Читать книгу Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer - Страница 7

5. Kapitel: Im Reich der Seelenkönigin

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Jane und Veyron waren von der Seelenkönigin einfach auf dem Platz mit dem Weltentor stehen gelassen worden. Bedrückt vermerkte Jane, dass sich der Platz mehr und mehr leerte, bis sie beide die einzigen lebenden Wesen auf dem Hof waren. Sie machte Veyron Vorhaltungen, in welchen Schlamassel er sie da nun wieder hineinmanövriert hatte, doch der ging kaum darauf ein.

»Machen wir das Beste draus, Willkins«, war alles, was er zu sagen wusste.

Als wäre die ganze Misere nichts anderes als ein Sonntagsnachmittagsausflug, spazierte er über den Hof und untersuchte verschiedene Nischen und Türen. Wie sich herausstellte, ruhten die Gebäude der Burg auf der Spitze eines zehn Meter hohen Felsens. Der Hof, auf dem sie sich befanden, war nichts weiter, als der eingeebnete, gepflasterte Gipfel, der mit der Befestigungsmauer auf einer Ebene lag. Über eine in den Fels getriebene Treppe gelangte man schließlich in den unteren Teil der Burg.

Veyron trat er an die Zinnen der Brustwehr und schaute auf das Land hinaus. Jane ging ihm hinterher, doch viel gab es dort nicht zu sehen. Ansmacht, wie das Reich der Seelenkönigin genannt wurde, hatte sich an diesem Tag fast vollständig in Nebel gehüllt. Ratlos, was sie tun sollte, setzte Jane sich auf den Boden vor dem Weltentor. Wieso hatte sie sich bloß zu diesem Irrsinn bequatschen lassen? Veyron hatte sie, während er mit fast kindlicher Begeisterung jedes Detail der Burg inspizierte, vollständig ignoriert. Du musst total den Verstand verloren haben, Jane, dachte sie. Veyron hat mein Loyalitätsgefühl ausgenutzt! Immer wieder macht er das!

Aber du hättest ja nur ›Nein‹ sagen müssen, meldete sich ein anderer Teil ihres Verstandes. Die Wahrheit war, dass sie einfach der Versuchung nicht hatte widerstehen können, nach Elderwelt zurückzukehren. Allerdings hatte sie auf einen weitaus gastfreundlicheren Ort spekuliert. Selber schuld. Jetzt musste sie – genau wie Veyron es gesagt hatte – das Beste daraus machen.

Es war etwa eine Stunde seit ihrer Ankunft vergangen, als zwei Sklaven aus dem Hauptgebäude der Burg traten, ein Junge und ein Mädchen, beide noch sehr jung, aber armselig gekleidet. Eiserne Manschetten an den Handgelenken zeugten von ihrem Status, das Zittern ihrer Gliedmaßen und die Blässe im Gesicht von ihrer Furcht. Sie traten vor Jane und verbeugten sich artig.

»Ich bin Uric und das ist Femoin«, stellte der Junge sich und das Mädchen vor. »Wir sollen Euch und Meister Swift in Eure Gemächer bringen. So lautet der Befehl der Königin«, stotterte er.

Jane erkannte sofort, dass er die Worte auswendig gelernt hatte. Seine Aussprache war miserabel, sehr wahrscheinlich sprach er gar kein Englisch. Sie nickte zustimmend, was die beiden jungen Leute sichtlich erleichterte, und rief Veyron. Interessiert kam er näher. Rasch erklärte sie ihm den Sachverhalt, worauf er den beiden Sklaven aufmunternd zulächelte.

»Dann lasst uns mal sehen, wo uns die Königin unterzubringen gedenkt«, meinte er.

Uric und Femoin schauten sich nur verwirrt an. Veyrons Lächeln wurde noch gutmütiger. Schließlich nickte auch er in freundlicher Zustimmung. Die Sklaven verbeugten sich gehorsam, dann eilten sie davon, Jane und Veyron hinterdrein.

Das Innere der Burg stand in Sachen Tristheit dem Äußeren in nichts nach. Die Mauern waren alt, unverputzt, und abgesehen von ein paar Fackelhaltern gab es weder Zierrat noch Wandteppiche oder Gemälde, nichts, woran sich das Auge zu erfreuen vermochte. Dafür entdeckte Jane an allen Ecken und Biegungen die schwarzen Wachen der Seelenkönigin. Sie alle blickten starr und leer aus trüben Augen vor sich hin, rührten sich keinen Millimeter, schauten ihnen nicht einmal entgegen. Als sie an zwei weiteren Wachen vorbeikamen, konnte Jane der Versuchung nicht widerstehen. Blitzschnell berührte sie einen der Männer, doch nicht einmal ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Da können selbst die Grenadier Guards der Königin noch was lernen, dachte sie beeindruckt. Wahrscheinlich standen sie alle unter dem Einfluss der Seelenkönigin und konnten sich gar nicht bewegen, selbst wenn sie wollten. Arme Kerle, befand sie.

Uric und Femoin führten sie eine hohe Treppe hinauf. Im zweiten Stock des Hauptgebäudes öffneten sie eine schwere Holztür und deuteten hinein. »Meister Swift«, sagte Uric und versperrte Jane den Weg, sodass nur Veyron hineingehen konnte.

Jane erhaschte dennoch den Blick auf ein karg eingerichtetes kleines Zimmer, das außer einem Waschzuber nur ein Bett und einen kleinen Nachttisch enthielt. Veyron schien dennoch zufrieden und nickte den Sklaven zu. Sie verbeugten sich abermals, schlossen vorsichtig die Tür und führten Jane dann weiter. Drei Türen weiter lag Janes Zimmer, ein Raum mit identischen Maßen, der aber immerhin über ein Fenster nach draußen verfügte. Na ja, Schießscharte traf es wohl eher. Sie entdeckte zumindest kein Fensterglas, und die Öffnung schien allenfalls breit genug, um den Kopf hinauszustrecken. Vorsichtig setzte sie sich auf das Bett, nur um festzustellen, dass es überraschend bequem war. Auf dem Nachttisch standen zwei halb abgebrannte Kerzen. Anders als in Veyrons Unterkunft fehlte in ihrem Zimmer der Waschzuber.

»Können wir sonst noch etwas für Euch tun?«, fragte Uric neugierig.

Jane sprang überrascht auf. »Ich dachte, Ihr zwei sprecht meine Sprache gar nicht!«, rief sie aus.

Die Sklaven sahen sich betreten an, dann wandten sie sich wieder Jane zu. »Haben wir auch nicht«, sagte Uric.

»Sie hat es getan«, wisperte Femoin und deutete vielsagend nach oben. »Sie gab uns vorhin dieses Wissen. Es schmerzt sehr«. Sie tippte sich mit zwei Fingern gegen die Schläfen.

Jane verstand. Die Seelenkönigin und ihre telepathische Kontrolle. Sie hatte ihre Sprachkenntnisse auf die beiden jungen Leute übertragen. Offenbar war das kein sonderlicher Spaß und obendrein schmerzhaft.

»Bitte, können wir sonst noch irgendetwas für Euch tun?«, fragte Uric erneut. Er wirkte fast flehend, als wollte er nicht weg von Jane.

Zu gern hätte sie allerhand erfunden, das ihr Hierbleiben nötig machen würde, doch in diesem Augenblick packte Femoin Uric am Arm und schüttelte den Kopf.

»Mach sie nicht wütend«, warnte sie ihn und deutete zur Decke. Mit Tränen in den Augen wandte sich Uric ab und trat in den Gang.

Mit bedauernder Miene folgte ihm Femoin. »Schlaft gut«, raunte sie Jane zu, dann schloss sie die Tür.

Kaum war sie allein, nahm Jane ihren Rucksack ab und stellte ihn neben das Bett. An Einschlafen war nicht zu denken. Das Schicksal der beiden Sklaven wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Lange saß sie ratlos auf dem Bett, bis die Einsamkeit sie übermannte. Veyrons Gesellschaft war besser als keine, entschied sie und machte sich auf den Weg zu seinem Gemach. Auf ihr Klopfen reagierte er nicht, und als sie die Tür öffnen wollte, fand sie diese abgesperrt. Enttäuscht und wütend kehrte sie in ihren eigenen Raum zurück und verbrachte die restlichen Stunden bis Sonnenuntergang damit, aus dem kleinen Fenster zu starren. Jane begann sich zu fragen, was Tom während ihrer Abwesenheit wohl anstellte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und studierte die letzten Nachrichten.

