neben einer Reihe Lieferwagen, dann stiegen sie aus. Tom fiel auf, dass Wimille einen seiner speziellen Golfbälle in der Rechten hielt und ihn zwischen den Fingern drehte. Eben wollte er ihn danach fragen, was es denn nun mit diesen Dingern auf sich habe, als sich ihnen auch schon mehrere Männer näherten. Ein sauber gekleideter Offizier des Frachtschiffs kam auf sie zu, in seiner Begleitung zwei weitere Wächter – und ein Typ, der ganz ähnliche Klamotten trug wie Tom. Sicher einer von der Schwarzen Horde, dachte er, als er die ungepflegt wirkende Gestalt des Mannes genauer studierte. Der Kerl schien gut und gerne zehn Jahre älter als Tom zu sein, mit einem Hang zum Übergewicht und einer erkennbaren Abneigung gegen Wasser und Seife.

Der Uniformierte streckte die rechte Hand aus. »Direktor Swift, herzlich willkommen. Welch unerwartetes Vergnügen. Ich bin Commander Jenkins, Erster Offizier der Zaltic Asp«, rief er.

Dieser reagierte gar nicht, sondern ließ die Freundlichkeit von Commander Jenkins ins Leere laufen. Demonstrativ spielte er mit dem Golfball in seiner Rechten, als er die ihm gereichte Hand ignorierte. »Es ist wohl kaum ein Vergnügen, Commander. Zudem erfolgen die Besuche des MCD stets unangemeldet. Gerade darauf fußt unsere Effizienz«, sagte Wimille schließlich, nachdem er seinen Blick über alle Männer hatte schweifen lassen.

Tom bemerkte, wie jedem von ihnen mulmig wurde; abgesehen von dem ungepflegten Typen. Der tat so, als wäre Wimille gar nicht da. Dafür musterte er Tom umso genauer, was wiederum Wimille bemerkte. Er packte Tom an der Schulter und schob ihn auf Jenkins zu. »Ich habe diesen jungen Mann auf der Straße aufgelesen. Er sagte, er wolle hierher, um auf die andere Seite zu gelangen. Sein Name ist Henry Fowler. Soweit ich informiert bin, ist er überfällig. Wie kann das sein?«, schnarrte Wimille und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.

Jenkins brachte nichts weiter zustande als ein sinnloses Gestammel.

Wimille atmete tief durch. »Wieso werde ich hier lediglich vom Ersten Offizier begrüßt? Wo ist der Captain?«, fragte er mit einer Eiseskälte in der Stimme, die selbst Tom eine Gänsehaut verpasste. Wimille spielte seine Rolle wirklich sehr überzeugend; fast ein wenig zu überzeugend. Tom hoffte, dass sich Veyrons Bruder nicht am Ende darin verlor.

»O … o … oben auf der Brücke, Direktor Swift. Wir haben bereits Auslauferlaubnis erhalten und werden jeden Moment ablegen«, antwortete Jenkins, um ein Lächeln bemüht.

Ein abfälliger Blick Wimilles genügte, um ihn daran scheitern zu lassen. »Das weiß ich, Commander. Was meinen Sie, wer vor Ihnen steht? Bringen Sie mich auf die Brücke! Und was den jungen Mr. Fowler hier betrifft: Kümmern Sie sich unverzüglich darum, dass er seinen Bestimmungsort erreicht. Befinden sich noch andere Rekruten für die Schwarze Horde an Bord?«

Commander Jenkins sah den schmuddeligen Kerl in Schwarz fragend an.

»Nur einer. Wir wollt’n den Apparat ers’ start’n, wenn wir ausgelaufen sin’«, nuschelte der Mann.

Wimille warf ihm einen angewiderten Blick zu, ehe er sich wieder an Commander Jenkins wandte. »Bringen Sie ihn mit Mr. Fowler zusammen. Es ist unwirtschaftlich, den Apparat für jeden Rekruten separat zu aktivieren. Inzwischen werde ich die Brücke inspizieren«, befahl er.

Commander Jenkins gab sofort die entsprechenden Anweisungen an seine Leute. Die beiden Bewaffneten salutierten zackig und eskortierten Tom, Wimille und den Schmutzfink über eine schmale Rampe aufs Schiff und von dort direkt in ein Treppenhaus, in dem ein fast unüberblickbares Wirrwarr an kalten Stahltreppen nach oben und unten führte, jede augenscheinlich in eine andere Sektion des Schiffs. Hier trennten sich Tom und Wimille an einer Korridorbiegung. Während Veyrons Bruder von Commander Jenkins und den beiden Wachen weitergeführt wurde, schlug Toms Herz schneller, als ihn Mr. Schmuddel vorwärtsstieß, damit er sich schneller bewegte. Zum Glück blieben sie über Wimilles Ohr-Mikro miteinander in Kontakt.

»He, Scheißer! Bleib stehen, Mann!«, grölte Dreckspatz. Er öffnete eine Tür und wedelte mit der Hand zum Zeichen, dass es hier reinging. Tom drehte sich um und betrat den dunklen Raum.

