Читать книгу Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille - Tobie Schmack - Страница 7
CHICKEN OR BASTA
ОглавлениеZwei Wochen zuvor … in 10.000 Metern Höhe.
Die Sonne sticht sich mühsam durch den winzigen Schlitz am Fenster. Unter uns liegt ein flauschig weicher Wolkenteppich. Die Motoren brummen, das ohrenbetäubende Rauschen im Kabinenraum ist mittlerweile akzeptiert und ich widme mich dem Bord-Journal. Nein, ich will nichts kaufen. Obwohl ich mir den Swarovski besetzten Kerzenständer mit dem Logo der Airline drauf super auf meinem Kaminsims vorstellen könnte, wenn ich einen Kamin hätte oder zumindest die günstig anmutenden fünfhundertfünfundneunzig Euro, die das Schmuckstück auf Seite vier rechts unten kosten soll. Da, wo die Freiheit angeblich so grenzenlos ist, düsen wir Richtung Heimat und mit jeder zurückgelassenen Wolkenherde drückt sich die Gewissheit eines gnadenlos kühl grinsenden Kontoauszuges in mein Bewusstsein. Hinter uns liegen unvergessliche Tage unter karibischer Sonne. Und ich bin müde, einfach nur todmüde.
* * *
All inclusive, nichts als all inclusive. Die Piña Colada auf den Shorts, Sand in der Kauleiste und der Zoff vom Frühstück im Genick. »Das Paradies ist nur das Paradies, wenn man das Zuhause daheim lässt«, hat schon mein Opa Walther gewusst, und der war nur in Stalingrad. Alles war lange bis ins letzte Detail geplant. Vier Wochen Jahresurlaub, unzählige Überstunden für den perfekten Ausgleich zum kleinkarierten Kleinstadtmief. Der Dispo war mit dem Segen der Sparkassen-Filiale Nord bis zur Schmerzgrenze ausgequetscht. Alles nur dafür, mit Delia allein zu sein. Ganz allein! Zu allein! Der Höhepunkt des Frühstücks, gleich am ersten Tag nach der Ankunft, war die Reklamation ihres Rühreis, das schlichtweg nicht deutsch genug schmeckte. Der Bacon war zu fettig, der Kaffee zu schwach und der einheimische Kellner offenkundig zu hässlich, um Trinkgeld zu ernten. Kein Wunder, dass sich die Tische um uns herum schnell leerten und auch trotz intensiver Aufbauarbeit meinerseits nicht wieder zufriedenstellend füllten. Schlechtes Karma! Sicher, der Hinflug war lang und die Hütte bei der Ankunft unter Wasser. Karibisches Wetter macht nun mal nicht vor den Behausungen deutscher Touristen Halt. Wetter kennt keine nationalen Macken. Die Luft in der Bude stand und der Schweiß lag triumphierend auf unserer Haut. Eigentlich hätten die Moskitos darin ertrinken müssen. An Schlaf war für mich ohnehin nicht zu denken – bei Delias Geschnarche, über das sie jede weitere Diskussion verbot. Aber auch so lag die ganze Zeit ein komisches Gefühl in mir hellwach. So nah beieinander unsere clubeigenen Strandliegen in den kommenden Tagen auch stehen würden, es lagen Welten zwischen uns, und kein Ufer würde sich aufmachen, eine allen Gewalten trotzende Brücke über das sich bewegende Meer an Lustlosigkeit zu legen.
Die Sonne brennt, die Wellen mühen sich, die Stille zwischen uns zu brechen. »Sonnencreme!« Zärtlich streichle ich Delias Nacken und fahre mit den Fingerspitzen um den rosinengroßen Leberfleck unter ihrer Schulter. Wunderschön!
»Wenn du weiter so langsam machst, hab ich Sonnenbrand am Po.« Schön! Das ist also der Hintern, den ich den Rest meines Lebens einschmieren werde. Ich Arsch! Langsam werde ich müde, lasse mich zur Seite sacken und strecke mich auf meiner Liege aus. Von schwermütigen Palmen umgeben blicke ich auf den traumhaft hellblauen Ozean. Jetskis peitschen gleich einem Höllenritt übers Wasser, eine monströse Banane schleppt Urlauber über den Wellenacker, um sie wenig später ins aufgebrachte Nass zu entsorgen.