- Bin unterwegs!

- Bin bei Veyrons Bruder. Schwarzes Manifest! Veyron Bescheid geben!

- DRINGEND!!!

- ZTC-Alarm!

- Wimille und ich schlagen zu. Wünscht uns Glück.

Jane biss sich auf die Lippe. Die letzten Nachrichten hatte sie gar nicht an Veyron weitergegeben, zu aufregend war die ganze Reise mit der Seelenkönigin gewesen. Aber sicherlich hatte Tom die gleichen Nachrichten auch an seinen Patenonkel geschickt, und die Meldungen an Jane waren nur zur Absicherung, damit Veyron auch sicher über alles Bescheid wusste. Musste sie sich Sorgen machen? Gerade harmlos klang es nicht, was er schrieb. Aber Tom war ein kluger Junge, der schon zahlreiche Abenteuer bestritten hatte. Ihm würde schon nichts passieren. Bestimmt war er vernünftig genug, mit irgendwelchen gefährlichen Aktionen bis zu Veyrons Rückkehr zu warten.

Mit einem unguten Gefühl im Magen steckte sie das Telefon wieder weg und legte sich aufs Bett. Seit ihrer Ankunft hatten sie die Seelenkönigin nicht mehr zu Gesicht bekommen, und auch sonst keinen Offiziellen von Ansmacht – sofern es die überhaupt gab und sie keine Zombies waren. Von Höflichkeit hielt die Dame nicht viel, aber was hatte sie erwartet? Durch die Schießscharte sah sie die letzten Strahlen Sonnenlicht ins Zimmer fallen, dann wurde es dunkel. Nach all der Aufregung setzte ihr die Müdigkeit überraschend schnell zu. Schließlich schlief sie ein.

Doch die Träume brachten ihr keinen Frieden. Immer wieder erschien die monströse Fratze des Bestiengenerals in ihrem Traum, immer wieder verwandelte er sich vor ihren Augen in ein fliegendes Ungeheuer. Dunkelwölfe lauerten in den Schatten, ihre roten Augen starrten sie an, fletschten die Zähne. Dann war da Veyron, der sie ständig ignorierte, wenn sie etwas zu ihm sagte, bis sie schier verzweifelte, und die Seelenkönigin. In ihren Träumen kam sie mehr als einmal durch irgendeine Tür herein und begutachtete sie von oben bis unten, um auf geisterhafte Weise wieder zu verschwinden.

Janes Träume liefen wie ein Film weiter. Einmal stand plötzlich ein Schatten mitten in ihrem Zimmer. Mannshoch überragte er ihr Bett. Jane wurde ganz mulmig, und sie rief um Hilfe, doch keine Silbe drang aus ihrem Mund. Der Schatten beugte sich über sie, das Mondlicht enthüllte ein teuflisches Grinsen in seinem Gesicht. Sie erkannte es wieder, dieses Gesicht: Dunkelgrau war es, uralt und ausgetrocknet wie bei einer Moorleiche, umrahmt von dünnem, schlohweißem Haar. Der Blick aus den tiefschwarzen Augen heftete sich auf Jane. Auf dem Haupt trug die Gestalt eine Krone aus acht Zacken. Der Schattenkönig! Der Dämon, der sie letztes Jahr fast getötet hatte.

Mit einem Schrei sprang Jane in die Höhe, spürte einen stechenden Schmerz in der Hüftgegend, genau da, wo der Schattenkönig sie getroffen hatte. Instinktiv fasste sie sich an die Stelle. Augenblicklich verschwand die Pein. Panisch sah sie sich in ihrem Zimmer um.

Es war noch immer dunkel, aber vom Schattenkönig fehlte jede Spur – es war nur ein Traum gewesen! Erleichtert sackte Jane zusammen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Vom Schattenkönig hatte sie lange nicht mehr geträumt. Was das wohl zu bedeuten hatte? Es muss an der Finsternis liegen, die diese Gemäuer ausstrahlen, vermutete sie.

Sie nahm ihren Rucksack zur Hand und kramte darin herum, bis sie ein Feuerzeug fand. Schnell entflammte sie die beiden Kerzen auf dem Nachttisch und legte sich dann wieder hin. Ohne Licht würde sie hier auf keinen Fall mehr ein Auge zu tun. Und morgen würde sie sich Veyron vorknöpfen. Wer, wenn nicht er, war an dieser misslichen Lage schuld …

Am nächsten Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen, suchte Jane nach Veyron. Diesmal fand sie seine Zimmertür offen vor, doch der Mann selbst war nicht anwesend. Auf dem kleinen Nachttisch hatte er eine Nachricht hinterlassen. Mache eine kleine Exkursion. Verärgert zerknüllte Jane den Zettel und warf ihn in die Ecke. Für ihren Geschmack zeigte Veyron bei der ganzen Sache viel zu viel Begeisterung, und es schien ihr offensichtlich, dass er ihr aus dem Weg ging, seit sie hier angekommen waren. Sie begann sich zu fragen, warum er sie überhaupt auf dieses Abenteuer mitgenommen hatte. Aber so leicht würde sie es ihm nicht machen, einfach nur still und stumm der Dinge zu harren, die da kommen würden.

Entschlossen verließ sie sein Zimmer und marschierte schnurstracks den Korridor hinunter. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die regungslosen Wachen nach Veyron zu fragen. Sie schienen sich seit gestern überhaupt nicht bewegt zu haben. Ihre trüben Augen starrten noch immer ins Nichts.

»Ihr wisst auch nicht, wo sich Veyron befindet, oder?«, seufzte sie, wohl wissend, wie hoffnungslos es war, diese armen Teufel überhaupt anzusprechen. Umso erstaunter war sie, als einer der Männer plötzlich vortrat, herumwirbelte und ihr mit einem Handzeichen bedeutete, ihm zu folgen. Jane tat, wie ihr geheißen, erfüllt von einem überaus mulmigen Gefühl. Der Wächter führte sie den Gang entlang, an dessen Ende eine schwere Holztür lag, die von zwei weiteren Wachen flankiert wurde. Die Männer öffneten die Tür, als sich Jane mit ihrem Begleiter näherte, und traten zur Seite. Eine Wendeltreppe führte einen Turm hinauf, und die Kerle machte Gesten, dass sie diesem Weg folgen solle, offenbar allein, denn sie blieben stehen und rührten sich keinen weiteren Zentimeter. Jane schluckte, folgte aber widerwillig den wortlosen Anweisungen. Stufe für Stufe ging es nach oben, während sich hinter ihr die Tür schloss.

Am Ende der Treppe gelangte sie in ein großes, geräumiges Zimmer, beinahe eine Halle, die wohl das ganze oberste Stockwerk des Turms einnahm. Ein Bett stand hier, groß genug, um mindestens sechs Personen aufzunehmen, mehrere schwarze Schränke und ein großer Tisch, der von zahlreichen Stühlen umstanden war. Dunkle Vorhänge verdeckten die kahlen Wände, abgesehen von einer einzigen Stelle. Dort durchbrach ein riesiges, kreisrundes Fenster die Wand, seine Verglasung war eine netzartige Metallverstrebung eingefasst. Davor stand die Seelenkönigin und blickte nach draußen. Wie eine überdimensionale Spinne schien sie in den Fäden zu hängen und ihre Beute zu belauern.

Eben kam Jane in den Sinn, wie sehr sie Spinnen hasste. Die Dämonin trug wie gestern ihr gewaltiges, schwarzes Kleid. Mit Schaudern stellte sich Jane vor, dass darunter ganz leicht acht entsetzliche Spinnenbeine Platz fänden. Doch die Seelenkönigin schenkte ihr keinerlei Beachtung, ihr blasses Gesicht war auf die nebelverhangene Landschaft außerhalb der Burg gerichtet.