»Hiergeblieben, klar?«, maulte der ungepflegte Typ, dann schlug er die Tür von außen zu. Tom atmete tief durch. So weit der leichte Teil ihrer Mission. Sie hatten es tatsächlich an Bord der Zaltic Asp geschafft. Jetzt musste er nur noch Ernie irgendwie finden. Laut den Informationen von Commander Jenkins war noch ein Schwarzhorden-Anwärter an Bord; bei dem es sich eigentlich nur um Ernie handeln konnte. Hoffentlich wurde er bald mit ihm zusammengebracht. Wer wusste schon, wie lange Wimilles Tarnung noch hielt?

»Tom, bist du das?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

Oh nein! Das gibt’s doch nicht!, dachte er. Vor Schreck wären ihm beinahe die Beine weggeknickt. Langsam drehte er sich um, immer noch hoffend, dass er sich irrte, aber nein: Direkt vor seinen Augen eröffnete sich eine Katastrophe, türmte sich ein wahrer Mount Everest an Problemen auf. »Vanessa!«, rief er.

In der hintersten Ecke des Raumes saß doch tatsächlich Vanessa Sutton auf einer aus der Wand geklappten Pritsche. Genau wie Tom hatte sie sich die Haare geschwärzt und trug dunkle Klamotten. Seine Angst wurde zu brodelnder Wut. Wie konnte sie nur so dumm sein, sich hierher zu begeben? Hatte sie denn total den Verstand verloren? Ich hätte sie niemals mit zu Wimille nehmen dürfen … Sobald sie wusste, wo sich Ernie befand, musste sie beschlossen haben, ihn auf eigene Faust zu retten – oder sich ihm anzuschließen.

Seine Fäuste ballten sich. Er musste sich zusammenreißen, sie nicht anzubrüllen, als er sagte: »Was um alles in der Welt tust du denn hier?«

»Ich geh dahin, wo Ernie hingeht. Ich liebe ihn, ich werde ihm überallhin folgen«, gab sie trotzig zurück.

Na wundervoll! Zwei Dumme, ein Gedanke, hätte er ihr am liebsten ins Gesicht geschrien. Diese blöde Kuh würde ihnen noch alles versauen! »Was denkst du dir dabei? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, worauf du dich da einlässt!«, schnauzte er sie an. Dachte diese dumme Zicke etwa, das hier wäre irgendein Spiel, und die Zaltianna Trading Company würde sie und Ernie einfach so entkommen lassen? Oder dass Ernie sie drüben in Elderwelt erwartete und sie beide dort glücklich alt werden würden?

»Aber du weißt natürlich alles, was?«, giftete sie zurück.

Tom stampfte wütend auf. »Ja, ich weiß, was hier läuft! Ich weiß, wo wir sind und was für Typen bei der ZTC rumlaufen! Hab ich dir nicht gesagt, dass das Mörder sind? Bleib zu Hause, hab ich gesagt. Und was machst du? Rennst stattdessen in die Höhle des Löwen. Vanessa, die werden dich umbringen«, schrie er. Jetzt konnte er sich wirklich nicht mehr länger beherrschen.

Von einem Moment auf den anderen schlug Vanessa die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

Ja, heul nur, du idiotische Pute, hätte er sie am liebsten angefahren, entschied sich jedoch dagegen. Was brachte es ihnen? Eine Weile starrte er sie an, ohne recht zu wissen, was er jetzt tun sollte. Es juckte ihm in den Fingern, sie übers Knie zu legen und ihr den Hintern zu versohlen – für ihre unbegreifliche Dummheit jetzt und für ihre frühere Gemeinheit ihm gegenüber. Eine Stimme in seinem Ohr lenkte ihn jedoch von seinem Zorn ab.

»Ah, Captain Reumann«, hörte er Wimille Swift sagen. »Eine saubere Brücke haben Sie da. Allerdings scheint dies nicht auf das Personal zuzutreffen.«

»Wir lassen hier alles regelmäßig reinigen«, versicherte die Stimme des unsichtbaren Captains brüskiert.

Tom musste schmunzeln, als er sich das blasse Gesicht des Mannes vorstellte, der gewiss soeben zum Opfer von Wimilles eiskalten Blicken wurde.

Mit neu gewonnener Ruhe ging Tom zu Vanessa und setzte sich zu ihr. »Okay, das hilft uns jetzt auch nicht weiter«, sagte er und versuchte, seinen Ärger beiseitezuschieben. Sei wie Veyron, dachte er, konzentriere dich auf das Problem und nicht auf die Emotionen. Löse das Problem, Tom Packard, löse das Problem.

»Konntest du was herausfinden? Hat jemand gesagt, wo sich Ernie befindet?«, wollte er von Vanessa wissen.

Sie schniefte zweimal, ehe sie antwortete. »Er ist nicht hier. Lucius sagte, dass Ernie schon seit gestern ›drüben‹ ist. Ich hab keine Ahnung, was er damit meint.«

»Wer ist Lucius?«, fragte Tom.

Vanessa begann zu lächeln. »Der andere Typ von der Schwarzen Horde, der vor der Tür.«

»Dieser schmuddelige Kerl?«

»Genau. Ich glaub, er steht auf mich.«

Tom seufzte. Vanessa war ohne jeden Zweifel sehr attraktiv. Selbst mit den schwarz gefärbten Haaren sah sie umwerfend gut aus, und die engen, schwarzen Klamotten brachten ihre weichen Rundungen verführerisch zur Geltung. Ihm wurde warm ums Herz, und sein Puls beschleunigte sich, als er sich dieser Tatsache bewusst wurde. Sofort kämpfte er dieses Gefühl nieder. Nicht vergessen: Vanessa ist ein durchtriebenes Miststück. Sie hat dich damals betrogen! Sie war mit Stevie Rodgers im Bett, dem größten Arsch der Schule, ermahnte er sich.

