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1. Kapitel: Nicht im Dienste Ihrer Majestät

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Harrow, 28. April, 333 Jahre später:

»Es ist wahrhaftig an der Zeit, diesem Drama ein Ende zu bereiten«, sagte Veyron Swift, als er aus dem Küchenfenster hinaus auf die Straße blickte.

Tom Packard blickte überrascht von seinem Frühstück auf und betrachtete seinen Patenonkel verwirrt. Veyron, schlank und hochgewachsen, mit strengen, raubvogelhaften Zügen in seinem ausgezehrten Gesicht, hielt seine Kaffeetasse in der Rechten, während er die Linke lässig in die Hosentasche gesteckt hatte. Er war ein Meister der Beobachtung, dem auf den ersten Blick Dinge auffielen, die andere selbst beim hundertsten Mal Hinschauen noch übersahen. Gerade eben war er von einem Spaziergang zurückgekehrt und hatte sich einen Kaffee geholt, um dann schnurstracks vor das Küchenfenster zu treten. Tom fragte sich, was Veyron dort draußen entdeckt haben mochte, das ihn dermaßen brennend interessierte.

»Was für ein Drama denn? Ich kapier mal wieder gar nichts«, sagte er und gesellte sich an die Seite seines Paten.

Seit fast zwei Jahren trug Veyron nun die Verantwortung für Tom, doch war er weder mit ihm verwandt noch konnte Tom von einem besonders innigen Verhältnis zwischen ihnen sprechen. Er mochte Veyron, aber er fürchtete ihn zugleich auch; nicht zuletzt wegen seiner vielen Flausen und dieser stets zur Schau gestellten geistigen Überlegenheit. Tom bewunderte seinen Patenonkel, er verehrte ihn, aber mehr wie ein Student seinen Professor oder ein Soldat seinen Hauptmann. Trotz aller Vertrautheit war da immer noch eine gehörige Portion Distanz zwischen ihnen, unausgesprochen, aber deutlich zu spüren.

»Das überrascht mich nicht«, sagte Veyron und lachte spöttisch. »Deine Augen und dein Verstand sind gegenwärtig allein auf Chloe Henderson konzentriert, diese Austauschschülerin aus Connecticut. Gegenüber dem Offensichtlichen warst du ja schon immer blind. Das ist deine Schwäche.«

Tom überging diese Gemeinheit schweigend, doch er spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss, als Veyron die schöne Chloe erwähnte. Sie war neu an der Schule, und er hatte sie zum Eisessen ausgeführt – und danach zum Italiener. Er war total verknallt – aber Veyron hatte er nichts davon erzählt. Wie konnte er es also überhaupt wissen?

»Hey! Hatten wir nicht vereinbart, dass Sie mir nicht mehr hinterherspionieren?«, beschwerte sich Tom. Er hatte das letzte Mal, als Veyron glaubte, sich als Toms Beschützer aufspielen zu müssen, noch in überaus schlechter Erinnerung.

Veyron sah ihn nicht einmal an, als er erwiderte: »Ich dachte, wir wären uns einig, dass diese Vereinbarung für mich nicht gilt.«

»Veyron, diese Vereinbarung existiert allein Ihretwegen! Und lassen Sie Chloe aus dem Spiel! Von Liebe verstehen Sie nämlich gar nichts.« Während er sprach, wanderte sein Blick die Straße auf und ab, ohne etwas Ungewöhnliches feststellen zu können. »So, jetzt will ich wissen, was für ein Drama Sie meinen. Ist doch alles normal«, forderte er und schaute noch einmal genau hin. Wie jeden Sonntag parkten mehr Autos am Rand des schmalen Gehsteigs als unter der Woche. Von den Nachbarn war weit und breit nichts zu sehen, und Spaziergänger verirrten sich sowieso selten in die Wisteria Road.

»Da ist ein junger Mann, etwa Mitte zwanzig, er steht schon eine ganze Weile an der dritten Laterne von rechts vor Nummer 112. Vorhin während meines Spaziergangs habe ich ihn die Straße rauf- und runterlaufen sehen, zweifellos auf der Suche nach 111. Offenbar ist ihm noch nicht in den Sinn gekommen, auf der anderen Seite nachzusehen. Ich wollte nichts sagen, solange ich mit anderen Gedanken beschäftigt war, doch nun gehört ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Geh und bitte ihn herein, Tom«, erklärte Veyron.

Als Tom den von der Laterne fast verdeckten Mann endlich entdeckte, zuckte er nur mit den Schultern. »Er könnte auch auf seine Freundin warten«, konterte er.

»Nein, sein Blick geht stets zu den Nummern der Häuser. Er will zu mir, ich weiß es. Also geh jetzt und hol ihn herein.«

Tom schnaubte und trat zurück. Diese rechthaberische und fahrige Art und Weise seines Patenonkels ärgerte ihn selbst nach fast zwei Jahren noch immer so wie am ersten Tag. Mit seinen inzwischen sechzehn Jahren fand er es an der Zeit, sich diese schroffe Art der Behandlung nicht weiter gefallen zu lassen. »Nö! Gehen Sie doch selber. Sehe ich aus wie Ihr Hausdiener?«

Veyron beachtete ihn gar nicht, sondern blickte weiterhin forschend aus dem Fenster. »Zu spät, er gibt auf«, sagte er enttäuscht, doch dann hob er überrascht die Augenbrauen. »Ah, interessant. Jetzt hat er uns gefunden. Schau nur, er kommt direkt auf uns zu.«

Gleich darauf klingelte es. Veyron wirbelte auf den Absätzen herum und verschwand aus der Küche. Würde er dem Fremden öffnen? Nein, da hatte Tom sich wohl zu früh gefreut. Stattdessen bog Veyron ins Wohnzimmer ab. Es klingelte erneut.

»Aha. Also wieder mal Showtime, was? Alles klar – Mr. Packard öffnet die Tür und geleitet den verzweifelten Besuch ins Wohnzimmer, wo Mr. Swift dann seinen großen Auftritt hat«, grummelte Tom. Widerwillig machte er sich auf den Weg zur Haustür, um ihren Besucher einzulassen, ehe der es sich wieder anders überlegte.

Seit dem letzten großen Fall war Veyron dick im Geschäft. Die Leute suchten ihn als Berater in übernatürlichen Angelegenheiten auf, wenn sie sich von Geistern bedroht fühlten, von Kobolden oder gar Vampiren. Meistens steckte natürlich nichts dahinter, doch hin und wieder war auch ein echter Fall dabei. Tom erinnerte sich noch gut an den Pureberry-Mord, zu dem Veyron hinzugezogen wurde, weil die Mörder offenbar eine Gruppe Kinder gewesen waren. Die Wahrheit hatte natürlich gänzlich anders ausgesehen. Oder etwa der verzweifelte Vampirjäger Bernie Trapstone, der zu Unrecht der Ermordung einer Vampirfürstin beschuldigt und von deren rachsüchtigen Leibwächterinnen gejagt worden war. Nicht zu vergessen die verzwickte Sache mit der Hexe von Chelsea, in deren Händen sich das Schicksal ganz Elderwelts befunden hatte.

Elderwelt …

Wann immer Tom an Elderwelt dachte, jenes fantastische Reich, das er inzwischen schon zweimal besuchen durfte, packte ihn die Sehnsucht. Von der Welt, in der er aufgewachsen war, durch eine magische Grenze getrennt, war es für alle menschlichen Augen, Ortungsgeräte und Satelliten unsichtbar. Nur durch spezielle Durchgänge konnte man dorthin gelangen. Es geschah nicht oft, dass jemand von dieser Welt nach Elderwelt reiste, viel häufiger schienen es Kreaturen Elderwelts in diese zu schaffen. Meist ausgerechnet die von der üblen Sorte: Vampire, Kobolde, Schrate, Trolle … Dabei waren das noch die harmlosesten Monster, die Elderwelt behausten. Und dennoch war es ein Reich, in dem Träume Wirklichkeit wurden, wo so viel Schönes und Fantastisches existierte. Die Elben im Lande Fabrillian zum Beispiel oder die Zwerge auf der Insel Talassair.