»Ihr habt Euch wohl schon von Euren Verletzungen erholt«, stellte Jane nach einer ganzen Weile unangenehmen Schweigens fest.

Ein arrogantes Lächeln flog über die schwarzen Lippen der Seelenkönigin. »Der Bestiengeneral vermag mich nicht zu töten. Ha! Dies ist ihm wahrlich noch nie gelungen! Dennoch habe ich offenbar nachgelassen. Es ist wohl schon zu lange her, dass ich jemanden eigenhändig tötete. Ich bin aus der Übung«, sagte sie.

Jane fröstelte. Mit welcher Selbstverständlichkeit dieses Ungeheuer von Mord und Totschlag sprach, entsetzte sie.

Die Seelenkönigin bemerkte ihre Reaktion, und ihr Lächeln wuchs in die Breite, entblößte ihre spitzen Raubtierzähne. »Wie schwach ihr Fernwelt-Menschen geworden seid! Alle, die ich dort traf, schrecken vor Grausamkeiten zurück. Ein jeder dort fürchtet Schmerzen beinahe ebenso wie den Tod. Die Gedanken der Fernweltler leisten noch weniger Widerstand als der Pöbel dort draußen. Es war mir ein Leichtes, sie alle zu übernehmen und zu kontrollieren«, verkündete sie, wobei sie die Fäuste in überheblicher Geste in die Hüften stemmte. »Teilte ich Eure Einstellung, Jane Willkins, ich wäre längst tot! Ich beherrsche dieses Land und sichere damit mein Überleben. Herrsche oder werde beherrscht, das ist die einzige Regel, die hier etwas zählt!«

Mit jedem Wort war die Stimme der Seelenkönigin fauchender geworden. Ein bösartiger Stolz schwang darin mit. Jane wollte am liebsten den Kopf schütteln, doch sie wagte es nicht. Veyron musste den Verstand verloren haben, sich mit diesem Monster einzulassen …

Plötzlich schnellte die Seelenkönigin vor, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Sie umfasste ihren Kopf und hob sie ohne Schwierigkeiten vom Boden. Ihre schwarzen Augen studierten Jane ausgiebig, sie bleckte ihre Vampirzähne. Ein gieriges, lüsternes Lächeln flog über ihre dunklen Lippen. »Eure Furcht, sie ist beinahe greifbar … wie stimulierend. Das erregt mich … Ihr wärt ein so leichtes, so schönes Opfer …«, gurrte die Seelenkönigin.

Jane konnte sehen, welch diebische Freude über das schrecklich-schöne, blasse Gesicht unter ihr huschte. Eine regelrechte Verzückung begann die Dämonin zu erfüllen. Plötzlich änderte sich jedoch ihr Gesichtsausdruck, verwandelte sich in Furcht. Sie ließ Jane abrupt los, sodass sie zu Boden plumpste, und wich blitzschnell zurück. Wie vom Wahnsinn ergriffen taumelte die Seelenkönigin rückwärts. Ihre Furcht verwandelte sich in schiere Todesangst. Zitternd und wimmernd prallte sie gegen das große Netzfenster. Jane hoffte, dass es unter ihr zerbrach und diese abscheuliche Hexe in die Tiefe stürzte. Aber das Fenster hielt – leider.

»Er hat euch berührt«, wimmerte die Seelenkönigin, beide Hände zur Abwehr erhoben.

Die Dämonin fürchtete sich – vor ihr? Jane fand nach einem Moment der Verblüffung ihre Sprache wieder. »Wer? Von was redet Ihr?«

»Der Schattenkönig, die rechte Hand des Dunklen Meisters. Er ist mit Euch. Ich spüre seine Präsenz!«

Jane fasste sich an die Hüfte. »Er hat mich im letzten Jahr verletzt, das stimmt«, gab sie zu und zog ihr T-Shirt hoch, um ihr die Stelle zu zeigen. Zum Glück war längst alles verheilt, nicht einmal eine Narbe war geblieben.

Auf die Seelenkönigin schien dies tatsächlich eine beruhigende Wirkung zu haben. Erleichterung löste Panik und Entsetzen ab. »Also ist es nur ein Echo seiner Macht«, seufzte sie. Dann holte sie tief Luft, ihre Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. »Seid froh, dass er Euch zuerst berührte. Sein Echo schützt Euch vor meiner Macht. Geht mir aus den Augen! Verschwindet, sofort!«, zischte sie.

Das ließ sich Jane nicht zweimal sagen. Ohne ein Wort des Abschieds wirbelte sie herum und stürzte zur Treppe. So schnell sie konnte, eilte sie nach unten, fort von diesem Scheusal.

Auf den Gängen stellte sich ihr keine einzige Wache in den Weg, alle Türen waren weit geöffnet. Jane wollte gar nicht mehr zurück in ihr Zimmer, nur noch nach draußen an die frische Luft. Sie hatte das Gefühl, als würde sie innerhalb dieser entsetzlichen Mauern keine Luft mehr bekommen. Und tatsächlich: Als sie den Burghof erreichte, fühlte sie sich frei. Aller Druck wich von ihr. Sie atmete ein paar Mal tief durch und lief dann erleichtert zu den Zinnen. Vielleicht könnte sie über die Brüstung nach unten klettern und fliehen? Sie musste auf der Stelle von hier weg. Aber schon der erste Blick hinab beerdigte diesen Wunsch sofort wieder. Die Mauern reichten bestimmt zehn Meter senkrecht in die Tiefe. Verflucht Veyron, warum haben Sie mich nur hierher geschleppt?, dachte sie wütend. Dann schloss sie die Augen, um etwas Ruhe in sich einkehren zu lassen. War dies wirklich alles Veyrons Schuld, oder lag es am dunklen Einfluss der Seelenkönigin?

Nach einer Weile öffnete sie die Augen und blickte über das Land. Der Großteil Ansmachts verbarg sich noch immer im Nebel, aber sie konnte heute immerhin weit genug sehen, um am Fuß der Burg ein Dorf auszumachen. Die Häuser waren allesamt ärmlich, kaum mehr als Holzverschläge, mit Stroh gedeckt, die Straßen nichts als Trampelpfade. Hinter dem Dorf lagen einige karge Äcker. Überhaupt schien die Vegetation in diesem Teil des Landes nur sehr spärlich entwickelt. Bäume und Sträucher wirkten allesamt kränklich und dürr. Was für eine trostlose Gegend, dachte Jane bedrückt. Die Leute, die unten an der Mauer vorbeimarschierten, wagten kaum aufzublicken. Dennoch hoben einige Jüngere den Kopf, schauten voller Staunen zu Jane auf. Die Älteren packten die Kinder am Kragen und duckten sie sofort wieder weg. Die Angst vor der Seelenkönigin war allgegenwärtig.

»Ach, da sind Sie ja. Guten Morgen, Willkins«, ließ sie Veyrons dunkle Stimme herumfahren. Mit einem entspannten Lächeln im Gesicht spazierte er zu ihr herüber, die Hände in die Taschen seines dunklen Mantels gestopft.

Sofort packte sie der Zorn, weil er nicht das geringste Anzeichen von Missmut oder wenigstens eines schlechten Gewissens zeigte. »Wo sind Sie gewesen? Warum gehen Sie mir aus dem Weg? Was soll das alles?«, fuhr sie ihn an, was ihn jedoch nur überrascht die Augenbrauen heben ließ.

»Na, Sie sind ja wieder pampig heute. Im Moment geselle ich mich zu Ihnen, also kann keine Rede davon sein, dass ich Ihnen aus dem Weg gehe. Falls Sie die verschlossene Tür gestern meinten, so stimme ich Ihnen insofern zu, dass ich mich isolierte, um in Ruhe meine Gedanken zu sammeln und zu ordnen. Nehmen Sie das nicht persönlich. Tom kennt das auch nicht anders, wenn ich in Klausur mit meinen Gedanken bin. Nun zu der Sache, wo ich eben gewesen bin: Ich studierte die Burg und fand eine Bibliothek. Unsere Gastgeberin ist sehr belesen. Allerdings werden Sie da keine Herzschmerzromane finden, Willkins«, erwiderte er, noch immer in bester Laune.