»Ihre Mannschaft scheint zwar tadellos ausgebildet«, riss ihn Wimilles Stimme im rechten Moment aus den Gedanken. »Leider erkenne ich deutliche Mängel bei ihrem Kommandanten.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte die Stimme Reumanns nervös.

»Es gibt einen guten Grund, warum mich der Erste Offizier empfangen hat. Sie waren unpässlich, Captain. Aufgrund Ihres anhaltenden Drogenkonsums.«

»Woher … wie können Sie das wissen?«

»Das MCD weiß alles, Captain. Sie haben sich erst vor Kurzem das Hemd in die Hose gestopft und sich eiligst die Hände gewaschen. Allerdings nicht wegen eines Toilettenganges. Ihre Fingerspitzen sind verfärbt. Wenn ich die Art der Verfärbung richtig deute, kommt es vom Drehen bestimmter Zigaretten. Marihuana, wenn ich mich nicht sehr täusche. Bitte erklären Sie mir, wie ein drogensüchtiger Kommandant ein Schiff wie die Zaltic Asp führen will, falls es zu Schwierigkeiten kommen sollte?«

Tom drückte sich das Mikro fester gegen den Knochen hinter dem Ohr. Die folgenden Worte des Captains konnte er nicht verstehen. Dafür aber die Reaktion Wimilles umso besser.

»Wenn Sie meinen, es hilft Ihnen, vom Thema abzulenken, dann nur zu. Aber weil wir gerade dabei sind: Kennen Sie das Verfahren, wie Rekruten auf die andere Seite zu schicken sind?«

»Selbstverständlich. Es ist nicht das erste Mal, dass wir den Apparat benutzen, Direktor Swift. Wir haben in den letzten sieben Jahren viele zehntausend Tonnen Güter von hier nach drüben verbracht. Im Transport zwischen den Welten sind wir inzwischen wahre Meister«, entgegnete der Captain mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein.

»Dann bestehe ich auf einer Demonstration«, sagte Wimille und fügte nach einem kurzen Moment noch ein »Auf der Stelle« an.

Es folgte eine Reihe von elektronisch klingenden Geräuschen und verschiedene Rufe, welche wohl mit dem Auslaufbefehl für das Schiff zu tun hatten.

Tom sog scharf die Luft ein. Was hatte Wimille denn jetzt vor? Das war doch überhaupt nicht der Plan gewesen! Sie wollten eigentlich von Bord verschwinden, bevor die Zaltic Asp auslief. Andererseits befand sich ihr Zielobjekt, Ernie Fraud, gar nicht mehr an Bord, dafür aber Vanessa! Sie mussten runter von diesem Schiff, und zwar sofort. Toms Befürchtung, dass Wimille in seiner Rolle als ›Direktor Swift‹ allzu sehr aufgehen würde, schien sich zu bestätigen. Der ganze Plan war in Gefahr; im Grunde war er schon gescheitert. Ganz ruhig bleiben, entschied er. Was könnte Wimille vorhaben? War es möglich, dass er …

»Vanessa, du musst jetzt sehr stark sein«, sagte er zu dem wieder leise schniefenden Mädchen und fasste sie behutsam an der Schulter.

Sofort stieß sie seine Hand fort. »Lass das! Ich bin keine zwölf mehr, okay? Sag mir, was los ist«, blaffte sie giftig.

Er kam nicht mehr dazu, ihr eine Antwort zu geben. Die Tür öffnete sich. Lucius Schmuddel stand mit zwei bewaffneten Wächtern draußen im Korridor.

»Ihr zwei, mitkommen«, herrschte er sie an.

Tom stand auf und wartete, bis Vanessa seinem Beispiel folgte. Gemeinsam schlossen sie zu den Männern auf. Schmuddel nickte in Richtung Korridor. »Da lang!«

»Was habt ihr vor?«, fragte Vanessa verwirrt.

Tom glaubte beinahe zu spüren, wie schnell ihr Herz raste. Beruhigend umfasste er ihre Hand und fühlte dabei ihren Puls. Oh ja, sie explodierte beinahe vor Aufregung.

»Siehst’ dann schon«, maulte Schmierius. Er stieß Tom grob in den Rücken. Ganz klar, der Kerl mochte ihn nicht.

»Tom, was passiert hier?«, wollte Vanessa von ihm wissen.

Schmuddel warf Tom einen neugierigen Blick zu. »Heißt du nicht Henry, du Scheißer? Henry Fowler?«

Autsch, dachte Tom und schlug sich gedanklich mit der flachen Hand gegen den Kopf. Er hatte vergessen, Vanessa in seine Rolle einzuweihen. Wie blöd kann man sein?, schalt er sich selbst. Vielleicht ließ sich die Situation noch retten.

»Stimmt schon. Aber Tom ist mein Spitzname. So nennen mich alle meine Freunde.«

»Ihr kennt euch?«

»Klar. Und Ernie Fraud ebenfalls. Drum sind wir hier. Ist doch logisch, oder?«

Lucius schien sich damit zufriedenzugeben. Den beiden Wachen war es sowieso egal. Sie führten Vanessa und Tom die Treppen hinunter, vorbei an weiteren Korridoren, immer tiefer in die Eingeweide der Zaltic Asp.