Toms bislang einziges Mitbringsel aus jener Welt war ein Schwert, das oben in Veyrons Arbeitszimmer über dem Fenster hing. Nun gut, es war nicht nur irgendein Schwert, sondern erfüllt vom Geist eines mächtigen Magiers, Professor Lewis Daring. In den vorangegangenen Abenteuern war es ihnen schon einige Male eine große Hilfe gewesen, denn es verfügte über ein paar wirklich erstaunliche Fähigkeiten. Dazu gehörte sein plötzliches Erscheinen wie aus dem Nichts, wenn man seiner Hilfe bedurfte.

Der Gedanke an das magische Schwert ließ Tom inständig hoffen, bald wieder nach Elderwelt zurückzukehren. Seiner Meinung nach war das überfällig.

Ihr Besucher stellte sich als Danny Darrow vor und mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein. Tom musterte ihn. Er war von durchschnittlicher Größe, braun gebrannt und durchtrainiert, das dunkle Haar mit Gel in Form gebracht. Seine Klamotten – lauter cooles Zeug – stammten aus den besten Läden Londons. Tom mochte ihn jetzt schon. Sofort bat er ihn ins Haus und führte ihn ins Wohnzimmer.

Ganz wie erwartet lümmelte Veyron im großen Ohrensessel, die Fingerspitzen aneinandergelegt und ins Leere starrend. Tom verdrehte die Augen. Diesen theatralischen Auftritt hatte er inzwischen schon einige Male miterlebt; man konnte inzwischen fast von einem Ritual sprechen.

Veyron deutete in ausladender Geste auf die gegenüberliegende Couch. »Willkommen, Mr. Darrow. Bitte setzen Sie sich und schildern Sie mir Ihr Problem. Keine Sorge wegen Tom. Er ist mein Assistent, und Sie können vor ihm so frei reden wie vor mir. Zeigen Sie bitte keine Hemmungen und erzählen Sie mir alles. Vergessen Sie nicht …«

»… das kleinste Detail. Ja, ja. Das kenn ich jetzt schon«, unterbrach ihn Tom murrend.

Veyron überging das mit einem kurzen Lächeln. »Ganz genau, Tom. Schön, dass du dir auch einmal merkst, was ich sage. Also, Mr. Darrow, nur keine Scheu. Legen Sie los. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich mir nicht besser Sorgen um Sie machen sollte. Ihr Lebensstil ist sehr nachlässig, dabei steht Ihnen in Kürze Ärger von Amts wegen bevor, besonders von Polizei und den Ordnungsämtern aus Bristol, Oxford und Paddington. Sie sehen diese Sache jedoch sehr locker, obwohl sie durchaus kurzzeitig recht zornig darüber waren. Immerhin sind Sie finanziell gut abgesichert. Doch das alles ist wohl kaum der Grund, dass Sie den weiten Weg von Oxford hierher machen, um mich mit solchen Banalitäten zu langweilen«, sagte er.

Tom erging es genauso wie Danny Darrow: Er konnte nur die Augen aufreißen und seinen Paten ungläubig anstarren.

Darrow suchte einen Moment verdattert nach den richtigen Worten. »Woher … woher wissen Sie … ich meine … Von was zum Henker reden Sie denn da bloß?«, stammelte er, was Veyron ein sardonisches Grinsen auf seine schmalen Lippen zauberte.

»Ich rede von Ihrem Porsche draußen auf der Straße, Modell 911 Carrera S, Baujahr 1997, nachtschwarz mit Nummer aus Oxford. Als Sie draußen die Hausnummern abklapperten, spielten Sie die ganze Zeit nervös mit Ihrem Autoschlüssel herum. Ich konnte erkennen, dass es ein Porscheschlüssel war, das Design mit dem integrierten Wappen ist unverwechselbar. Hier in der Straße fährt jedoch niemand einen Porsche. Da bis zu Ihrem Auftauchen auch noch nie einer hier parkte, kann das Modell draußen vor Nummer 114 allein Ihr Wagen sein. Nun zu Ihrer Nachlässigkeit und dem Amtsärger, der Ihnen bevorsteht: Bei meinem kleinen Spaziergang kam ich an Ihrem Wagen vorbei und konnte einen Blick ins Innere erhaschen. Auf der Rückbank Ihres Wagens tummelt sich inzwischen eine recht beachtliche Sammlung an Strafzetteln. Einige sind oben eingerissen, etwa zwei Zentimeter. Die verbogenen Ecken links und rechts zeigen mir, dass dies kein Versehen war, sondern mit Gewalt ausgeführt wurde. Dann haben Sie es sich jedoch anders überlegt und sämtliche Strafzettel einfach nach hinten geworfen. Warum? Weil Sie sie sich zwar geärgert haben, aber Ihre Sorglosigkeit schnell wieder die Oberhand gewann. Dass Sie die Strafzettel nur achtlos nach hinten werfen, verdeutlicht mir Ihre unbekümmerte Lebensführung. Sie nehmen viele Dinge weitaus weniger ernst, als Sie vielleicht sollten. Die Polizei und das Ordnungsamt werden diese unbezahlten Bußgelder jedoch nicht mehr lange hinnehmen, weswegen Ihnen zweifellos Ärger bevorsteht. Sie leisten sich teure Kleidung und den Unterhalt eines Sportwagens. Daraus schließe ich, dass Sie finanziell abgesichert sind und die bevorstehenden Buß- und Mahngelder mit Leichtigkeit begleichen könnten.«

Veyron sprach so schnell, dass Tom Mühe hatte, alles aufzunehmen. Ein Blick zu Darrow zeigte ihm, wie wenig dem Besucher diese Enthüllungen gefielen, vor allem, da sie obendrein auch noch zutrafen. Tom erwartete fast, Darrow in die Luft gehen und wütend das Haus verlassen zu sehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Veyron andere Menschen auf diese Wiese vergraulte.

Danny begann stattdessen, laut und herzlich zu lachen. »Stark!«, rief er aus. »Echt stark! Das haben Sie mit einem einzigen Blick in mein Auto alles herausgefunden?«

»Die einzig logische Analyse, wenn ich alle Fakten miteinander kombiniere. Aber genug der Spielchen. Was ist nun Ihr Problem, Mr. Darrow?«, gab Veyron im lapidaren Tonfall zurück.

»Sie haben recht, Mr. Swift«, sagte Darrow. »Aber das ist vorbei, diesen nachlässigen Danny, den gibt’s nicht mehr. Und wissen Sie, warum? Ich habe die Frau meines Lebens kennengelernt. Wissen Sie, wie es ist, wenn Sie eine Frau zum ersten Mal sehen, und es macht Kazoom, und Sie können an nichts anderes mehr denken als an sie? Das ist mir noch nie passiert. Normalerweise interessieren mich nur Arsch und Titten und vielleicht noch ein nettes Gesicht. Aber bei Fiona … Na ja, das hat mich einfach umgehauen. Ich kann eigentlich nur noch an sie denken. Das kennen Sie doch sicher, oder?«

»Nein, kenne ich nicht«, sagte Veyron kalt – und meinte es auch so. »Fahren Sie fort, und bitte nur sachliche Details. Klammern Sie alle Emotionen aus, wenn es geht.«

Darrow schaute kurz überrascht auf und musste wieder lachen. »Alles klar, Mr. Spock – äh, Swift. Nur sachliche Details. Alles klar. Also, ich hab Fiona in der Bibliothek kennengelernt. Hatte mich mal wieder dazu entschlossen, etwas zu studieren. Wirtschaftswissenschaften – mein Vater will, dass ich sein Nachfolger in der Bank werde. Es stimmt, Geld war und ist für mich kein Problem. Ich kann mir kaufen, was ich will, ich brauch auf nichts zu achten. Na ja, eigentlich geh ich ja nie in die Bibliothek, doch ein Kumpel von mir hatte sich ein paar Bücher ausgeliehen, sich aber das Bein gebrochen. Drum hab ich die ollen Schinken für ihn zurückgebracht. Und da hab ich sie gesehen. Fiona Smith. Mann, was für eine Frau! Saß einfach dort, über einem dicken Wälzer gebeugt … was war’s doch gleich? Ach, keine Ahnung. Ich hab’s fotografiert. Hier …«, erklärte er, griff in seine Hosentasche, holte ein Smartphone heraus und warf es Tom zu.