Jane verzog das Gesicht. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, sich von ihm aufziehen zu lassen. »Sie sind genau wie dieses Land: karg und kalt«, murrte sie. »Wie kann man sich nur mit diesem Weibsbild einlassen? Sie ist ein Teufel!«

Veyron seufzte enttäuscht. »Ihr Weitblick ähnelt dagegen der Sichtweite in diesem Nebel. Erkennen Sie denn nicht die Vorteile, die uns diese Mission bietet? Wir haben hier die einzigartige Chance, mehr über die Schatten zu lernen als jemals irgendjemand zuvor. Dieses Wissen könnte uns später beim Kampf gegen den Dunklen Meister von immensem Wert sein.«

Jane schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dieses Miststück hat Sie verhext. Veyron, Sie haben Ihren Verstand verloren!«

Einen Moment lang erwiderte er nichts darauf, sondern blickte hinunter auf das Dorf, als hätte er sie gar nicht gehört. »Sehen Sie den Marktplatz? Da ist eine alte Händlerin, die gerade einem Mann etwas verkauft. Was schlussfolgern Sie, wenn Sie ihn betrachten?«, fragte er sie, statt auf ihren Vorwurf einzugehen.

Jane folgte seinem Fingerzeig. Da war tatsächlich eine alte Händlerin, die einem für Ansmachts Verhältnisse gut gekleideten Herrn ein paar Dinge verkaufte. Ein kleiner Junge stand neben dem Mann und tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der Mann hat etwas gekauft. Spielzeug. Der Junge ist wahrscheinlich sein Sohn. Der Mann scheint recht gut betucht zu sein, wenn man seine Kleidung mit der aller anderen vergleicht. Die vielen Beutel an seinem Gürtel, hmm … bestimmt ist er ein reicher Kaufmann. Und er stützt sich auf einen Stock, hat also Schmerzen im Kreuz oder beim Gehen. Sehen Sie? Leute analysieren kann jeder, wenn man nur genau hinschaut.«

»Dann schauen Sie auch genau hin, Willkins«, konterte Veyron sofort. »Der Mann ist ein sehr angesehener Arzt und bekannt für seine Selbstlosigkeit. Obendrein ist er nicht nur Vater dieses Jungen, sondern auch noch eines Mädchens. Seine Frau ist schwanger, und er ist stolzer Besitzer eines kleinen, verspielten Hundes. Trotzdem ist er alles andere als reich und leidet den gleichen Hunger wie die meisten Einwohner hier. Körperliche Gebrechen weist er dagegen keine auf, weder am Bein noch an der Hüfte. Dafür aber eine Verletzung an der rechten Hand.«

Jane stand für einen Moment der Mund offen. Sie schaute noch einmal hinunter zu den drei Menschen und versuchte zu erkennen, was Veyron zu diesen Schlüssen brachte. Sie fand jedoch nichts, abgesehen von dem kleinen Verband an der rechten Hand. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Okay, aber das war ja nur eine Kleinigkeit. Und überhaupt: Woher wollte Veyron wissen, dass der Mann einen Hund besaß? Geschweige denn Vater eines Mädchens war!

»Ich kann da nichts erkennen«, schnappte sie. »Ich sag’s doch: Ihr Verstand arbeitet nicht mehr richtig.«

»Schauen Sie sich seine Hände genauer an. Feindgliedrig, keine Schwielen. Er arbeitet demnach nicht hart, kann also unmöglich Bauer, Metzger oder Schmied sein. Dafür hängen an seinem Gürtel eine Menge Beutel und Taschen, darunter eine zusammengerollte Instrumententasche aus Leder. Sehen Sie die silbernen Spitzen seiner Instrumente und Skalpelle und den runden Abdruck einer Lupe? Das deutet doch schon sehr auf eine medizinische Tätigkeit hin. Wir haben also den Dorfarzt vor uns. Seine feine Kleidung zeigt an, wie sehr er von den Bürgern geschätzt wird. Es sind wahrscheinlich Geschenke, die ihm gemacht wurden, denn reich ist er nicht. Das verraten mir seine schlechten, ausgelatschten, dutzendfach geflickten Schuhe. Seinen unterernährten Zustand erkennen Sie dagegen an seinen eingefallenen Wangen, den schlecht verheilten Kratzern auf der Haut und der kaum ausgeprägten Muskulatur. Nun zu seinem Stock: Der ist lediglich ein Symbol seines Amtes, keine Stütze. Schauen Sie nur die Verzierungen an: Die Äskulapschlange ist deutlich am oberen Ende zu sehen. In der Mitte erkennen Sie Bissspuren eines Hundes, sehr fein, aber dennoch zahlreich. Also ist der Hund klein und trägt den Stock beim Spaziergang im Maul, weswegen unser Arzt den Stock also nicht wirklich benötigt. Beachten Sie zudem die von ihm erworbenen Dinge: eine Mädchenpuppe aus Reisig und ein Holzpferd samt Ritterfigur. Spielsachen für einen Jungen und ein Mädchen.

Unser Arzt hat bei der Händlerin außerdem Frauenmantel, Brennnessel und Fenchel gekauft, typische Kräuter, die für verschiedene Schwangerschaftstees gebraucht werden. Die gekauften Mengen sind jedoch sehr gering, darum wird es wohl kaum für seine Praxis sein, sondern für den Eigenbedarf. Da hier sehr viele Kinder herumlaufen, ist die Population in Ansmacht trotz der widrigen Umstände gesund, und Schwangerschaften sind nichts Seltenes. Für die Behandlung von allen schwangeren Patienten des Dorfs bräuchte er also eine weitaus größere Menge dieser Kräuter. Einzige logische Schlussfolgerung: Seine eigene Frau ist schwanger, und uneigennützig, wie er ist, will er den Praxisvorrat – der genau berechnet ist – dafür nicht verwenden. Sehen Sie? Mein Verstand funktioniert tadellos.«

»Nein, tut er nicht«, maulte Jane. »Tut er nämlich nie.«

Veyron brach in Gelächter aus, ein ehrliches, herzliches Lachen. »Ja«, sagte er und grinste Jane dabei an. »Es war die richtige Idee, Sie mit auf dieses Abenteuer zu nehmen.« Dann wurde er wieder ernst. »Bitte haben Sie Vertrauen, Willkins. Ich weiß sehr wohl, wo die Grenzen sind, und ich verspreche Ihnen, was wir hier tun, gereicht dem Dunklen Meister zum Schaden und damit auch der Sache des Bösen. Meine Methoden mögen ungewöhnlich sein, aber unsere Ziele, Willkins, sind identisch.«

»Ich vertrau Ihnen ja«, bekräftigte Jane. »Aber deshalb muss ich nicht mit allem einverstanden sein.«

Veyron lächelte vielsagend. »Nein, das müssen Sie nicht und das sollen Sie auch gar nicht. Sie und ich, wir zwei sind vollkommen verschieden. Genau darin liegt unsere Stärke als Team. Wir ergänzen uns, aber nur, wenn wir einander vertrauen.«

»Da haben Sie recht«, sagte Jane. »Und wie geht’s jetzt weiter?«

Die Frage blieb unbeantwortet. Bevor Veyron irgendetwas sagen konnte, wurden sie von hinten angerufen.

Jane sah sich um. Uric und Femoin standen da und wirkten genauso eingeschüchtert wie gestern. Als sie die Kinder erreicht hatten, blickten die sich um, als befürchteten sie, beobachtet zu werden. Jane erkannte darin sofort, dass sie neben ihrem eigenen Verstand dem dunklen Gedankeneinfluss der Seelenkönigin ausgesetzt waren.

»Die Herrin schickt uns«, verkündete Femoin. »Sie befiehlt, dass Ihr beide sofort auf Eure Zimmer zurückkehrt und Eure Sachen packt. Die Königin wünscht so schnell wie möglich aufzubrechen.«

»Und sagt Eure Gebieterin auch, wohin?«, ätzte Jane. Sie meinte es nicht bös mit den beiden Sklaven, aber sie war sicher, dass die Seelenkönigin ihre Gedanken las, und das böse Weib sollte Janes Abneigung ruhig zu spüren bekommen.