Unterdessen holte Drecksack ein Smartphone aus seiner Hosentasche und tippte darauf herum. »Henry Chester Fowler, geboren 1975«, las er nach einem Augenblick vor.

Tom hielt die Luft an. Die Wachen und Vanessa gingen weiter. Lucius Schmuddel blieb dagegen stehen. »Hä? Werd’ ich hier verarscht?«

Ich muss schnell sein, durchfuhr es Toms, sehr schnell sogar. Wie ein Blitz rammte er dem Sicherheitsmann zu seiner Rechten den Ellenbogen in die Magengrube – so fest er konnte. Mit einem Würgen ging der Mann in die Knie, nur um sofort seine Nase mit Toms Faust bekannt zu machen. Es knackte vernehmlich, und dann plumpste der Kerl wie ein nasser Sack zu Boden. Im nächsten Augenblick sprang Tom dem anderen Wächter auf die Füße, trat ihm gegen das Schienbein und brachte den Mann ins Stolpern. Er nutzte die Wucht des Wächters, um ihn Kopf voraus gegen die stählerne Korridorwand zu rammen. Keuchend rutschte der ZTC-Wächter zu Boden. Nun griff Schmierius an, der sich endlich von seiner Verblüffung erholt hatte, und stürzte mit einem wilden Brüllen vorwärts.

Seinem ungepflegten Äußeren hätte man es gar nicht zugetraut, aber Tom erkannte sofort, dass dieser Kerl der gefährlichste Gegner von den dreien war. Lucius Schmuddel war ein Kämpfer der Schwarzen Horde. Schnell packte Tom den einen Wächter, der sich eben wieder aufrappelte, und stieß ihn Schmuddel entgegen.

Schrate, Kobolde, Piraten; Tom hatte schon gegen allerhand üble Mistkerle gekämpft. Jedes Mal war es um Leben und Tod gegangen. Er wusste inzwischen nur zu gut, wie man seine Haut teuer verkaufte. Doch das konnten sich diese drei Typen bestimmt nicht einmal vorstellen. Noch ehe Schmuddel wieder freies Feld hatte, grätschte Tom ihm zwischen die Beine und brachte ihn so zu Fall. Dann wirbelte er blitzschnell herum und verpasste dem anderen Sicherheitsmann zwei schnelle Fauststöße in den Solarplexus. Nach Luft japsend ging der Wächter zu Boden. Lucius kämpfte sich brüllend auf die Füße, aber Tom war schneller, sprang den Kerl mit durchgestreckten Beinen an und rammte ihn auf das Deck. Sofort packte er den Schädel des Mistkerls und hämmerte ihn einmal, zweimal, dreimal gegen den Boden. Schmuddel verdrehte die Augen, und sein Körper erschlaffte. Schnaufend stand Tom auf, suchte nach Vanessa.

Sie stand nur ein paar Meter entfernt, kreidebleich im Gesicht und zitternd. »Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!«, rief sie hysterisch.

Tom sprang zu ihr, packte sie am Handgelenk. »Die stehen so schnell nicht mehr auf. Komm, es ist Zeit, abzuhauen«, sagte er.

Im nächsten Augenblick sprangen die Alarmglocken im Schiff an, so laut, dass sich Tom instinktiv an die Ohren griff. »Feueralarm«, erkannte er. Und nicht nur das. Rund um sie herum schlossen sich die Feuerschotts und versperrten ihm und Vanessa jeden Fluchtweg.

Wimilles ›kleine technische Spielerei‹ entfaltete ihre Wirkung. Auf dem Weg zur Brücke der Zaltic Asp hatte er vier seiner Golfbälle in kleinen Nischen versteckt, während er mit dem einen in seiner Hand pausenlos herumspielte. Auf der Brücke angelangt, hatte er die kurze Inspektion und den Tadel am Captain dazu genutzt, mit seinem Smartphone die Computer des Schiffs anzuzapfen. Auf gleiche Weise kontrollierte er auch die Golfbälle. In der Zeit, in der Tom daheim den Schlaf des Gerechten hielt, hatte er die Bälle aufgebohrt und mit Funkzünder und Pulver ausgestopft. Jeder Einzelne von ihnen war eine Mini-Bombe. Und die jagte Wimille nun mit einem einzigen Tastendruck auf seinem Telefon in die Luft.

Die Explosionen waren nur klein und verursachten nichts weiter als Rauch, aber davon genug, um den Feueralarm auszulösen und die automatischen Schutzeinrichtungen zu aktivieren.

Überall auf dem Schiff schlossen sich die Feuerschotts, riegelten Deck für Deck, Sektion für Sektion ab. Auf der Brücke herrschte absolutes Chaos. Niemand bemerkte, wie Wimille leise durch den Hinterausgang verschwand.

Tom kannte nicht alle Einzelheiten des Plans, aber nun reimte er sich das Gesamtbild zusammen. Natürlich! Wimille musste auch an die Schotts gedacht haben. Vor Erleichterung lachte er auf.

Vanessas Panik war indes weiter gewachsen. »Ich will nicht sterben«, heulte sie.