Der staunte nicht schlecht. Das allerneueste Modell.

»Nur zu, ist nicht Passwort-gesichert. Ich vergess so was eh schnell«, sagte Darrow.

Tom aktivierte die Bildergalerie und fand sofort ein paar Fotos eines dicken Buchs. »Griechische Sagen. Von Lewis A. Daring! Veyron, es ist ein Buch des Professors«, rief er überrascht aus, als er das Bild des Umschlags heranzoomte.

Darrow schaute verwirrt drein.

Veyron winkte ab. »Ein Insider – und uns fehlt die Zeit, das näher zu erläutern. Es ist auch unwichtig. Fahren Sie bitte fort, Mr. Darrow.«

»Okay. Also Fiona. Sie saß dort und las dieses Buch. Mir war sofort klar: Das ist die Frau meines Lebens. Ich geh zu ihr hin und stell ein paar saublöde Fragen. Über das Buch, ob es gut ist oder so. Sie findet es wohl lustig. Sie hat ein umwerfendes Lachen, kein so oberflächliches Gekicher. Na ja, auf alle Fälle sind wir irgendwie ins Gespräch gekommen – weiß gar nicht mehr, um was es ging … egal. Wir machten ein Date aus und gingen ins beste Pub von ganz Oxford. Es war ein netter Abend, wir hatten beide viel zu lachen. Danach noch kurz in den nächsten Club, ein bisschen tanzen, und zuletzt hab ich sie heimgefahren. Und das war’s dann. Normalerweise endet ein Abend mit einem Mädchen bei mir nie auf diese Weise. Frauen fliegen auf meine Autos und mein Geld. Zuletzt landen sie alle bei mir im Bett. Aber Fiona, die war nicht so leicht rumzukriegen. Sie bedankte sich für den schönen Abend, aber mehr nicht. Mann, zum ersten Mal im Leben habe ich gefragt, ob wir uns wiedersehen werden. Vielleicht hätte sie Lust, ins Kino zu gehen? Sie hat Ja gesagt! Wirklich gern, meinte sie. Stellen Sie sich das vor: Ich und um ein zweites Date bitten, ein Danny Darrow! Das gab’s noch nie. Und als sie Ja gesagt hat, da war ich aufgeregt wie ein kleiner Junge, der …«

Veyron räusperte sich und unterbrach den jungen Mann. »Keine Emotionen«, erinnerte er seinen Klienten streng.

»Ja, ja, schon klar. Auf jeden Fall kam es zu keinem zweiten Date. Sie ist einfach nicht aufgetaucht. Das hat mich echt verwirrt. Ich hatte ja ihre Handynummer, doch als ich sie anrief, sagte eine verdammte Computerstimme, die Nummer sei nicht vergeben. Aber so leicht gibt ein Danny Darrow nicht auf. Ich hab in der Uni nachgeforscht, doch kein Mensch kannte eine Fiona Smith. Sie war nicht eingeschrieben, nirgendwo. In keinem Wohnheim, in keinem einzigen Kurs. Aber Zugang zu dieser Bibliothek erhalten nur gemeldete Personen, und man muss sich eintragen, wenn man Bücher ausleiht. Ich hab auch da nachgeforscht. Dieses Buch, dieser fette Wälzer, der wurde seit drei Jahren nicht mehr ausgeliehen, hat mir der Bibliothekar erzählt«, fuhr Danny fort. Dann wurde er seine Stimme leise.

Tom erkannte, wie unangenehm es ihm war, weiterzuerzählen.

»Ich fuhr sie ja nach unserem ersten Date heim. Bin schließlich ein Gentleman. Sie wohnt hier, mitten in London, in Paddington, 42b False Lane. Aber auch dort gibt es keine Fiona Smith. Der Hausmeister erzählte mir, es hätte nie eine Mieterin im Haus gegeben, auf die meine Beschreibung passt. Ich hatte an jenem Abend ihr Namensschild an der Klingel gesehen. Jetzt war es jedoch verschwunden. Mr. Swift, meinen Sie, ich hatte ein Date mit einem Geist? Also mir kommt’s fast so vor.«

Veyron Reaktion bestand in einem tiefen Durchatmen. »An wie vielen Tagen haben Sie Miss Smith gesehen?«

»Leider nur an einem.«

»Nur an diesem einen Tag?«

»Ja, klar.«

»Sie genießen an der Universität den Ruf eines Frauenhelden, nehme ich an?«

»Ja, denk schon. Ich bin nicht hässlich, wissen Sie, und ich glaub, ich bin eigentlich immer gut drauf. So was mögen die Mädels.«

»Sie haben an diesem Abend alle Rechnungen bezahlt?«

»Selbstverständlich. Ich bin ein Gentleman, zumindest meistens. War ziemlich viel. Ist ja auch ein nobler Schuppen, die lassen da nicht jeden rein.«

Veyron lachte amüsiert. Dann klatschte er in die Hände. »Sind Sie schon einmal auf die Idee gekommen, dass Miss Smith Sie belogen haben könnte? Dass Sie wegen Ihres Bekanntheitsgrades und Ihres Rufs hereingelegt wurden? Es gibt nicht nur Frauenjäger, sondern auch Männerjägerinnen, Mr. Darrow. Die Lady hat sie ausgenommen. Geben Sie eine Vermisstenanzeige auf, wenn Sie sie unbedingt finden wollen.«

»Habe ich schon gemacht. Die Polizei hat noch nichts von sich hören lassen. Die waren anfangs sehr engagiert und haben auch alles in den Computer eingeben. Aber als ich am nächsten Tag nachfragte, waren sie sehr komisch, als würde sie der ganze Fall nicht mehr interessieren. Sie würden sich dann schon melden und noch mehr Blabla«, versuchte Darrow sein Anliegen zu retten.

»Wahrscheinlich, weil man zu der gleichen Erkenntnis gelangte wie ich, Mr. Darrow. Die Sache ist es nicht wert. Fahren Sie nach Hause und vergessen Sie Miss Smith am besten sofort. Goodbye«, erwiderte Veyron kalt, schloss die Augen und beachtete Darrow nicht mehr weiter.

Sichtlich niedergeschlagen erhob sich der junge Mann und schaute Veyron noch einmal flehentlich an. Als der nicht reagierte, trat er mit einem Seufzen hinaus in den Flur. Tom folgte ihm; immerhin verlangte es seiner Meinung nach der Anstand, dass er den armen Kerl wenigstens zur Tür brachte. Veyron zeigte sich stets sehr abweisend gegenüber den Leuten, wenn ein Fall nicht sein Interesse fand.

»Tut mir leid, Mr. Darrow«, sagte Tom schließlich und versuchte ein aufmunterndes Lächeln zustande zu bringen. »Vielleicht überlegt er es sich noch anders. Wäre nicht das erste Mal. Manchmal muss er nur ein Weilchen darüber nachdenken.«

»Sag Danny zu mir, Kleiner. Hier, nimm meine Karte. Ruf mich an, wenn dein … was ist er eigentlich von dir?«

»Mein Boss«, log Tom. Die Wahrheit, dass er bei Veyron lebte, weil seine Eltern tot waren, wollte er nicht jedem erzählen. Nur seine Freunde durften davon wissen. Alle anderen ging es nichts an.