»Natürlich zum Konferenzort, was für eine Frage«, mischte sich Veyron ein. Er nahm Jane am Arm und führte sie von den beiden Sklaven fort. Wenigstens sparte er sich, sie für ihre ›Dummheit‹ – woher hätte sie es wissen sollen? – vor den beiden zu tadeln, aber sie spürte es am sanften Druck, den er auf ihren Oberarm ausübte.

Bald hatten sie ihre Räume erreicht. Viel zusammenpacken musste Jane nicht. Sie brauchte lediglich ihren Rucksack zu schultern und das Feuerzeug wieder einzustecken. Eine große Erleichterung überkam sie, als sie einen letzten Blick in das karge Zimmer warf. Niemals wieder würde sie hierher zurückkehren, das nahm sie sich felsenfest vor. Hoffentlich würden sie bald auch aus dem Einflussbereich der Seelenkönigin herauskommen.

Wenig später traf sie Veyron wieder unten im Burghof, wo die beiden Sklaven schon auf sie warteten und sie nach einer kurzen Verbeugung zu der langen, von nacktem Fels gesäumten Treppe führten, die in den zweiten, tiefer gelegenen, mit einer hohen, dicken Mauer eingefriedeten Hof mündete. Er war breit und gepflastert, und von ihm aus gelangte man durch ein Tor zum Dorf hinaus. Erst, als sie sich auf der Treppe umwandte, konnte Jane besser erkennen, wie man die Burg der Seelenkönigin auf den Gipfel des hoch aufregenden Felsen gesetzt hatte. Der vermeintliche Schutzwall rund um die Burg war nichts anderes als die Verschalung des Felsens und zugleich Stützwerk für die obere Plattform und die Wohngebäude.

Ein lautes Schnauben lenkte Janes Aufmerksamkeit auf den Tiefhof – und ließ sie regelrecht erstarren. Zwei Kutschengespanne warteten im Schatten der hohen Mauern auf sie. Das erste saß auf acht riesigen, stählernen Rädern, war groß wie ein Haus. Die Kutsche bestand sogar aus zwei Stockwerken mitsamt Dach und Schornstein. Von oben bis unten nachtschwarz angestrichen wurde dieses rollende Haus von vier gewaltigen Geschöpfen gezogen. Jane erinnerten sie an gigantische, vorgeschichtliche Nashörner, jedes mit einer Schulterhöhe von mehr als drei Metern. Anstelle eines einzelnen langen Horns wuchsen diesen Ungeheuern gleich drei auf ihren massigen, plumpen Schädeln, jedes so lang und schmal wie ein Schwert. Die gewaltigen Körper der kurzbeinigen Kreaturen waren von einem dicken, braunen Zottelfell bedeckt. Wie die Wollnashörner der Eiszeit, dachte Jane. Vielleicht waren das ihre Nachfahren? Elderwelt war ja voll mit den seltsamsten Kreaturen.

Das zweite Gespann nahm sich dagegen fast zwergenhaft klein aus: Eine schwarze Postkutsche, gezogen von einem alten, grauen Fenriswolf. Jane kannte diese Bestien nur zu gut. Mit immerhin zwei Metern Schulterhöhe und fünf Metern Länge waren auch die Fenriswölfe wahre Ungeheuer. Diese Monstren hatten Zähne, auf die jeder Wolf neidisch wäre. Die kleinen, runden Ohren, ähnlich denen von Bären, und der dicke, kurze Schwanz waren charakteristische Merkmale, ebenso die zu Krallen verlängerten Zehenhufe. Veyron hielt die Fenriswölfe für die letzten Vertreter der ausgestorbenen Raubtiergattung der Mesonychiden, aber für Jane waren es schlichtweg Scheusale, und wenn sie sich richtig erinnerte, dienten sie gemeinhin als Reittiere der Schrate. Es gefiel ihr gar nicht, dass die Seelenkönigin ebenfalls eines dieser Ungeheuer domestiziert hatte. Das verriet ihr nur, auf welcher Seite diese Hexe in Wahrheit stand.

Voller Skepsis folgte Jane Veyron zum kleineren der beiden Gefährte und stieg ein. Einen Kutscher gab es nicht; der Fenriswolf wurde von der Seelenkönigin offensichtlich telepathisch gesteuert, ebenso ihre vier Wollnashörner. Das Innere der schwarzen Postkutsche erwies sich als eng und unbequem. Getrennt von einem Tisch saßen sich Jane und Veyron gegenüber, hinter den Rückenlehnen ihrer Sitzbänke befanden sich kleine Schlafkojen. Na gut, besser als gar kein Bett. In ihrem fahrenden Haus hatte die Seelenkönigin dagegen bestimmt ein eigenes Schlafzimmer. Missmutig setzte sich Jane auf das schwarze Leder der Bank. »Wo geht’s denn überhaupt hin? Wissen Sie das zufällig?«, fragte sie Veyron.

»Nach Teyrnas Annoth, ins Reich der Moorelben, Jane Willkins«, antwortete stattdessen die Seelenkönigin. Sie stand in der Tür der Postkutsche. »Wir fahren nach Süden, immer nach Süden. Nördlich der Himmelmauerberge liegt ihr Reich, und dort findet die Konferenz der Könige statt. Es ist eine Reise von vier Tagen.«

»Interessant«, meinte Veyron nur.

Die Seelenkönigin sagte nichts darauf, verschwand nach draußen und schloss die Tür.

Jane wandte sich neugierig an Veyron. »Das Reich der Moorelben. Davon habe ich noch nie gehört. Ich dachte, das einzige Elbenreich wäre Fabrillian«, sagte sie.

Veyron schüttelte den Kopf. »Mitnichten. Teyrnas Annoth liegt im Norden von Fabrillian – mit den Himmelmauerbergen als natürliche, schier unüberwindbare Grenze dazwischen. Aber soweit ich es in verschiedenen Büchern lesen konnte, gilt das Land der Moorelben als von allen Seiten unzugänglich, das besagt auch schon sein elbischer Name. Teyrnas steht für Reich, im Sinne von Gegend, und Annoth bedeutet unzugänglich. Soweit ich informiert bin, meiden die Moorelben den Kontakt zu anderen Völkern, wo es nur geht, und bewachen ihre Grenzen entsprechend streng. Interessant ist, dass sie jetzt, nach tausendjähriger Isolation, ihr Gebiet für eine Konferenz der Herrscher Elderwelts zur Verfügung stellen. Womöglich gaben sie entsprechenden Bitten der Simanui nach. Ich bin sicher, das erfahren wir alles noch.«

Ein Ruckeln verriet, dass sich ihre Kutsche in Bewegung setzte. Bald ließen sie die finstere Burg und das triste Dorf hinter sich. Das Domizil der Seelenkönigin verschwand im Nebel, und recht viel mehr bekamen sie von Ansmacht auch nicht zu Gesicht. Der Nebel schien fast allgegenwärtig, nur hin und wieder schälte sich ein Gehöft aus dem grauen Dunst. Ansonsten sahen sie nur einige karge Felder und hier und da ein paar Bäume. Veyron hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wahrscheinlich meditierte er mal wieder.

Da fiel Jane noch etwas ein. »Haben Sie schon Toms Nachrichten gelesen?«

»Nein«, gab Veyron unumwunden zu, ohne dabei die Augen zu öffnen.

»Was? Sind Sie verrückt geworden? Tom ist Ihr Patensohn! Sie haben sich um ihn zu kümmern!«, schalt sie ihn.