Zwischen uns steht noch immer dieses ungebuchte, trostlose Schweigen, unterbrochen von vorbeiziehenden Einheimischen. Kaufen beschäftigt. Stimmt. Was ich mit der sogenannten Holzkunst, die sich mit jeder glattgehobelten Faser eindrucksvoll männlich gibt, jemals anfangen soll, falls das bei diesem Ausmaß an Eindeutigkeit überhaupt durch den Zoll fährt, ist für den Augenblick nebensächlich. Die Perlenkette – für etwas gebilligten Urlaubssex? Eher pimpert die Sonne den Mond, als dass ich mich vielleicht doch noch in Delias weichbraunen Schenkeln finde. Wenn ich nur daran denke …
Eine Mischung aus Medikamenten, Altherrenschweiß und Bier zieht an uns vorbei. Die Duftfahne verschwindet wenig später im sauber abgesteckten Nachbarstrand unter mecklenburgischer Flagge. Delia wagt noch immer keinen Mucks. Nichts! Nicht mal ein zaghaftes Aufbegehren gegen diese gleißende Mörderhitze. Wenn es mit uns so weitergeht, liege ich in dreißig Jahren emotional ausgedörrt dort drüben und feiere mich selbst. Wie peinlich es sein kann, ein Deutscher zu sein, wird mir immer im Ausland deutlich.
Delia stöhnt nun doch unerwartet, jedoch nicht ungeahnt klagend, auf.
»Können wir langsam zum Club zurück? Heute ist italienischer Abend.«
Natürlich! Deswegen bin ich auch vierzehn Stunden geflogen! Um in der Karibik Nudeln zu fressen.
»Was ist jetzt? Können wir?«
Mehr ist an Gesprächsentwicklung einfach nicht drin. Wir haben im Schutz der bewachten Clubanlage vermutlich die gesamte Welt kulinarisch abgegrast, stundenlang anderen Leute beim Urlauben zugesehen und uns vorgemacht, dass unsere Freunde uns ganz sicher darum beneiden würden. Um da auf Nummer sicher zu gehen, hatte Delia ganz feste Arbeitszeiten zur Pflege ihrer virtuellen Personality. »Alles total supi hier. Wohooo!« Und ich spiele täglich neu mit. Delia fand das alles total crazy und postete jede noch so nebensächliche Info gleich in ihrem heißgeliebten Profil. »Das Meer hier ist voll salzig! Äh!« oder »Mädels, das ist Roberto, mein privater Zimmerservice, wenn ihr versteht, was ich meine, hä! ;-)«. Dabei grinste sie gierig mit der tänzelnden Zungenspitze an der Oberlippe in sich hinein und vergoss eine Freudenträne der aufkeimenden Geilheit. Vielleicht hatte sie einfach auch nur Sand im Auge. Möglich, ja bestimmt. Ich wünschte, ich hätte ihr den ins Gesicht geworfen. Nach einer Stunde hatte sie für diese Statusmeldung zweiundvierzig »Gefälltmir« eingesammelt. Verdammte Hacke!
Wo zum Henker ist der »Find-ich-zum-Kotzen«-Button, wenn man ihn braucht?
* * *
»Chicken or Pasta?«
Aus der Traum! Das Airline-Versorgungskommando bahnt sich den Weg durch den prall gestopften Touristenbomber und zerrt mich aus meiner Rückblende. Mit zittriger Stimme sagt die ältere Frau sechs Reihen vor mir artig »Danke« und nimmt die dampfende Aluschale entgegen. Meine Augen sind vom Schlaf verklebt. Im Nacken spüre ich die aufgebaute Urlaubsanspannung und, als ob das noch nicht genug wäre, wummert der kleine Kerl hinter mir seit dem Start mit heftigen Tritten an meine Rückenlehne. Wieso hab ich dem geholfen mit seinem Spielzeugkoffer? Sogar die Stifte hab ich mit eingesammelt, es kann ja mal was runterfallen. RUMMS! Massagestühle gehen definitiv anders. Sag mal, wieso macht denn seine Mutter nix? Na ja, irgendwann muss der doch mal einschlafen. RUMMS! Mit ein wenig Glück gibt es beim zollfreien Einkauf eine Familienpackung Koma-Pillen, die ich ihm schon irgendwie in die Diät-Cola rühre. RUMMS! Noch einmal …! Noch einmal und ich dreh der ADHS-Kröte … Als ich meinen Kopf ein wenig in den Gang halte, um kurz zu prüfen, ob ich ihn in einem Überraschungsangriff in den Würgegriff bekomme, sehe ich zwei elfenhafte, in glänzende Strumpfhosen verpackte, unendlich lang scheinende Beine, die nach oben in einen absolut faltenfreien und rund gewölbten Rock münden.