»Okay. Dein Boss eben. Hatte mir schon so was gedacht. Kann schon sein, dass ich auf ein Biest hereingefallen bin. Blöd, mich gerade in so eine verknallt zu haben, was?«, meinte Danny und lächelte verschämt. Er nahm die Sache lockerer, als Tom vermutet hätte – oder er war ein guter Schauspieler.

»Ist mir auch schon passiert. Da kommt man drüber hinweg«, gab er zurück, als wäre es für ihn etwas Alltägliches.

Das brachte Danny zum Lachen, ein lautes, von Herzen kommendes Gelächter. »Sagt mir ein Knirps, der sich noch nicht mal rasieren muss! Alles klar, Kleiner, du bist schwer in Ordnung. Ruf mich an, falls dein Boss es sich anders überlegt. Dann spendiere ich dir eine Spritztour, und wir gehen gemeinsam auf Brautschau.«

Sie verabschiedeten sich, und Danny schlenderte zu seinem Porsche, während Tom die gereichte Visitenkarte einsteckte und ins Wohnzimmer zurückkehrte.

Veyron saß immer noch in seinem alten Ohrensessel. »Was für ein Reinfall. Schade, ich hatte mir mehr erhofft, als einen liebeskranken Narren. Die Liebe, mein lieber Tom, ist in der Tat eine Krankheit, der man nur durch einen disziplinierten Verstand vorbeugen kann. Sie zerstört die Logik des Geistes und verhindert ein klares, rationales Denken. Kurzum: Sie macht Idioten aus uns allen«, seufzte er, als Tom wieder eintrat und sich auf die Couch fallen ließ.

»So ein Mist kann auch nur von Ihnen kommen. Mensch, Veyron! Haben Sie nicht aufgepasst? Die Lady, diese Fiona, hat in einem Buch von Professor Daring gelesen. Wie wir wissen, war der Mann ein Simanui, ein Zauberer. Sein Geist steckt in dem Schwert, das oben in Ihrem Arbeitszimmer hängt. Das muss doch was bedeuten!«, rief Tom aufgeregt.

Veyron winkte jedoch ab. »Zutreffend. Professor Daring war jedoch auch genau dies: ein Professor, und zwar für Geschichte, Vorgeschichte, Kunst und Germanistik. Er hat eine Vielzahl von Büchern geschrieben, die du heute alle noch kaufen oder dir in Bibliotheken ausleihen kannst. Tausende von Studenten haben schon in seinen Werken geblättert, ohne dass eine tiefer gehende Bedeutung darin läge. Google einfach mal, dann wirst du staunen. Darings Werke zur ägyptischen, griechischen und römischen Mythologie zählen zu den besten der Welt, wenngleich es unter den Experten Dispute über seine Interpretationen gibt. Das ist also absolut nichts Ungewöhnliches. Wenn uns der Darrow-Fall eines lehrt, dann vielleicht ein wenig Demut bezüglich unserer eigenen Erwartungshaltung. Und Mr. Darrow hat hoffentlich ebenso eine Lektion erhalten, die seinem Ego sicherlich nicht schaden wird. Übrigens: Wolltest du dich heute nicht mit deinen Freunden treffen, um sinnlos die Zeit zu vertändeln?« Damit war das Thema für seinen Patenonkel abgehakt. Plötzliche Themenwechsel bedeuteten ganz klar: keine weitere Diskussion.

Tom schüttelte ob dieses Unverständnisses noch einmal den Kopf, stand auf und ging hinauf in sein Dachbodenzimmer. Die Aussicht, wieder in einen interessanten Fall verwickelt zu werden, war für dieses Wochenende erst einmal dahin.

Kurze Zeit später hing Tom mit seinen Kumpels Bert und Bill am Spielplatz ab. Natürlich nicht, um im Sandkasten zu spielen oder zu rutschen. Für drei Sechzehnjährige kam so was nicht mehr infrage. Sie hätten auch zu Bert gehen können, der hatte ein paar neue Spiele für seine Konsole. Oder zu Bill, dessen Vater sie öfter mal auf ein Bier einlud. Veyron sah es zwar nicht gern (und das Auge des Gesetzes auch nicht); letztlich ließ er es Tom immer durchgehen, genauso wie die eine oder andere Zigarette. Aber auf dem Spielplatz war es gemütlich, und sie hatten ihre Ruhe. Tom fand, dass es keinen besseren Platz zum Abhängen gab. So saßen die drei auf dem verlassenen Karussell, warteten auf den Rest ihrer Clique und schickten sich unterdessen lustige YouTube-Videos oder WhatsApp-Nachrichten.

»Herumhängen und chillen ist echt das Beste«, sagte Bert Ramsey, den Tom als seinen besten Kumpel bezeichnete.

Sie hatten sich kennengelernt, als Tom von Ealing nach Harrow wechseln musste, und sich sofort gut verstanden. Bill Huggins hatte sich ihnen etwas später angeschlossen. Ein paar weitere Jungs ihres Alters kamen für gewöhnlich dazu, wenn sie auf dem Morshower-Spielplatz abhingen. Der bestand nur aus einem teils von Gras überwachsenen Sandkasten, einer rostigen Schaukel und einem quietschenden Kinderkarussell. Tom konnte sich nicht erinnern, hier jemals Kinder gesehen zu haben. Seit zwei Jahren war dies ihr regelmäßiger Treffpunkt.

»Genau, Alter. Wir könnten runter in die Stadt. Ich hab langsam Hunger«, schloss sich Bill der Auffassung seines Freundes an.

Tom grunzte verächtlich. »Du hast doch immer Hunger«, meinte er.

Bert kicherte; Bill stemmte in gespielter Empörung die Fäuste in die Hüften. »Hey«, protestierte er. »Nur weil ich kein solcher Hungerhaken sein will wie du? Schau dich doch mal an – jeder könnte dich einfach umnieten, wenn er wollte. Stimmt’s, Tom?«

Bert musste wieder kichern. Bill war gegen ihn ›fest gebaut‹, wie er das nannte – andere hätten wohl eher rundlich gesagt.

Tom zuckte mit den Schultern. »Soll doch jeder machen, wie er glücklich ist.« Insgeheim war er froh, weder so dick wie Bill noch so klapperdürr wie Bert zu sein.

»Du hast gut reden, dabei bist du auf dem besten Weg, dem Idioten Rodgers Konkurrenz zu machen. Als Held der Schule stehen alle Mädchen auf dich«, maulte Bert.

Tom verdrehte die Augen und winkte ab. »Falls du auf diese Sache mit dem Polizeischutz letztes Jahr anspielst: Das wird völlig überbewertet.« Seinen Freunden konnte er – trotz aller Vertrautheit – ja schlecht erzählen, dass er damals in Wahrheit Elderwelt besucht hatte.

»Ach ja? Und was ist mit der Polizei, die bei euch ständig ein- und ausgeht? Von den ganzen anderen Leuten reden wir gar nicht. Nein, Tom, da kommst du nicht mehr raus! Du hast ja keine Ahnung, was so alles erzählt wird. Du und dein Onkel, ihr wärt Terroristen auf den Schlips getreten. Und diese Typen, die vor der Schule immer allen aufgelauert haben? Die hast du im Alleingang fertiggemacht – mit einem Schwert!«, hielt Bill dagegen.

Tom knirschte mit den Zähnen. Von einem gewissen Standpunkt aus war das alles richtig – wenngleich ein klein wenig übertrieben.

»Genau, und vor zwei Jahren waren du und dein Onkel die einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes«, steuerte Bert bei.

Tom lachte und stieß das Karussell an, auf dem seine beiden Freunde saßen. »Ja, ja. Und wenn schon. Hey, ihr könnt ja damit angeben, dass ihr mit einem echten Superhelden befreundet seid. Ich könnte ja Autogrammstunden organisieren. Vielleicht beißt bei euch dann auch mal ein Mädel an«, gab er zurück.