Zur Antwort bekam sie ein genervtes Schnauben. »Das ist im Augenblick schwer möglich, Willkins. Wir sind in Elderwelt, Tom in London. Der Junge ist siebzehn Jahre alt. Ich bin überzeugt, dass er auch eine Weile ohne mich klarkommt. Ich mache mir da keine Sorgen.«

Jane fröstelte angesichts des Mangels an Emotion in seiner Stimme. »Das sollten Sie aber«, hielt sie dagegen. »Er erwähnte etwas vom Schwarzen Manifest. Das ist doch das Teufelsbuch, das dieser irre Henry Fowler als Anleitung für seine Morde benutzt hat. Und die Zaltianna Trading Company hat Tom auch erwähnt. Sie sollten das unbedingt wissen, hat er geschrieben. Ach ja, er hat außerdem Ihren Bruder ausfindig gemacht, und die beiden haben irgendetwas vor.«

Veyron blieb immer noch ganz gelassen. »Was das Schwarze Manifest betrifft, stimme ich Ihnen zu, Willkins. Tom und ich wollten dieser Sache noch nachgehen. Sie kennen ihn ja. Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr zu halten. Ich bin davon überzeugt, dass er Nachforschungen angestellt und herausgefunden hat, dass die ZTC hinter dem Schwarzen Manifest steckt. Zu dieser Überzeugung bin ich im Übrigen ebenfalls gelangt. Die ZTC ist die Verbindungsstelle zwischen allen Machenschaften des Dunklen Meisters auf unserer Seite der Welt und hier in Elderwelt. Es ist nur logisch, dass Tom die Hilfe meines Bruders in Anspruch nahm, um mehr darüber herauszufinden Wimille ist ein Genie, der vielleicht größte Hacker, den die Erde je gesehen hat und jemals sehen wird.«

Jane wusste darauf nicht viel zu erwidern. Alles, was Veyron sagte, machte irgendwie Sinn. Wenn sie ihm so zuhörte, kam sie sich fast dumm vor, sich überhaupt Sorgen zu machen, aber ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes. »Mir gefällt das Ganze nicht, Veyron«, raunte sie.

Veyron schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, wenngleich es auch nur eine Sekunde hielt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Willkins. Tom ist vernünftig genug, nichts gegen die ZTC oder das Schwarze Manifest zu unternehmen, bis ich wieder zurück bin. Was Wimille betrifft: Er mag zwar ein Genie sein, aber es gibt kaum etwas, das ihn dazu bewegen könnte, das Haus zu verlassen. Außerdem ist er ein Feigling. Niemals würde er sich in irgendein Abenteuer stürzen.«

Die Reise durch Ansmacht verlief vollkommen ereignislos. Menschen begegneten ihnen nicht, auch wenn sie hin und wieder an einem Dorf oder einem Bauernhof vorbeikamen. Nur einmal konnte Jane ein paar Kinder am Straßenrand stehen sehen, die ihre Hände zu kleinen Schalen aneinandergelegt hatten – sie bettelten. Aber als sie die riesige schwarze Kutsche der Seelenkönigin erkannten, nahmen sie auf der Stelle Reißaus. Egal, was Veyron sagte, es war falsch, sich mit dieser Despotin einzulassen. Für ihn mochte der Zweck vielleicht die Mittel heiligen, aber nicht für Jane. Wenn sie eine Gelegenheit bekäme, der Seelenkönigin irgendwie zu schaden, sie würde sie sofort ergreifen.

Die Stunden der Reise vergingen überraschend schnell. Veyron zeigte sich zu Janes Erstaunen recht gesprächig, auch wenn er von sich selbst nicht viel erzählte. Durch geschickte Fragen brachte er sie jedoch dazu, nahezu pausenlos zu plappern. Sie wusste am Ende gar nicht mehr, über was sie alles gesprochen hatten: über ihre Arbeit beim CID, was sie von dem einen oder anderen Kollegen hielt, wie es war, mit Inspektor Gregson in einem Team zu arbeiten … Jane berichtete von einigen haarsträubenden Fällen, die sie gelöst hatte, etwa dem, als sie mit Sergeant Palmer den Mörder von Mr. Vincent gejagt hatte. »Stellen Sie sich vor, wie dumm Palmer aus der Wäsche schaute, als der Mann, den wir verhafteten, sich als das vermeintliche Opfer, Mr. Vincent, entpuppte! Das war natürlich oberpeinlich, und alle auf dem Revier lachten Palmer aus. Aber Sie wissen ja selbst, was für ein Idiot er ist«, meinte sie und musste selbst darüber lachen.

Veyron zuckte nur mit den Schultern. »Nicht zwingend ein Idiot, aber vollkommen unfähig, soviel ist unleugbar«, erwiderte er.

So ging es weiter und weiter. Schließlich versank die Sonne hinter dem Horizont. Als Jane aus dem Fenster der Kutsche blickte, stellte sie fest, wie sehr sich die Landschaft verändert hatte. Der Nebel war verschwunden, vor ihnen breitete sich eine karge Steppe aus. Braunes Gras reichte von einem Horizont zum anderen. Die Kutsche stoppte, und der riesige Fenriswolf machte es sich auf dem Boden gemütlich. Vor ihnen hatte auch das rollende Haus der Seelenkönigin angehalten, und die gigantischen Wollnashörner taten sich mit sichtlicher Gier am Gras gütlich. Veyron öffnete die Tür und stieg aus, Jane folgte ihm zögernd. Rücken und das Gesäß schmerzten ihr vom langen Sitzen, und sie war froh, eine Packung Schmerztabletten eingepackt zu haben, bevor sie London verließen.

»Wo sind wir jetzt?«, fragte sie neugierig.

Veyron blickte hinauf zum Himmel, wo sich am dunkler werdenden Firmament bereits zahlreiche Sterne abzeichneten. »Schwer zu sagen. Auf jeden Fall haben wir Ansmacht hinter uns gelassen. Wenn meine Berechnungen korrekt sind – und sie basieren auf der durchschnittlichen Geschwindigkeit unserer Zugtiere – dürfte Ansmacht etwa vierhundert Kilometer nordöstlich von Teyrnas Annoth liegen«, erklärte er und deutete in die entsprechenden Richtungen.

Jane schüttelte den Kopf. »Was hilft uns das jetzt?«

»Damit wir Ansmacht später auf der Karte Elderwelts ausfindig machen können. Mir war das Reich der Seelenkönigin nämlich gänzlich unbekannt.«

»Das ist die Grenze zum Wilden Land«, mischte sich die Stimme der Seelenkönigin ein. Sie hatte eine große Tür an der Rückseite ihrer Kutsche geöffnet und lehnte sich auf ein hüfthohes Gitter, das davor angebracht war.

Wie die böse Königin in ihrem Turm, dachte Jane, als sie die schwarz gewandete Dämonin erblickte.

Die Seelenkönigin strafte Jane mit Nichtbeachtung, während sie fortfuhr. »Das Wilde Land. So nennt man diese Steppe. Sie beginnt im Westen in Gaghanien und zieht sich wie ein Gürtel um den ganzen Norden der Himmelmauerberge, ehe sie sich weiter und weiter nach Osten ausdehnt, bis tief in das ferne Kaiserreich Quin hinein. Im Winter kann es hier bitterkalt werden, im Sommer glühend heiß. Der Boden ist sandig und karg, nichts anderes als dieses Gras gedeiht hier. Darum leben in dieser Gegend auch keine Menschen, nur hin und wieder ziehen einige Nomaden hindurch. Um diese Jahreszeit herrscht hier vollkommene Ruhe«, erklärte sie.

Veyron nickte. »Die Himmelmauerberge blockieren den Weiterzug von Gewitterwolken aus dem Süden, und die feuchten Meereswinde von Osten oder Westen erreichen nur selten diese Länder«, mutmaßte er.

Die Seelenkönigin schenkte ihm ein anerkennendes Nicken, Janes Anwesenheit weiterhin ignorierend. Nicht den kleinsten Blick hatte die Dämonin für sie übrig, nicht einmal einen verächtlichen. »Steigt wieder in den Wagen zurück, Meister Swift. Wir halten keine Nachtruhe. Gönnt Euch Schlaf, wenn Ihr wollt. Sobald die Tiere wieder bei Kräften sind, geht es weiter«, sagte die Seelenkönigin im Befehlston und wandte sich ab.

»Was ist mit unserem Fenriswolf? Er braucht Fleisch, oder nicht? Wir haben keines dabei. Ihr vielleicht?«, rief Jane der Dämonin zu.