»Henry, reiß dich zusammen«, weise ich mich zurecht, spüre aber, dass mein Schlüpper-Insasse aus dem Urlaubskoma erwacht und diese Ansage gekonnt ignoriert. Toll, jetzt mischt der auch noch mit.
Ich brauch unbedingt wieder Sex, aber die Bordtoilette ist dafür alles andere als geeignet. Und allein? Das ist doch jetzt wirklich armselig! Gut, das sagen auch nur die, die es kategorisch ausschließen. Ich meine, mir ist mittlerweile vollkommen egal, wie es passiert, aber Karibikurlaub mit Freundin gänzlich ohne Höhepunkt! Nö! Die Fütterung schreitet voran und so sind es nur noch Minuten, bis ich endlich was Erfreuliches vor mir haben werde. »Essen ist der Sex im Alter«, meinte Oma immer. Es gibt also noch Hoffnung für mich, für Delia, für uns. Ich streiche ihr sanft über die zum Zopf gezwungene Lockenmähne. Ungeschminkt wirkt sie so wahnsinnig sexy. Wie Delia so links neben mir gekrümmt in ihrem Sitz hängt, sieht das schon sehr ungemütlich aus. Aber die Option, sich langzumachen, ihre ein Meter neunundsiebzig auszustrecken und sich bei dem Kerl am Fenster anzulehnen, dessen Schweißgeruch vielleicht durch das Assiettenfutter endlich übertüncht würde, ist einfach keine. Wenn ich es schon nicht bin, der Delia hier lustvoll berühren darf, ja einfach mal urlaubsgerecht über sie herfallen kann, soll ein anderer nicht so billig an sie, an ihre umwerfend zarte Haut herankommen, bloß weil er zufällig den dafür besten Sitz gebucht hat.
»Toll, so komm ich bestimmt nicht runter«, nehm ich mich eindringlich ins Gebet und schaue, ob die Toilettenleuchte gerade gnädigerweise »frei« anzeigt. Ein deutliches Rot beantwortet meine Frage. Und meine Blase tanzt Samba. Nein, ich bin mir nicht sicher, wer gewinnt. Wenn die sich nur endlich mal auskacken, Mann!
Das Schöne am Fliegen ist die übersichtliche Speisekarte in der Economy Class, mündlich jederzeit vorbildlich und in sauberstem Englisch vorgetragen von Kelly. Keine Ahnung, ob die Frau in Uniform, die mich irgendwie allmählich anmacht, in Wirklichkeit so heißt, aber in meiner Pornophantasie ist es … schlüssig. Außerdem gefällt es mir besser, mein liebevoll in der Großküche zusammengekochtes, steril verpacktes und geschmacksneutrales Menü von jemandem mit einem Namen serviert zu bekommen. In der Enge des Fliegers kommt mir Anonymität scheinheilig vor. Hier ist niemand vor anderen oder vor sich selbst geschützt. So wusste ich bereits Minuten nach dem Abheben von der Startbahn, dass der Mensch vor mir leidenschaftlich gern Rezensionen bei Amazon verfasst, einen silbergrauen Skoda Octavia fährt – natürlich mit Automatik –, jedes Jahr Tausende von Wanderlurchen vor dem Landstraßentod rettet und auf den Namen Dietmar Heribert Thomas Heinrich hört. Letzteren Namen habe er von seinem vor Kurzem verstorbenen Großvater, der unter den Nazis ein ganz hohes Tier gewesen sei, was man ja heutzutage ruhig wieder sagen könne. Das sei ja schließlich alles Schnee von gestern. Der HSV habe bei ihm nie eine Chance und Fliegen müsse er aus Grundüberzeugung ablehnen, könne es aber mangels Alternative nicht. Natürlich müsse er auch beruflich jetten und kenne alle Flughafentoiletten aus dem Effeff. Danke für diesen ungefragt ausgekippten Infobeutel, der Herr! Ich wage nicht zu ahnen, welches Basiswissen für dieses Datensammlungshighlight weichen durfte. Hoffentlich nicht meine Grundfunktionen. Wer bitte macht den Macker mit Pissbecken-Stories vom JFK? Apropos Toilette! Das ist mein Stichwort. Hey, die Lampe zeigt Grün. Nichts wie los. Vorsichtig ziehe ich meinen dem Dämmerschlaf verfallenen Arm unter Delias Rücken hervor und löse meinen Gurt. Es klickt, ganz leise, im Grunde völlig überhörbar.