Tom packte sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Direkt vor ihnen öffnete sich eine Feuerschutzwand und ließ sie passieren, um sich hinter ihnen sofort wieder zu schließen. Auf diese Weise kamen sie Sektion für Sektion vorwärts. Niemand begegnete ihnen, denn während sich ihnen wie durch Zauberhand alle Türen öffneten, schlossen sie sich vor dem Personal der Zaltic Asp.

Selbst Vanessa schien allmählich zu begreifen, dass hier etwas sehr Sonderbares vorging. Verdutzt starrte sie Tom an. »Wie geht das? Was läuft denn hier nur? Tom, das macht mir Angst«, jammerte sie.

Tom musste dagegen von einem Ohr zum anderen grinsen. »Es ist Wimille. Er kontrolliert die Türen des Schiffs. Ach was! Er ist das Schiff!«, erklärte er und klatschte begeistert in die Hände. Seine bisherigen Zweifel, was das Genie Wimille Swifts betraf, waren wie weggeblasen. Allerdings stand immer noch nicht fest, wie sie von Bord entkommen sollten. Inzwischen musste sich die Zaltic Asp auf dem Meer befinden. Vielleicht gelang es ihnen, ein Beiboot zu kapern. Dazu mussten sie das Deck erreichen.

Der Fluchtweg führte sie jedoch nicht nach oben, sondern immer tiefer nach unten in die Eingeweide des gewaltigen Containerschiffs. Die letzte Tür, die sich ihnen öffnete, führte in einen riesigen Frachtraum, eine leere, kalte Halle aus Stahl. Nur ein paar Neonröhren an den Wänden spendeten etwas Licht.

Ganz leer war der Frachtraum jedoch nicht, wie Tom schnell herausfand. In den Boden war ein mehr als zehn Meter großer, ringförmiger Apparat eingelassen. Soweit er das im Halbdunkel erkennen konnte, bestand das Gerät aus zwölf komplex aussehenden Maschinenteilen, alle mit dicken Kabeln verbunden. Ein sonores Brummen verriet, dass der Apparat in Betrieb war, und an allen zwölf Modulen blinkten kleine Bereitschaftsdioden. Das ganze Ding sah aus wie die Miniaturversion eines Teilchenbeschleunigers. Vorsichtig näherte er sich der Maschine. Alte Erinnerungen wurden wach, Erinnerungen an eines seiner ersten Abenteuer mit Veyron Swift. Oh ja, er hatte einen solchen Apparat durchaus schon einmal gesehen.

»Was ist das für ein Teil?«, fragte Vanessa eingeschüchtert. Nach all der Aufregung und der Angst musste ihr diese Maschine regelrecht gespenstisch vorkommen. Tom konnte es ihr nicht verdenken. Ihm ging es ganz genauso.

»Das, Verehrteste, ist der Weg, den Ihr Mr. Fraud genommen hat«, erklang die helle Stimme von Wimille Swift hinter ihnen. Vanessa fuhr mit einem Schrei zusammen, während Tom vor Schreck einen Satz nach vorn machte. Veyrons Bruder hatte sie offenbar bereits erwartet und trat nun aus den Schatten des Frachtraums.

»Es ist ein künstliches Durchgangstor«, verdeutliche Tom Wimilles kryptische Worte.

Vanessa schien das jedoch nicht viel weiter zu helfen. »Ein Tor? Wohin?«

»Nach Elderwelt. Der Ort, wo Ernie hingeschickt wurde.«

Vanessa bedachte Tom mit einem Blick, als habe er den Verstand verloren. »Nie gehört. Wo soll denn Elderwelt sein? Ist das in der Nähe von Irland oder der Arktis?«

»Nein, ganz woanders.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Geografie hat mich nie interessiert. Also, wo liegt jetzt dieses Elderwelt?«

»Da gibt’s ’ne Menge, das dich nicht interessiert, Vanny«, meinte Tom sarkastisch. Trotz der ernsten Lage konnte er sich diesen fiesen Seitenhieb einfach nicht verkneifen. Dann deutete er auf die Umgebung. »Elderwelt ist hier, mitten unter uns. Unsichtbar und durch nichts aufzuspüren, mit Magie vor unseren Augen verborgen.«

»Oder anders ausgedrückt, quantenverschoben«, ergänzte Wimille mit wissenschaftlicher Genauigkeit und brummelte in abfälligem Ton: »Magie … so ein Unfug.«

Er trat vor und schubste Vanessa und Tom in das Zentrum des Rings, bevor er selbst sich hineinbegab. Dann zückte er sein Smartphone und tippte darauf herum. »Es ist Zeit, von diesem Schiff zu verschwinden. Die Batterien des Ohr-Mikros sind erschöpft, und den Schwindel mit den Rauchbomben wird man inzwischen entdeckt haben. Wahrscheinlich überprüfen sie gerade meine ID-Karte. Auch da wird der Schwindel früher oder später auffliegen«, erklärte Wimille. »Bereit für eine Reise nach Elderwelt?«

Tom nickte, doch im nächsten Moment kam ihm ein besorgniserregender Gedanke. »Wir haben keine Ahnung, wo wir landen, oder?«

»Nicht wirklich. Aber die Wahrscheinlichkeit dürfte sehr hoch sein, dass es sich um eine Einrichtung der Schwarzen Horde handelt«, meinte Wimille. »Ich habe die Einstellungen der letzten Aktivierung übernommen, folglich müssen wir am selben Ort herauskommen wie der junge Mr. Fraud. Aber ich sollte euch beide warnen: Ich habe den Zugriff auf die Software dieser Maschine blockiert. Sobald ich sie aktiviere, kann sie mindestens zweihundert Stunden danach nicht mehr benutzt werden. Eventuell sogar länger, das hängt ganz von den IT-Spezialisten ab, welche die ZTC auf dieses Schiff schickt«, sagte Wimille und musterte sie streng.