»Idiot«, raunzte Bert, und Bill fügte an: »Du Arsch.«

Tom lachte noch lauter und bremste das Karussell so ruckartig ab, dass die beiden fast aus den Sitzen geschleudert wurden und die beiden aufschrien und sich festklammern mussten. Sobald sie sich gefangen hatten, brummelte Bill vor sich hin, während Bert in Toms Gelächter einfiel.

Gemeinsam schlenderten sie dann ein paar Meter über den verlassenen Spielplatz, ohne recht zu wissen, wohin oder was sie tun sollten. Normalerweise wären längst Norman, John und Marc zu ihnen gestoßen, doch heute ließen die anderen Kumpels auf sich warten.

»Wo bleiben die denn bloß? Seit Marc die Schule geschmissen hat und in der Tankstelle jobbt, hat er fast nie mehr Zeit«, beschwerte sich Bill.

Tom seufzte beim Gedanken daran, dass auch für sie bald eine neue Zeitrechnung beginnen würde. Nächstes Jahr standen die ersten Examina an. Bert wollte aufs College wechseln und studieren, Bill wusste noch gar nicht, was er danach tun sollte – und Tom? Journalismus, dachte er, wie so oft in diesen Tagen. Ich will Journalist werden, genau wie mein Vater.

Bill zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus den Gedanken. »Schau, da ist unser Schatten. Ernie ist wieder da«, sagte er und nickte hinüber zu einer Gruppe Sträucher. Dahinter war deutlich eine Gestalt zu erkennen.

»Der schon wieder«, stöhnte Tom.

Ernie Fraud, ein schüchterner Junge aus der Parallelklasse, verfolgte sie jetzt schon seit zwei Wochen fast jeden Tag. Er war hochgewachsen und hager, das Gesicht stets ernst. Tom hatte ihn noch nie lächeln sehen. Erst vor Kurzem war er an die Schule gekommen und, soweit Tom wusste, ein hochintelligenter Junge, aber irgendwie seltsam. Niemand in seiner Klasse wollte sich mit ihm anfreunden, was auch kein Wunder war, da sich Ernie allem verweigerte. Er machte beim Sport nicht mit, redete mit niemandem und wenn, dann nur Gemeinheiten und Beleidigungen. Nur zu Toms Clique schien er sich neuerdings hingezogen zu fühlen. Stets beobachtete er sie aus sicherer Entfernung, und solange sie nur zu zweit oder zu dritt waren, traute er sich sogar zu ihnen rüber. Für gewöhnlich kam es nur zu einer kurzen Begrüßung, dann umkreiste Fraud sie wie ein Haifisch auf Beutefang oder saß einfach nur abseits und suchte Aufmerksamkeit. Tom tat der schüchterne Junge fast ein wenig leid. Ernie besaß keine Freunde – außer einer Facebook-Freundin, die sich Judy nannte. Er hatte Tom mal so was erzählt, als sie sich kurz unterhalten hatten. Soweit Tom wusste, war diese Judy auch Ernies einzige Facebook-Freundin. Ein armer Kerl.

»Und da kommt Ärger anmarschiert. Rodgers ist da«, sagte Bert und nickte in die entgegengesetzte Richtung.

Toms Fäuste ballten sich fast instinktiv, als er diesen Namen hörte.

Stevie Rodgers, einen halben Kopf größer als Tom und annähernd doppelt so breit in den Schultern, stolzierte heran, gefolgt von seinen vier üblichen Handlangern – deren Namen Tom immer wieder entfielen.

»Gleich setzt es was. Der arme Ernie«, meinte Bill.

Tatsächlich umstellten Rodgers und seine Jungs Fraud, kaum dass sie ihn erspäht hatten. Tom konnte die gewechselten Worte nicht genau verstehen, aber es waren ohne jeden Zweifel üble Drohungen und Gemeinheiten. Normalerweise machten sich Rodgers und seine Leute einen Spaß daraus, Ernie das Fürchten zu lehren und ihn dann wegrennen zu lassen. Doch diesmal war es anders – die Burschen waren auf Stunk aus. Rodgers, Rugbymeister der Schule, war bekannt für sein hämisches Grinsen und sein herablassendes Gehabe. Das war ihm heute abhandengekommen.

»Was hat Ernie denn ausgefressen?«, wollte Tom wissen und deutete auf Rodgers’ knallrot angelaufenes Mopsgesicht.

Seine beiden Freunde schauten ihn dermaßen verwundert an, als würde das die ganze Welt wissen, mit Ausnahme von Tom. »Weißt du das gar nicht? Fraud ist verknallt. Und zwar in Lilly«, klärte ihn Bill auf.

Tom machte große Augen. »In Stevie Rodgers Schwester? Okay, wer ist das nicht? Sie ist aber auch wirklich heiß.«

Bert stimmte ihm zu. »Gute Gene in der Rodgers-Familie: die Schönheit für die Mädels und die Muckis für die Jungs. Der arme Ernie.«

»Der Idiot hat Lilly einen Liebesbrief geschrieben. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so viel Traute«, ergänzte Bill.

»Hat sie das etwa ihrem Bruder gesagt?« Tom war entsetzt.

Doch Bill schüttelte sofort den Kopf. »Nein, hat sie nicht. Lilly hat es aber ihre Freundinnen wissen lassen. Zu denen gehört ja auch Vanessa, die mit Stevie geht. Die hat es ihm dann gesteckt. Und Stevie ist der Meinung, dass Ernie Fraud nicht zu seiner Schwester passt.«

Tom nickte nur. Seine Aufmerksamkeit galt dem Geschehen rund um Fraud und Rodgers. Gerade fingen dessen Kumpel an, Ernie hin und her zu schubsen. »Okay, das reicht. Ich greif ein«, entschied er und machte einen Schritt nach vorn.

Bert packte ihn am Arm. »Lass das! Das geht uns nichts an. Die sind zu fünft und wir nur zu dritt. Und Fraud wird davonlaufen. Hör bloß auf, Tom!«

Tom riss sich los und ging weiter, nur Bill folgte ihm zögernd. »Warten wir doch lieber auf Norman und John. Dann ist es ausgeglichen«, versuchte Bill ihn zu bremsen.

In diesem Moment sah Tom Ernie zu Boden gehen und die Fäuste von Stevies Kumpeln fliegen. Nein, er würde nicht mehr länger warten. Die Entscheidung war gefallen.

In Elderwelt hab ich mich mit Schraten, Kobolden, Trollen und Fenriswölfen angelegt, dachte er. Ich werde jetzt bestimmt nicht vor einem Rugbymeister und seinen Schlägern kneifen.

»Hey! Hört auf, ihr Idioten«, rief er in Rodgers Richtung und begann zu rennen.

Sofort wirbelte der zu ihm herum, blanken Zorn im Gesicht.

»Oh Mann, da kommen die drei Trolle«, hörte Tom einen der Handlanger (George oder so ähnlich) höhnen.

Drei? Tom schaute kurz über die Schulter. Ja, Bert hatte seine Furcht überwunden und nahte heran.

»Halt dich da raus, Packard!«, drohte Rodgers.

Doch Tom wurde kein bisschen langsamer. Das schien zumindest die vier Handlanger etwas zu verunsichern.

»Lasst Ernie in Ruhe. Der arme Kerl hat es schwer genug. Was seid ihr nur für Feiglinge?«, schalt Tom sie.

Die Bande lachte, allein Rodgers fand das gar nicht lustig. »Verzieh dich, Packard – oder du bist derjenige, der ein paar aufs Maul kriegt!«

»Kannst es ja mal versuchen, Rodgers. Ich bin schon mit schlimmeren Typen fertig geworden. Lass Ernie in Ruhe, dann brauchst du morgen auch nicht zu erklären, wo du die gebrochene Nase herhast.«

Tom stand seinem Kontrahenten jetzt direkt gegenüber, war nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Rodgers bebte vor Zorn; seine Kumpels begannen, Tom, Bill und Bert einzukreisen.