»Och, kannst du mich nicht mal eine Minute schlafen lassen. Und hör endlich auf mit dem Gefummel«, murmelt sie mich mürrisch an.
»Hä? Wer fummelt denn?«
Blitzschnell schaue ich zum Fenstersitzer herüber. Nee, der schläft und hat seine Finger eindeutig auf seinem Schritt. Und was er vielleicht gerade träumt, möchte ich nun wirklich nicht wissen in Anbetracht der Wölbung seiner Cordhose unter seinen Händen. Wieder wandert mein verwunderter Blick zu Delia. Selbst im Traumland kann ich es ihr nicht recht machen. Klasse! Da ich aber momentan keinen Selbstversuch der Eigenurinbehandlung im Sinn habe und ich nicht will, dass meine Blase auf dem Sitz Vollzug meldet, ignoriere ich das Schlafgebrabbel und verziehe mich in Richtung Örtchen. Frei!
Als ich sichtlich erleichtert wieder auf meine Sitzreihe zulaufe, entdecke ich den Servierwagen, der genau in diesem Moment bei Delia angekommen ist. Von den deutlich erkennbaren Schmollmundlippen kann ich die Worte lesen, für die ich gerade eben in meinem Verdauungstrakt Platz gemacht hatte. Chicken or Pasta? Was für eine Frage. Chicken! Alles, nur nicht schon wieder Nudeln! Voller Vorfreude sammelt sich in meinem Mund das Wasser. Und als wäre ich Nachbars Waldi, der sehnsüchtig den ganzen Tag auf Herrchen gewartet hat, nehme ich die Beine in die Hand, presche wie ein jamaikanischer Sprinter-Blitz durch den Zieleinlauf und werfe breit lächelnd »Zweimal Chicken, bitte!« in den Bestellungsring. Go for Gold and Hühnchen für Henry! Während ich mich gemütlich auf den Sitz bette und mich schon dabei sehe, wie ich die zartrosafarbenen Filets vorsichtig aus dem grell schimmernden Alupapier befreie, holt mich Delia in einen offen auszutragenden Zweikampf zurück.
»Ich kann auch allein entscheiden, Henry.«
Na klar, kann sie, ohne Frage.
»Aber ich dachte, Schatz …«, versuche ich sie für mich einzunehmen, was ihr überhaupt nicht gefällt.
»Dein Denken kannste dir schenken! Henry, es ist echt gut, halt einfach die Klappe, ja. Ich will Pasta! Basta! Und das mit dem ›Schatz‹. Also, das … also …«
Mit überaus zwangsfreundlicher Stimme wendet sich Delia der Essenfrau zu und ordert, für alle im Flieger zu vernehmen, was sie wünscht. Danach wird’s still und die gefühlten Temperaturen begeben sich merklich unter null. Zum Hauptgericht serviert mir meine nissige Hälfte als Nachtisch mürrisches Schweigen garniert mit peinlicher Stille. Die klösterliche Ruhe triumphiert, bis der Wagen mit den Getränken vor uns anhält. An der Lenkstange ruhen zwei perfekt gepflegte Hände, an deren feinen Enden zartblau verzierte Fingernägel liegen. Unter der makellosen Haut des Handmodels sind in vornehmer Blässe kaum Adern zu erkennen. Wenn das nur die Hände sind, was wird mich erwarten, wenn ich ihr direkt ins Gesicht schaue. Die grazile Halsführung, die wohlgeformten Ohrläppchen, das wohlumrundete Kinn. Ihre leuchtend blauen Augen haben einen leichten Grünstich. Ja, ich bin verdammt bereit für einen heißen Tagtraum, aber neben mir hockt Delia. Liebe auf den ersten Blick ist ein dummes Klischee. Absolute Überwältigung bei einem solchen Anblick von vollkommener, zerbrechlicher Weiblichkeit – ein Hochgenuss. Ich würde alles von ihr nehmen. Für den Moment reicht mir ein Tomatensaft. Als ich nach der winzigen Saftdose greife, berühren ihre langen, feinen Fingerspitzen meine völlig zerknaupelten Stümpfe.