Vanessa hielt ausnahmsweise den Mund, vermutlich, weil sie nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Tom zuckte nur mit den Schultern. »Ich will sowieso nicht hierher zurück«, meinte er lapidar.

Wimille nickte und drückte eine Reihe von Tasten auf seinem Telefon. Gleich darauf wurde das Brummen des künstlichen Durchgangs lauter, die Luft heizte sich auf, es roch nach verbranntem Ozon. Blitze sprangen aus den zwölf Modulen. Dann ein lauter Knall. Tom zuckte zusammen – und fand sich an einem ganz anderen Ort wieder.

Über ihnen wölbte sich ein nächtlicher Sternenhimmel, und jenseits des ringförmigen Apparats setzte sich die Welt in Form einer kargen Steppe fort. In der Ferne ließen sich die spärlichen Lichter einer fremden Stadt ausmachen.

Tom sah, wie Vanessa vor Staunen die Kinnlade nach unten sackte. Unweigerlich musste er lächeln. Für sie war das alles neu und musste einem Wunder gleichen.

»Wo sind wir? Ist das alles wirklich wahr?«, fragte sie verunsichert.

Das war eine gute Frage. So friedlich die ferne Stadt auch wirkte, umso unfreundlicher zeigte sich die unmittelbare Umgebung. Ein tiefes, metallisches Stampfen lag in der Luft; irgendwo lief ein gewaltiger Motor. Hinter ihrem Rücken erhob sich ein hässliches, schwarzes Gebäude. Mehr als fünfzig Meter in alle Richtungen maß es, und nahezu zehn Meter in der Höhe. Vier riesige Schornsteine reckten sich dem nächtlichen Himmel entgegen, stießen schwarze Rauchschwaden aus, die den ganzen südlichen Teil des Himmels bedeckten. Tom sog scharf die Luft ein. Es stank überall nach verbranntem Benzin.

»Ist das eine Fabrik?«, wollte Vanessa wissen.

Wimille schüttelte den Kopf. »Das ist ein Kraftwerk, um den Durchgangsapparat mit Energie zu versorgen. Da drin dürften sich vier riesige, mit Benzin befeuerte Dampfkessel befinden, welche eine oder mehrere Turbinen antreiben, die wiederum den Apparat mit Strom versorgen«, erklärte er und deutete abwechselnd auf die vier Schornsteine.

Von einer für Tom ungesund anmutenden Neugier angetrieben stapfte Wimille auf die Anlage zu, um sie genauer zu inspizieren. Tom machte Anstalten, ihm zu folgen, weil er Wimille nicht aus den Augen verlieren wollte. Vanessa blieb dagegen wie angewurzelt stehen und starrte blicklos vor sich hin. Vermutlich war sie mit ihren Gedanken sonst wo, weil sie mit dem abrupten Wechsel der Welten nicht klarkam. Tom musste sie an der Hand nehmen und führen, und sie stolperte beinahe, als sie sich zögernd in Bewegung setzte. Das schien sie ins Hier und Jetzt zurückzubringen.

Sofort riss sie sich von ihm los. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr«, giftete sie.

Tom schnaubte. »Nein, aber trotzdem machst du dir gleich in die Hosen.«

Sie traten aus dem Kreis des Apparats und hielten auf das Kraftwerk zu. Die ganze Anlage der ZTC, Kraftwerk und Portal, war mit Stacheldraht abgesichert. Zwei große, eiserne Tore bildeten die einzigen Wege aus dem Verhau.

»Das sieht aus wie im Krieg. Wer baut denn so etwas nur?«, rief Vanessa entgeistert.

Tom musste ihr recht geben, allerdings kannte er auch schon die Antwort darauf: die Zaltianna Trading Company! Hinter dem Kraftwerksgebäude fanden sie eine Reihe gigantischer silberner Treibstofftanks, Türmen gleich, auf denen das schwarz-rote Logo der Zaltianna Trading Company prangte. Dicke metallene Rohre führten von ihnen ins Kraftwerk. Genauso gut hätte eine Warnung vor nuklearer Verseuchung draufstehen können, so einladend wirkte das alles auf Tom. Wäre es nach ihm gegangen, sie hätten sofort wieder das Weite gesucht. Er hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Ein Kraftwerk mitten in einer Steppe und nirgendwo eine Menschenseele? Da war doch etwas faul! »In Elderwelt reitet man auf Pferden und kämpft fast überall mit Schwert, Speer, Pfeil und Bogen. Elektrischer Strom ist Zauberei oder Teufelswerk, je nachdem, in welchem Land man sich befindet. Es existiert lediglich eine einzige Insel, auf der man modernere Technologie benutzt. Dieses Wüstenland ist aber kein Teil davon«, murmelte Tom, um Vanessa einen kleinen Einblick zu geben, in was für einer Welt sie sich befanden.