»Kannst du wenigstens Karate?«, raunte Bill leise zu Bert.

»Hey, ich bin Intellektueller! Meine Waffe ist die Feder, nicht das Schwert«, versuchte der einen Witz daraus zu machen. Rodgers Kumpel fanden ihn nicht besonders lustig.

Anspannung lag in der Luft wie ein straff gezogenes Seil. Jeden Moment würde es reißen. Tom kannte dieses Gefühl zur Genüge und war auf alles gefasst; er war ein Kämpfer, trainiert durch die Abenteuer in Elderwelt. Rodgers würde es gleich zu spüren bekommen.

Doch dann sprangen dessen vier Kumpels vor und stürzten sich auf ihn, Bill und Bert. Es entbrannte ein Gerangel. Aus dem Augenwinkel sah Tom seine beiden Freunde mit je einem der Schläger kämpfen, dann packten die anderen beiden ihn von hinten an den Armen und hielten ihn fest. Tom trat wütend um sich und erwischte ein ums andere Mal ihre Schienbeine. Schreiend ließ der eine los, sodass Tom sich auch aus dem Griff des anderen winden und seinen Gegner stellen konnte. Er spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern schoss, wie es seine Reaktionen beschleunigte, wie er fast wie von allein Schläge parierte und selbst welche austeilte. Er wollte es nicht zugeben, doch ein kleiner Teil von ihm genoss es. Einer von Rodgers Kumpels sackte zu Boden, keuchte und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Brustkorb. Tom wusste, wo er hinschlagen musste. Veyron Swift war ein meisterhafter Lehrer gewesen. Seit ihrem ersten Abenteuer hatten sie immer wieder mal ein wenig trainiert – und noch mehr nach ihrem zweiten.

Doch auch auf ihrer Seite gab es Verluste. Bert lag schon am Boden, und Bill rang mit gleich zwei Gegnern. Da griff auch Rodgers ein, schneller und stärker als seine Spießgesellen. Sein Faustschlag erwischte Tom mitten im Gesicht. Er schmeckte warmes Blut, das ihm aus der aufgeplatzten Lippe übers Kinn lief. Den nächsten Schlag konnte er gerade noch abwehren, aber nicht den Tritt in die Kniekehle, den ihm einer von Rodgers’ Handlangern verpasste. Noch ein Schlag von Rodgers, den er parierte. Aus den Augenwinkeln sah Tom, wie Ernie Fraud flüchtete und lauthals um Hilfe rief. Der eine Schläger wollte ihm nachsetzen, doch Tom holte ihn mit gestrecktem Bein von den Füßen. Mit wütendem Gebrüll warf sich Rodgers nun auf Tom, doch der verpasste dem Kerl einen dermaßen harten Kinnhaken, dass dessen Zähne knirschten. Den entfesselten Zorn seines Feindes konnte Tom damit jedoch nicht eindämmen. Rodgers war nicht umsonst Rugbymeister. Schmerz machte ihn nur noch wilder.

»Ich bring dich um, Packard!«, brüllte er.

Plötzlich quietschten Autoreifen, lautes Hupen ließ zum Schlag erhobene Fäuste in der Luft verharren. Ein schwarzer Range Rover preschte mitten auf den Spielplatz. Rodgers Kumpels suchten sofort das Weite. Er selbst versuchte ebenfalls zu fliehen, doch Tom hielt ihn fest.

Jetzt flogen die Wagentüren auf, und zwei kräftige Männer in Anzügen sprangen heraus. Sie stürmten vor, packten Rodgers und schleuderten ihn zur Seite.

»Mr. Packard?«

Tom nickte benommen.

»Sie müssen mit uns mitkommen«, befahl der eine streng, während der andere Bill und Bert auf die Beine half.

»Warum«, fragte Tom und wischte sich Blut aus dem Gesicht.

Der Mann zückte seine Dienstmarke. »CID. Wir haben ein paar wichtige Fragen«, sagte er.

Tom wollte protestieren, aber dann kam ihm in den Sinn, dass Veyron vielleicht einen neuen Fall ergattert hatte. Die Neugier ließ seine Kampfeslust schlagartig verpuffen. Er stand auf, warf Stevie Rodgers einen letzten zornigen Blick zu und folgte den beiden Männern zum Wagen.

»Ich meld mich später, wenn ich weiß, was los ist«, rief er Bill und Bert zu.

Rodgers’ Zorn war dagegen noch lange nicht verflogen. »Das ist noch nicht zu Ende, Packard!«, brüllte er, dann sprang er auf und rannte davon.

Bill und Bert riefen ihm ein paar sehr unflätige Namen hinterher. Mehr bekam Tom nicht mehr mit. Die Männer schoben ihn auf die Rückbank, machten die Tür zu und stiegen vorn ein. Eine verdunkelte Scheibe trennte das hintere Abteil von den Fahrersitzen. Die Fahrt ging los.

Tom war nicht allein. Neben ihm saß eine junge Frau, sie mochte wohl Mitte zwanzig sein, relativ hübsch und in einen ähnlich teuren Anzug gekleidet wie die beiden Männer vorn. Ihr langes Haar trug sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengeknotet. Das gänzlich ungeschminkte Gesicht ließ sie ein wenig burschikos wirken.

»Wie ich sehe, kamen wir keinen Moment zu spät. Tut mir leid, dass wir nicht schneller waren. Wir erhielten die Nachricht über Ihren Aufenthaltsort erst vor zehn Minuten«, erklärte die Frau und reichte Tom ein Taschentuch.

Er nahm es dankend an und tupfte sich Blut von der aufgeplatzten Lippe. Erst jetzt spürte er die Schmerzen in der Brust, an den Armen und im Gesicht. »Kein Problem. Aber wir hätten das schon geschafft. Ich hatte diesen Rodgers schon fast am Boden«, log Tom.

Die Frau kicherte. »Natürlich«, meinte sie nur.

Tom schaute sie genauer an. »Sie sind nicht vom CID. Gregson schickt normalerweise Willkins, Brown oder den Idioten Palmer«, stellte er fest.

Sie nickte. »Nein, das war nur die Story, die wir Ihren Freunden erzählen mussten, Mr. Packard. Sie haben ja einen gewissen Ruf an Ihrer Schule, darum schien uns das glaubhaft. Ich bin Agent Hunter vom MI-6.«

Jetzt war Tom wirklich sprachlos. Es verging fast eine Minute, bis ihm etwas einfiel, das ihm weder blöd noch peinlich vorkam. »Wow.«

Und sofort war es ihm peinlich. »’Tschuldigung. Aber das ist echt … wow! Dürfen Sie mir das überhaupt sagen?«

»Natürlich. Wir fahren zum MI-6-Hauptquartier, darum wäre es wohl sinnlos, das geheim zu halten. Das kennt eh schon die ganze Welt«, erklärte Hunter. Sie lächelte, als sie Toms verdutztes Gesicht bemerkte. »Der Direktor will Ihren Patenonkel treffen, doch der bestand darauf, dass auch Sie an diesem Treffen teilnehmen«, führte sie weiter aus, als erriete sie seine vielen unausgesprochenen Fragen.

»Okay. Wie haben Sie mich überhaupt gefunden? Beobachten Sie mich schon länger?«

»Ja – zumindest, seit der Direktor mit Ihrem Patenonkel Kontakt aufgenommen hat. Das war vor zwei Wochen. Ich bin Judy.«

»Wie Ernie Frauds Facebook-Freundin«, murmelte Tom. Dann wurde ihm die Bedeutung dieser Tatsache bewusst. »Na klar, Sie sind es! Darum hat Ernie die Nähe zu meinen Kumpels und mir gesucht. Sie haben ihn als Spion eingesetzt! Also, das ist gemein, richtig gemein sogar.«

Hunter zuckte beiläufig mit den Schultern. »Der Zweck heiligt die Mittel, Mr. Packard. Ernie hält große Stücke auf Sie. Es war also recht leicht, ihn zu rekrutieren. Als Gegenleistung erhielt er ein wenig Verständnis und Freundschaft. Hat ihm nicht geschadet – und uns geholfen. Ohne diese kleine Maßnahme hätte dieser Rodgers Sie wohl zu Mus verarbeitet.«

Tom kam nicht darum herum, dem zuzustimmen. Auf die anschließend Frage, was der MI-6 von Veyron wollte, erhielt er jedoch ebenso wenig eine Antwort wie darauf, zu welcher Abteilung Agent Hunter gehörte. Sie lächelte stets nur, zückte ihr Smartphone, tippte irgendwelche Nachrichten ein und tat so, als existiere er gar nicht. Die Unterhaltung war für sie wohl beendet, und Tom begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken und den Häuserzeilen zuzusehen, die an den Fenstern vorbei wischten.