Die Seelenkönigin zeigte ihr ein abfälliges Grinsen. Dann schloss sie die Tür. Wozu, meint Ihr, seid Ihr wohl dabei?, glaubte sie die boshafte Stimme dieser Hexe in ihrem Kopf zu hören. Jane ballte die Fäuste. Sie an die Bestie zu verfüttern, würde sie der Seelenkönigin durchaus zutrauen.

»Keine Sorge«, flüsterte Veyron neben ihr. »Fenriswölfe sind Langstreckenjäger. Sie können tagelang ohne Nahrung auskommen. Ich bin sicher, unser alter Fenris wurde ausgiebig gefüttert, bevor wir aufbrachen.«

Jane verzog das Gesicht. »Ich frage mich nur, mit was; oder mit wem.«

Veyron gab ihr darauf keine Antwort. Sie stiegen in die Postkutsche und zogen sich in ihre Schlafkojen zurück. Jane nahm eine Schmerztablette und schlief danach zu ihrer Überraschung gleich ein. Irgendwann in der Nacht weckte sie das Ruckeln der Kutsche. Die Reise ging weiter, aber schon im nächsten Moment umfingen sie die Träume aufs Neue.

Veyron bereitete ihnen ein kleines Frühstück, welches aus einer Tasse kalten Kaffees und Trockenkeksen bestand. Nicht gerade eine Mahlzeit, um ihre Stimmung zu heben. Er entschuldigte sich dafür, aber mehr Proviant hätte er nicht eingepackt.

»Klar. Sie brauchten den Platz für Ihre Bomben. Das war ja viel wichtiger«, maulte sie, trank missmutig den Kaffee, und nach zwei Keksen war ihr der Hunger bereits wieder vergangen. Die Enge in der Postkutsche schlug Jane aufs Gemüt, ebenso die pausenlose Fahrt. Draußen gab es nichts Interessantes zu sehen, und so legte sie sich wieder hin, kramte ihr Smartphone heraus und spielte ein paar gespeicherte Spiele. Später las sie alte Nachrichten von ihren Freundinnen und Bekannten durch. Da Veyrons Beitrag zur Unterhaltung weitgehend aus Schweigen bestand, drehte sie ihm den Rücken zu und schloss die Augen, aber trotz des monotonen Gerüttels fiel es ihr überraschend schwer, wieder in Schlaf zu finden. Sie warf sich hin und her und gab sich alle Mühe, Veyron, der auf einem Notizblock herumkritzelte, zu ignorieren. Irgendwann musste sie wohl doch eingedöst sein, denn sie fuhr hoch, als die Kutsche stoppte, und stellte fest, dass die Nacht hereingebrochen war. Die Tiere legten eine weitere Pause ein, dafür war Jane nun hellwach. Draußen vertrat sie sich ein wenig die Beine und beobachtete die Sterne, bis sie sich müde genug fühlte, wieder in den Wagen zu steigen und weiterzuschlafen.

Als sie die Augen wieder aufschlug, war es helllichter Tag, doch einen Unterschied machte es nicht. Die Kutschen ruckelten weiter durch die endlos scheinende Grassteppe. Veyron war natürlich bereits auf – schlief er überhaupt je? – und servierte ihr erneut kalten Kaffee und dazu einen Becher Sahne.

Nun war Jane wirklich überrascht. »Wo haben Sie die denn her?«, wollte sie wissen, tunkte den Finger in den Becher und leckte ihn genüsslich ab. »Mh, lecker. Sogar echte Schlagsahne, keine aus der Dose. Sie sind ja doch ein Zauberer.«

Veyron musste kurz grinsen. »Das ist keine Sahne«, sagte er, »das ist Riesenwollnashornmilch.«

Jane zuckte kurz zusammen, dann nahm sie noch einen Finger von der weißen Flüssigkeit. »Okay. Ist was Neues. Wo haben Sie die Milch her?«

»Natürlich von den Riesenwollnashörnern. Man kann sie melken, falls Sie es wissen wollen. Alle vier Tiere sind Weibchen, eines ist sogar trächtig«, meinte er.

Jane nickte. »Haben Sie das extra meinetwegen auf sich genommen? Das war doch sicher gefährlich, oder?« Ungewöhnlich für Veyron, in diesem Maße an andere zu denken, staunte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, das hebt vielleicht Ihre Laune ein wenig. Es ging sogar leichter als das Melken von Kühen. Die Tiere sind ausgesprochen zahm.«

Ein wenig verlegen wandte sich Jane zur Seite und schaute aus dem Fenster. So gemein und herzlos Veyron auch sein konnte, hin und wieder zeigte er doch seine guten Seiten. Ja, die Vormundschaft für Tom hatte ihn deutlich verändert. Veyron Swift war auf dem Weg, ein besserer Mensch zu werden – natürlich mit Einschränkungen.

Der Anblick eines Tiers riss sie aus ihren Gedanken. Das Geschöpf war lediglich so groß wie ein Schaf, trug ein braunes Fell und auf dem Kopf ein kleines Geweih wie ein Rehbock. Das Erstaunlichste war jedoch der kurze Rüssel auf der Schnauze. Schnell stellte sie fest, dass das seltsame Tier nicht allein war. Die halbe Steppe schien plötzlich von ihnen bevölkert zu sein. Es mussten an die zehntausend Tiere sein, die von West nach Ost zogen. Zwischen dem hohen, braunen Gras waren sie auf den ersten Blick gar nicht so leicht auszumachen. Jane schien es gutes Zeichen, dass sie endlich ein paar neue exotische Wesen Elderwelts erblickte. »Schauen Sie mal diese Tiere an. Mit was die wohl verwandt sind? Rehe oder Ziegen? Was meinen Sie?«

Veyron warf nur einen flüchtigen Blick nach draußen, dann konzentrierte er sich erneut auf seinen Notizblock. »Das sind Saiga-Antilopen«, meinte er beiläufig.

Jane blickte ihn verdutzt an. »Sie kennen diese Tiere?«

»Selbstverständlich. Saigas bevölkern die eurasische Steppe, zum Beispiel in Russland und in Kasachstan. Es wundert mich nicht, sie auch hier in Elderwelt anzutreffen.«

Jane wusste nicht, ob sie vor Scham im Boden versinken oder Veyron eine scheuern sollte. »Ja, klar. Ich bin vielleicht blöd, was?«, grummelte sie, lehnte sich zurück und blickte in eine andere Richtung.

Veyron atmete tief durch und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Jane«, begann er, nur um dann ins Stocken zu geraten. »Jane, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verbessern oder gar mit meinem Wissen angeben. Im Gegenteil, ich wollte lediglich das Ihre mehren. Ich …« Er suchte wieder nach den richtigen Worten, aber irgendwie wollten sie ihm nicht einfallen.

Jane nickte und verbarg ihre Verlegenheit hinter einem Lächeln. »Ich weiß schon, was Sie meinen. Eigentlich hab ich mich über meine eigene Dummheit geärgert. Darf ich was zitieren? ›Tadle nicht den Dummen, denn er wird dich dafür hassen. Tadle den Weisen, denn er wird dich dafür lieben‹«, sagte sie.

Veyron weitete überrascht die Augen. »Die Sprüche Salomos!«, rief er aus, nur um gleich darauf noch verdutzter dreinzuschauen. Ihm fehlten regelrecht die Worte.

Jane begann zu kichern. »Tja, Sie kennen mich halt doch nicht so gut, wie Sie immer meinen. Und mal ganz ehrlich: Allein Ihr jetziger Gesichtsausdruck war das ganze Abenteuer hier wert.«

Den Rest des Tages hielt die gute Laune bei ihnen beiden an, und sie verbrachten ihn mit Gesprächen über alles Mögliche. Veyron zeigte sich sehr interessiert an Janes Privatleben und ihrer Umwelt. Als die Nacht hereinbrach, hatte sie das Gefühl, mehr erzählt zu haben als beabsichtigt. Doch sie wusste, dass Veyron ein sehr verschwiegener Mensch war, besonders was anderer Leute Privatangelegenheiten betraf. Abgesehen von Tom vielleicht würde niemals irgendjemand etwas davon erfahren. Am nächsten Morgen wartete abermals ein Riesenwollnashornmilch-Frühstück auf sie, und Veyron tat auch sonst alles, um sie zu unterhalten und ihr die Zeit zu vertreiben. Auf seinem Notizblock spielten sie zahlreiche Runden Tic Tac Toe, Mühle und Dame. Veyron baute aus Papierfitzelchen sogar winzige Schachfiguren, doch schon nach zwei Runden hatte Jane keine Lust mehr, weil Veyron stets schon nach fünf Minuten gewann.