Sie hatten Wimille eingeholt. »Es hat den Anschein, als wollte die Zaltianna Trading Company das ändern«, meinte Veyrons Bruder und deutete auf ein weites Feld, auf dem fünf schneeweiße Tanks standen.

Tom folgte Wimille, der auf die Behälter zusteuerte. Jeder von ihnen war mit zahlreichen Warnhinweisen versehen und einer blutroten Aufschrift: »UNBRAUCHBAR! ZURÜCK AN ABSENDER!« Laut Etiketten fassten diese Tanks zehntausend Liter, womit sie deutlich kleiner als die Türme am Kraftwerk ausfielen.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Tom und kratzte sich am Kopf.

Wimille untersuchte einen der Tanks genauer. Dann begann er listig zu lächeln. »Ah! Wasserstoff!, aber kein Flüssigwasserstoff. Ich nehme an, darin liegt wohl das Problem. Die ZTC hat die falsche Art von Wasserstoff geliefert. Ein ganz banaler Logistikfehler. Fünfzigtausend Kubikmeter, eine ganz ordentliche Hausnummer. Ich muss zugeben, dass sich mein Mitleid mit der ZTC arg in Grenzen hält«, erklärte er und kicherte.

Vanessa verlor rasch das Interesse an dem wirren Geschwafel von Toms verrücktem Onkel. Wimille erzählte gerade etwas über die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten von Wasserstoff – irgendwas mit Raketen oder so. Viel aufregender und faszinierender fand sie die Tatsache, dass sie tatsächlich auf magische Weise in ein fremdes Land gereist war. Vorsichtig löste sie sich von Tom und erkundete das Areal dieses seltsamen Kraftwerks auf eigene Faust. Wer immer es erbaut hatte, schien ein Faible für Stacheldraht zu haben, selbst das Dach und die Kamine des Gebäudes waren damit umkränzt. Eigentlich sah aber alles ganz normal aus; Bilder von ähnlichen Anlagen hatte sie schon gesehen. Von wegen magische Welt! Ganz sicher aber war sie eben noch auf den Schiff gewesen, und jetzt befand sie sich hier. Oder bildete sie sich das alles am Ende nur ein?

Sie biss sich in die Hand, wie sie es immer tat, wenn sie etwas aufregte oder sie zu träumen glaubte. Der stechende Schmerz, den ihre eigenen Zähne verursachten, machte ihr deutlich, dass nichts von all dem um sie herum Illusion war. Sie war wirklich hier, an diesem seltsamen Wüstenort, sie hatte Tom Packard wirklich gegen drei bullige Typen kämpfen sehen. Das alles war die Wirklichkeit – der echte Wahnsinn! »Wow«, flüsterte sie und musste unweigerlich lächeln. Wenn sie das ihren Freundinnen erzählte …

Inzwischen hatte sie sich fast ein Dutzend Meter von Tom und Wimille entfernt. Der seltsame Kauz referierte gerade über die Unzulänglichkeiten dieser Wasserstofftanks und wie man sie besser und sicherer bauen könnte. Er klang dabei wie ein Lehrer. Echt langweilig.

Dann entdeckte sie am Boden etwas, das ihre Aufmerksamkeit gefangen nahm. Kleine, runde Hügel, eher nur Kuppeln aus Sand oder Geröll in der Größe halber Fußbälle. Sie war sich sicher, dass die bis vor einem Moment noch nicht da gewesen waren. Vorsichtig näherte sie sich ihnen, um sie genauer zu untersuchen. Hatte es nur den Anschein, als würden sich diese Dinger bewegen – oder wirkte es nur so, weil es dunkel war?

»Hey«, rief sie Tom und Wimille zu. »Seht euch mal das an.«

Als hätte sie damit ein Stichwort gegeben, explodierten die Kuppeln in Wolken aus Sand und Staub. Heraus sprangen schwarz gekleidete Ungeheuer. Vanessa war im ersten Moment starr vor Schreck, sie schienen aus dem Boden zu wachsen wie groteske Pilze: menschlich von Größe und Gestalt, die Gesichter jedoch grausige Fratzen. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Überdeutlich sah sie die Bestien, deren Hautfarbe von Aschgrau bis Schwefelgelb changierte. Wulstige Narben glänzten im Mondlicht, und mit Entsetzen sah sie, dass einige von ihnen auf schlecht verheilten Knochenbrüchen daherschlurften. Die Augen der Monster glommen in der Dunkelheit wie die von Raubtieren, schleimiger Sabber glänzte auf gelben, teilweise verfaulten Zähnen, als sie ihre schwarzen Münder aufrissen und hechelten, als freuten sie sich bereits auf die Mahlzeit. Scheiße, die fressen mich auf, dachte Vanessa in heller Panik. Kreischend wirbelte sie erneut herum und rannte. Die geifernden, fauchenden Unholde waren sofort hinter ihr her, schwangen Dolche und schartige Säbel in ihren Klauen.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch Wimille und Tom von diesen Unholden angegriffen und zurückgetrieben wurden. Eine ganze Gruppe der Bestien schnitt Vanessa den Weg ab. Verzweifelt sprang sie auf Tom zu und klammerte sich an ihm fest. Wimille Swift, der sich eben noch gewehrt hatte, schien plötzlich zur Salzsäule erstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Ungeheuer an, als könne er vor Angst keinen Muskel rühren. »Tom, was sind das? Was sind das für Monster?«, heulte sie verzweifelt.