Wie lang die Fahrt genau dauerte, vermochte er nicht zu sagen, so aufgeregt, wie er war. Irgendwann tauchte jedoch das unverwechselbare Hauptquartier des Special Intelligence Service am Vauxhall Cross auf. Tom war von der majestätischen Erscheinung des riesigen Gebäudes beeindruckt, das Elemente einer antiken Zikkurat mit moderner Architektur in sich vereinte. Von Mitarbeitern wurde es daher auch ›Babylon an der Themse‹ oder scherzhaft ›Legoland‹ genannt.

Der Range Rover hielt vor dem Haupteingang. Hunter und Tom stiegen aus, während die anderen beiden Agenten weiterfuhren. Die Agentin führte Tom ins Gebäude, vorbei an Sicherheitskontrollen und einige Korridore entlang, bis sie zu einem Aufzug kamen. Tom erblickte viele Mitarbeiter in teuren Anzügen und kam sich selbst schon fast ein wenig wie James Bond vor. Das war alles so aufregend!

Er stieg mit Hunter in den Aufzug und versuchte, sich so viele Details einzuprägen wie möglich. Wer konnte schon sagen, ob er jemals wieder ins Hauptquartier des MI-6 käme.

Ein paar Augenblicke langten sie in einem der oberen Stockwerke an, gingen einen weiteren Korridor hinunter und betraten ein geräumiges Vorzimmer. Das ist ja wirklich so ähnlich wie im Kino, dachte er.

Sie wurden ins Büro des Direktors vorgelassen, wo Veyron bereits in einem der Besuchersessel lümmelte. Tom fand es fast ein wenig peinlich, dass sich sein Pate nicht einmal jetzt anständig hinsetzen wollte.

Hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters. »Ah ja, Mr. Packard. Setz dich, mein Junge. Danke, Hunter. Sie können gehen«, sagte er freundlich.

»Keine Ursache, C«, sagte die Agentin und verließ den Raum.

Also wurde der Direktor des MI-6 von seinen Mitarbeitern wirklich C genannt! Tom fand das sehr aufregend. Es verlieh den James-Bond-Filmen doch glatt Authentizität. C deutete auf einen der freien Sessel. Fast ehrfürchtig nahm Tom Platz.

Der Direktor langte über den Tisch und reichte Tom die Hand. »Willkommen beim SIS, Tom. Ich darf doch Tom sagen, oder?«, begrüßte er ihn. »Dein Onkel ist der loyalste Mensch, der mir je begegnet ist. Er weigerte sich partout, ein Wort zu sagen oder mich anzuhören, ehe du nicht dabei wärst.«

»Tom ist mein Assistent und hat mir schon in zahlreichen Fällen beigestanden. Sie können vor ihm absolut frei reden, anderenfalls hätte ich ihn sowieso in alles eingeweiht, was heute hier besprochen wird«, erläuterte Veyron, ohne C oder Tom dabei anzublicken. »Da wir nun vollzählig sind, können wir vielleicht beginnen, ohne noch mehr Zeit zu verschwenden. Ich hoffe nur, Sie können den Streit mit Ihrer Frau beilegen, sowie wir hier fertig sind. Besser wir beeilen uns, Ihre beiden Hunde warten sicher aufs Gassigehen.«

Der Direktor starrte Veyron für einen Moment verblüfft an, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern kam gleich zur Sache. »Mr. Swift, ich wende mich heute in einer dringenden Angelegenheit an Sie, die von nationalem Interesse ist. Sagt Ihnen die Zaltianna Trading Company etwas?«

Tom schaute zu seinem Patenonkel. Natürlich kannten sie die ZTC! Diese Firma war in eine üble Sache verwickelt gewesen, auf die sie im Lauf ihres letzten Abenteuers gestoßen waren.

»Ich bin nur entfernt damit vertraut«, log Veyron zu Toms Überraschung.

»Die ZTC ist die vielleicht größte Transport- und Logistikflotte unserer Zeit. Gegründet von einem gewissen Avron Zaltic, verschifft sie Waren im Milliardenwert. Die Auftraggeber der ZTC gehören zu den kriminellsten Personen und Organisationen auf der ganzen Welt. Waffenschmuggel, Sklavenhandel, es gibt kaum ein schmutziges Geschäft, in das die ZTC nicht verwickelt ist. Nur beweisen kann man es ihr nicht. Natürlich stehen solche Konzerne unter unserer Beobachtung. Wir haben zum Beispiel erfahren, dass die ZTC viele tausend Tonnen vorbehandelter Rohstoffe und Maschinenbauteile hat verschwinden lassen. Das kommt immer wieder vor, und niemand weiß so recht, wie sie das anstellen«, führte C aus.

Veyron zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Ähnliche Sachen sind mir auch zu Ohren gekommen. Ich verstehe jedoch nicht, wieso Sie meine Hilfe benötigen. Der MI-6 besitzt ganz kompetente Agenten; meistens jedenfalls«, meinte er.

Der Direktor hob ob dieser leisen Kritik nur kurz die Augenbrauen. »Wir benötigen Ihre Expertise als Fachmann für unnatürliche Angelegenheiten. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Sie der einzige Mann Englands sind, der für diese Art von Aufgabe infrage kommt. Unsere Agenten haben einige Nachrichten zwischen verschiedenen ZTC-Abteilungen abgefangen, in denen die Rede von Elderwelt ist, womit offensichtlich ein anderer Ort gemeint ist als unsere Erde. Es ging darin auch um einen bestimmten Gegenstand: das Horn des Triton.«

Veyron legte die Fingerspitzen aneinander, als er das hörte. Seine eisblauen Augen strahlen neu entfachte Neugier aus. »Fahren Sie bitte fort.«

»Soweit wir es entschlüsseln können, scheint die ZTC daran interessiert, jenes Horn des Triton zu finden und aus dieser Elderwelt in die Unsrige zu bringen.«

Veyron richtete sich kerzengerade auf, seine Blicke huschten hin und her. »Sie wissen natürlich, um was es sich bei dem Horn des Triton handelt?«, wollte er vom SIS-Direktor wissen.

Dieser zeigte ein schräges Lächeln. »Natürlich. Unsere Agenten haben alle erhältlichen Informationsquellen konsultiert. Es handelt sich dabei um das Gehäuse einer Meeresschnecke, das Tritonshorn«, sagte er und blickte kurz auf seine Schreibtischplatte und las von einem Zettel ab: »Charonia tritonis. Beheimatet in subtropischen und tropischen Gewässern. Die Art ernährt sich von Seesternen und Muscheln. Das Gehäuse des Tritonshorns wird gelegentlich als Trompete benutzt, ähnlich dem japanischen horagai. Auch von anderen Kulturen ist das bekannt. Australien bemüht sich schon länger, das Tritonshorn auf die Rote Liste zu bekommen, denn an manchen Riffen ist diese Riesenschnecke vom Aussterben bedroht.«

Tom seufzte enttäuscht. »Das klingt ja wirklich nach einer lohnenden Mission für den MI-6. Rettet die Schnecken! Was ist nun das Problem? Dass die ZTC illegale Tritonshörner schmuggelt?«, meinte er sarkastisch.