»Das ist aussichtslos! Außer Sie lassen mich gewinnen. Aber das wäre langweilig«, sagte sie.

Veyron musste seufzend zustimmen. Also schnitt er den Figuren die Köpfe und Beine ab, bis sie alle gleich groß waren, und zeichnete rasch ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielfeld auf den Block. Von da an lief es für Jane schon sehr viel besser.

Die nächste Nacht verlief so ereignislos und ruhig wie die davor. Jane konnte sogar störungsfrei durchschlafen. Als sie am Morgen erwachte, erwartete sie das inzwischen übliche Frühstück. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie sich dem Ende ihrer Reise näherten.

Sie verließen die Steppe und kamen in ein weites Grasland, durchzogen von kleinen Bächen, bei deren Durchquerung die Kutsche furchtbar durchgeschüttelt wurde. Der Fenriswolf und die Wollnashörner machten eine längere Pause, um zu trinken, und setzte anschließend sichtlich widerwillig ihren Weg fort, angetrieben von den dunklen Gedanken der Seelenkönigin. So grausam sie auch sein mochte, der Instinkt der Tiere erwies sich offenbar als mächtiger. Bereits ein paar Bäche später hielten sie abermals, um zu saufen.

Stunden später kamen sie an einem See vorbei, dessen Oberfläche aus Spiegelglas gemacht zu sein schien. An seinem Ufer fanden sich Flamingo- und Gänseschwärme, deren tausendfaches Geschnatter und Krakeel als unglaublicher Lärm zu ihnen herüber wogte. Jane musste lachen, denn sie kam sich jetzt beinahe wie auf Safari vor. Neugierig streckte sie den Kopf aus dem Fenster und sah sich um. Südlich des Spiegelsees, also in ihrer direkten Marschrichtung, konnte sie nun die Himmelmauerberge erkennen, das gewaltigste Gebirge Elderwelts. Hinter grünen Vorbergen türmten sich die felsigen Giganten auf, stachen durch die Wolken, höher und immer höher. Mächtige Gletscher bedeckten ihre steilen Hänge. Jane atmete tief ein. Schon einmal hatte sie die größten aller Berge gesehen, sogar aus nächster Nähe. Eine tiefe Sehnsucht nach neuen Abenteuern ergriff sie.

Mit jedem Meter Reise wurden die Grasflächen spärlicher, vermengten sich mit Heidekraut und vereinzelten Sträuchern. Der Sandboden wurde weicher und lehmiger, sodass die Gespanne immer langsamer vorankamen. Kleine Wäldchen bedeckten die Hügelkuppen, und Schilfkränze kennzeichneten die Lage von Teichen und Tümpeln.

Schließlich hielt das gewaltige Nashorngespann der Seelenkönigin an und die Dämonin stieg aus ihrer hausgroßen Kutsche. »Weiter geht es nicht«, rief sie Veyron und Jane zu.

Veyron schnappte sich wortlos seinen Rucksack und stieg aus, Jane tat es ihm gleich.

»Unsere Wagen würden einsinken. Wir sind jetzt im Grenzgebiet zu Teyrnas Annoth, einem weiten Moor, welches sich bis zum Rand der Himmelmauerberge erstreckt. Hier gibt es keinen festen Boden, alles ist ständiger Veränderung unterworfen. Was heute begehbar ist, kann morgen schon verschlingender Morast sein. Ganze Armeen sind bereits in diesen Sümpfen untergegangen. Menschen und Schrate, die Heerscharen des Dunklen Meisters. Allein das Volk der Moorelben kennt die geheimen Pfade durch diese Sümpfe«, erklärte die Seelenkönigin, während ihr gepanzerter Arm auf die Gegend zeigte.

»Wie finden wir dann den Weg?«, fragte Jane misstrauisch.

Die Seelenkönigin reagierte gar nicht darauf, streckte nur die Hand in Richtung des Gespanns aus. Sofort lösten sich Haken und Ösen des Geschirrs von ganz allein, brachen auseinander und befreiten die Nashörner und auch den Fenriswolf. Zunächst unschlüssig, was sie mit der neuen Freiheit anfangen sollten, standen die Tiere einen Moment orientierungslos herum.

Der Fenris begriff als Erster, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Gierig stierte er in Janes Richtung und fletschte die Zähne. Vier Tage ohne Nahrung … ganz klar: Die Bestie hatte jetzt Hunger.

»Scheiße«, keuchte Jane, als ihr klar wurde, dass die Seelenkönigin nichts dagegen zu haben schien, sie zu opfern. Der Fenris stürmte los, seine Raubtieraugen fest auf Jane fixiert, Geifer rann ihm aus dem Maul.

Sofort war Veyron zur Stelle, packte Jane und schob sie hinter sich. Ein nutzloser Versuch, sie zu schützen! Ein ausgewachsener Fenris wog über eine Tonne. Im Nu hätte er Veyron niedergemacht und schnappte nach Jane.

»Dieses Miststück hat uns verraten!«, rief Jane, während sie flüchtete. All ihre Befürchtungen, in eine Falle zu tappen, hatten sich als wahr erwiesen – und Veyron hatte es nicht kommen sehen. Stand er am Ende doch unter dem Einfluss der Seelenkönigin? Sie schlug Haken, wusste aber, dass der Wolf sie schon bald erwischen würde.

Plötzlich sprang eine kleine Gestalt durch die Luft, landete in hohem Bogen auf dem Rücken des Fenris und rammte ihm einen langen Speer zwischen die Schulterblätter. Keuchend brach die Bestie zusammen, strauchelte und stürzte, warf dabei den mörderischen Reiter ab. Jane erkannte einen Krieger der Elben, schlank und schön, das Haar rotbraun und lang, die Ohren spitz zulaufend. Aber anders als die hochgewachsenen Elben, die sie kannte, war dieser Krieger um gut einen Kopf kleiner als sie selbst.

Aus dem Dickicht der Umgebung tauchten noch mehr Elben auf, allesamt trugen sie braune oder dunkelgrüne Mäntel und waren mit Speeren oder Pfeil und Bogen bewaffnet. Jane lächelte. Die Seelenkönigin hatte mit ihrem Verrat zu lange gewartet! Jetzt war die Unterstützung hier.

Umso überraschter war sie, als die Elben ihre Waffen nicht auf die Seelenkönigin richteten, sondern auf Veyron und sie. Die kleinen Moorelben kreisten sie ein, drängten sie zusammen, und blitzschnell banden sie ihnen die Hände, wobei sie fortwährend auf Elbisch schimpften, als wollten sie ihnen Vorhaltungen machen. Sie stießen sie sogar von der Seelenkönigin fort. Jane verstand die Welt nicht mehr. Was ging denn hier vor? Warum griffen die Elben nicht die Seelenkönigin an? Steckten sie mit dieser Dämonin etwa unter einer Decke?

Schon im nächsten Moment schien sich Janes furchtbarer Verdacht zu bestätigen. Blitzschnell legten die Moorelben Veyron und ihr Binden über die Augen und zurrten sie fest. Jane konnte nichts mehr sehen. Die Moorelben bellten Befehle in ihrer Sprache und stießen Veyron und Jane vorwärts, in welche Richtung, konnte sie nicht ausmachen. Jane verlor vollkommen die Orientierung. Vielleicht versenken sie uns irgendwo im Sumpf, dachte sie verzweifelt.

Hinter ihr erklang das höhnische Auflachen der Seelenkönigin.

Voll in die Falle getappt.

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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