»Schrate«, rief Tom ungläubig. Die Kerle umkreisten sie, fauchten und grölten, lachten und drohten ihnen mordlüstern mit ihren Waffen. Wo waren die auf einmal hergekommen?

Er wollte schon das Daring-Schwert zu sich rufen, überlegte es sich jedoch anders. Wenn er jetzt zu den Waffen griff und die Unholde niederstreckte, würde ihre Tarnung auffliegen. Vielleicht gab es einen anderen Weg aus dieser Klemme. Cool bleiben, entschied er. Wimilles leichenblasses Gesicht deutete darauf hin, dass von ihm diesmal kaum Hilfe zu erwarten wäre. Also musste er nun die Rolle spielen, die ihm von Anfang an zugedacht war.

»Die sehen aus wie Orks«, meinte Vanessa voller Angst.

Das empörte die Schrate, einer sprang vor, um sie anzugreifen, seine scharfen, schiefen Zähne fletschend. Tom schob sich schützend vor Vanessa.

»Ein Ork sollte dich mal in die Finger kriegen, du kleines Miststück!«, kreischte der Schrat. »Er würde dir das Gedärm rausreißen!«

»Genau, du dreckiges Flittchen! Wir sind nämlich zivilisiert und anständig«, fauchte ein anderer.

»Hey, beruhigt euch«, brüllte Tom die Schrate an, die daraufhin überrascht zurückwichen. »Seht ihr nicht, wer wir sind? Das hier ist Direktor Swift vom Management Control Department!«

»Und wir sind die Schwarze Horde«, konterte ein großer, bulliger Schrat-Hauptmann, dessen Unterkiefer arg in die Breite wucherte. Seine Zähne ragten wie Hauer aus dem Maul und reichten fast bis unter seine krumme Nase.

»Wir auch, Mann. Ich bin Henry Fowler«, erwidert Tom so furchtlos, wie er konnte. Mit Schraten war nicht einfach umzugehen, das hatte er inzwischen gelernt. Am sichersten war es, sie sofort zu erschlagen, aber diese Option erschien momentan ausgesprochen unklug.

»Ausweisen, aber plötzlich«, kollerte der Hauptmann unbeeindruckt.

Tom stupste Wimille an. Der griff zitternd unter sein Jackett und fischte seine ID-Karte heraus. Mit einem ungehaltenen Knurren nahm sie der Hauptmann entgegen. Aus dem Gürtel holte er ein kleines Kartenlesegerät und zog Wimilles Ausweis durch. Tom erschrak regelrecht, mit welcher Selbstverständlichkeit dieses primitive, stumpfsinnige Ungeheuer mit derart fortschrittlicher Technologie umzugehen verstand.

Als eine grüne Diode aufzuleuchten begann, schien der Hauptmann zufrieden und gab Wimille die Karte zurück. Der steckte sie sofort wieder ein, dabei wie hypnotisiert die Schrate anstarrend.

»Da pisst ihr MCD-Typen euch ganz schön in die Hose, wenn ihr die wirkliche Schwarze Horde seht – und nicht diese weichgespülten Menschlein, was?«, lachte der Hauptmann.

Gackernd und krächzend fielen seine Artgenossen mit ein. Plötzlich trat Vanessa vor, was die Schrate sofort wieder in Verteidigungsstellung gehen ließ.

»Was ist mit Ernie? Könnt ihr uns sagen, wo wir Ernie finden? Bitte, ich muss es wissen.«

Verdutzt starrten sich die Schrate an. Einer tippte sich an die Stirn, die anderen lachten abfällig.

»Nie gehört«, meinte der Hauptmann kalt.

»Ein Junge, so alt wie wir. Er muss gestern hier angekommen sein«, versuchte Vanessa die Sache zu erklären.

Tom fand es erstaunlich, wie schnell sie ihre Angst beiseiteschob, wenn es um Ernie ging. Als wären die Schrate nette Verkehrspolizisten, die man mal eben nach dem Weg fragen konnte …

Die Schrate wurden still und schauten einander an.

»Ach der … Den werdet ihr schon noch kennenlernen! Ihr geht jetzt nach Seramak runter und begleitet den Direktor zur Unterkunft. Nachts herrscht ein strenges Ausgehverbot! Morgen meldet ihr euch im Rekrutierungsbüro, sonst setzt’s was«, bellte der Hauptmann und wedelte in Richtung Norden, wo die Lichter der fremden Stadt lagen.

Tom salutierte zackig, was die Schrate jedoch nur gackernd auflachen ließ.

»So ein Blödsinn! Deine Späßchen werden dir schon noch vergehen, Schwarzlocke! Abmarsch!«, brüllte der Hauptmann.

Tom nickte, nahm Wimille und Vanessa bei der Hand und führte sie rasch fort. Die ganze Zeit spürte er die bohrenden Blicke der Schrate in seinem Rücken, ihre Mordgier schien beinahe greifbar. Noch nie in seinem Leben hatte ihn ein so ungutes Gefühl geplagt. Schrate im Rücken, sein Leben von deren Wohlwollen abhängig, Vanessa Sutton unsterblich in diesen irren Ernie verschossen und Wimille Swift vor Angst zu nichts mehr zu gebrauchen.

Da steckte er ja in einem sauberen Schlamassel!

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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