C schmunzelte über seine offensichtliche Ungeduld. »Nein, Tom. Ich war mit meinen Ausführungen noch nicht ganz fertig. Unsere weiteren Recherchen haben ergeben, dass der Name auf einer alten griechischen Sage beruht. Nach ihr soll der griechische Meeresgott Triton ein derartiges Schneckengehäuse als Signalhorn benutzt haben. Er konnte damit Stürme heraufbeschwören oder die See ruhig und friedlich halten. Unsere Agenten sind der Überzeugung, dass dies nicht einfach nur ein Mythos ist, sondern, dass es dieses Horn tatsächlich gibt. In Elderwelt. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass Sie, Mr. Swift, Elderwelt schon mindestens einmal besucht haben.«

Veyron sagte lange nichts. Es schien fast so, als wäre er zur Statue erstarrt. Schließlich stand er auf und schüttelte den Kopf. »Ich bedaure, ich muss ablehnen. Gehen wir einmal davon aus, dass das Horn des Triton tatsächlich existiert, so bezweifle ich doch massiv, dass die Menschheit schon so weit ist, mit dem Werkzeug einer Gottheit vernünftig zu hantieren«, sagte er, die Stimme tief und ernst.

»Was?«, entfuhr es Tom ungläubig. »Aber Veyron! Die ZTC ist hinter diesem Horn her!«

»Mag sein. Sie besitzt es jedoch nicht, ansonsten hätte sich die Zahl der Schiffsunglücke bereits dramatisch erhöht«, konterte Veyron. »Ich wiederhole es noch einmal: Ich lehne diesen Auftrag ab. Komm Tom, wir sind hier fertig.«

Der Direktor seufzte, erhob sich und öffnete ihnen die Tür. »Es ist sehr schade, dass Sie Ihrem Land keinen Dienst erweisen wollen«, meinte er.

Veyron stopfte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte auf den Ausgang zu. »Ich stehe nicht im Dienste Ihrer Majestät, Direktor. Des Weiteren bin ich davon überzeugt, dass England – und der ganzen Welt – besser damit gedient wäre, das Horn des Triton nicht aufzuspüren. Goodbye.«

C zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Gestatten Sie mir noch eine abschließende Frage?«

»Selbstverständlich.«

»Woher wissen Sie, dass der Haussegen bei mir und meiner Frau schief hängt? Das weiß niemand.«

Veyron deutete auf Cs Krawatte. »Der Knoten wurde miserabel gebunden. Hinzu kommen die Hundehaare an Ihrer Hose – von zwei verschiedenen Schäferhundrassen, eine Gelbbacke und ein Tiger, wenn ich mit nicht irre. Nicht zu vergessen die Falten Ihres Hemds. Sie haben wohl auf der Couch übernachtet, wenn ich mir die zerknitterten Stellen auf der rechten Seite und dem Rücken ansehe. Dass Sie in einem derart schlampigen Aufzug zur Arbeit fahren, ist ungewöhnlich für Sie. Auf sämtlichen Fotos in Ihrem Büro sind Anzug und Krawatte nämlich in tadellosem Zustand. Folglich legen Sie weitaus weniger Wert auf Ihr Äußeres als Ihre Frau. Auf den Familienfotos auf Ihrem Schreibtisch kann man sehen, wie stolz sie auf Sie ist. Ihre Frau ist also diejenige, die Ihre Krawatten bindet, die Hosen bürstet und dafür sorgt, dass Sie jeden Morgen frisch gebügelte Hemden tragen. Nur heute nicht. Warum? Ein Streit mit Ihrer Frau erschien mir da als Grund nur logisch.«

Tom war ebenso sprachlos wie der Direktor. Er konnte nicht sagen, ob der Chef der Spione wütend darüber war, innerhalb von Sekunden all seiner privaten Geheimnisse beraubt zu sein. Wenn ja, dann verbarg er es geschickt. Immerhin gelang ihm ein höfliches Lächeln.

»Hunter hatte schon recht: Sie wären unser Mann gewesen, Mr. Swift. Vielleicht überlegen Sie es sich noch anders? Hier ist die Karte von Agent Hunter; sie ist Ihre Ansprechpartnerin. Goodbye«, sagte C und reichte Veyron eine Visitenkarte.

Der gab sie sofort an Tom weiter. »Danke, kein Interesse«, meinte er kalt und trat ins Vorzimmer.

Tom folgte seinem Patenonkel zögernd. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Zwei Klienten an einem Tag, und beide Male hatte Veyron abgelehnt. War er denn total übergeschnappt?

Sie hatten das MI-6-Gebäude noch keine hundert Meter hinter sich gelassen, als Veyron in die Hände klatschte und kurz auflachte. »Volltreffer, mein lieber Tom! Ruf Mr. Darrow an und sag ihm Bescheid, dass ich seinen Fall annehme.«

Tom konnte nur verwirrt dreinschauen. »Ach? Jetzt also doch? Was hat Ihre Meinung geändert? Und warum helfen wir Danny Darrow, seine verschwundene Freundin zu finden, anstatt den MI-6 zu unterstützen? Der will immerhin verhindern, dass die ZTC das Horn des Triton in die Finger bekommt. Erinnern Sie sich noch, was wir über diesen Verein in Elderwelt herausgefunden haben? Das sind Gangster der übelsten Sorte.«

»Ich habe nichts vergessen, Tom. Und wir helfen Mr. Darrow nicht, seine Freundin zu finden, sondern das Horn des Triton.«

Tom riss die Augen auf. Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Ja, wie? Sie sagen Nein zu C, wollen aber das Horn trotzdem suchen? Ihnen geht’s schon noch gut, oder? Ich glaub, Sie reden wirres Zeug.«

»Ganz und gar nicht, mein lieber Tom. Es war die ganze Zeit meine Absicht, das Horn zu finden, nur nicht für den MI-6 oder sonst irgendeine Organisation dieser Erde. Die Menschheit ist nicht reif für solche Wunderwerkzeuge. Wir erweisen der Welt einen Dienst, indem wir dieses Horn finden und sicherstellen, dass es niemand anderes tut«, erklärte Veyron. Er marschierte mit so schnellen Schritten weiter, dass Tom Mühe hatte, mitzuhalten.

»Aber was hat Danny Darrow damit zu tun? Das versteh ich nicht«, sagte er fast schon verzweifelt. Mit den raketenschnellen Überlegungen seines Patenonkels konnte er nicht mithalten. Er brauchte Informationen – und wie üblich geizte Veyron damit.

Dieser lachte höhnisch auf. »Mr. Darrow? Nichts – aber seine vermisste Freundin. Ich war blind, Tom! Natürlich waren mir zu dem Zeitpunkt nicht alle Fakten bekannt, ansonsten wäre ich schon viel eher darauf gekommen. Du hattest recht, als du sagtest, dass das Buch über griechische Mythologie von Professor Daring etwas bedeuten müsse. Natürlich wusstest du nicht, was. Aber ich vermag es jetzt zu erkennen. Darrows verschwundene Freundin war eine Agentin des MI-6. Nur das erklärt ihr plötzliches Erscheinen und ihr ebenso geheimnisvolles, spurloses Verschwinden, als habe sie nie existiert. Miss Fiona Smith. Sie war zwar imstande, das Horn des Triton zu identifizieren, aber nicht, es zu finden. Der MI-6 weiß nicht, wie er seine Agenten nach Elderwelt schaffen soll, darum wollte man mich engagieren. Ruf Willkins an und bestell sie ins Harrisson’s Café. Sag ihr, sie soll das Formular für einen Hausdurchsuchungsbefehl mitbringen.«

Tom zückte sein Smartphone und begann die entsprechende Nummer zu suchen. Dann hielt er noch einmal inne. »Was haben Sie denn überhaupt vor?«

»Wir verüben heute Nacht einen kleinen Einbruch, Tom.«

Veyron Swift und der Schattenkönig

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