Völlig desinteressiert an dem Geschehen rund um den Servierwagen reißt meine Freundin die Fensterblende hoch und hält den Saft im Plastikbecher kritisch ins Licht. »Ist der eigentlich Bio?«
Der von mir entdeckte Stewardessenengel antwortet in korrektestem Servicesprech. »Selbstverständlich! All unsere Säfte sind natürlich biologisch einwandfrei.«
»Aha, und aus welchem Land?«, fragt Delia intensiver nach.
Der Serviceengel kommt etwas ins Straucheln und lässt sichtbar die Flügel hängen.
»Also, das wird sicher auf der Dose …«, gibt sie mit sanfter Stimme zu verstehen, was Delia umgehend hämisch grinsend quittiert.
Doch nun ist Schluss mit lustig. Der Engel setzt Hörner auf.
»Würden Sie jetzt bitte die Blende wieder senken. Der Mann neben Ihnen möchte sicher noch schlafen. Danke!«
Damit hat Delia nicht gerechnet, was jedoch nicht heißt, dass sie sich das vom Dienstpersonal bieten lässt. »Der Herr hat ja wohl die gleiche Kohle für den Platz hingelegt wie ich«, schießt sie forsch und stutenbissig zurück.
Um mal ganz korrekt zu bleiben, eigentlich war ich es, der uns den ganzen Urlaub als bestmögliches Bett für den perfekten Antrag geschenkt hatte, aber Delia denkt in diesem Moment schon wieder separat und haut der Stewardess auf die Hand, als diese versucht, die Sicht wieder abzudunkeln. »Hey, du Tussi! Ich werd ja wohl den Saft prüfen dürfen, bevor ich den trinke. Ich hab schon ganz andere Dinger im meinem Mund gehabt, und da hieß es auch ›völlig unbedenklich‹.«
Moment, ging das grad gegen mich? Die Dame im blauen Kostüm beschließt – sagen wir schlicht »angepisst« – den Zug weiterrollen zu lassen und die Reihen hinter uns zu bestücken. Dort würde man den Service sicherlich zu schätzen wissen. Auch von hinten sieht sie verdammt attraktiv aus, aber gegen ihre blühend leuchtenden Augen ist das kein echter Ersatz.
Mein Sitz liegt wieder im Dunkeln und merklich zieht die Gefühlskälte von links weiter an. Ich bin mir sicher, es hätte nicht viel gefehlt und Delia hätte den Manager verlangt, der tollkühn in einem Privatjet herangedüst käme und im Auftrag ewiger Kundenglückseligkeit in einem halsbrecherischen Manöver über die Dachluke in die 747 eingedrungen wäre. Was für eine Dramatik. Ford, Harrison Ford, dem würde ich das abkaufen. Leider würde ich nicht so überzeugend wirken, hätte ich mich in die Schusslinie zwischen die beiden geworfen.
Delia interessiert sowieso bei jeder Reise nur, wie sie schnellstmöglich wieder aus dem Flieger kommen würde. Es ist einfach nicht ihr Ding. Gewöhnlich betäubt sie ihre Angst vor dem möglichen Absturz in Verbindung mit einer satten Portion Klaustrophobie mit einer Mixtur aus Brandy, Kaffee und wieder Brandy. Dummerweise habe ich gerade ganz schlechte Karten, mit diesem Sonderwunsch von meiner Lieblings-Stewardess erhört zu werden. So bleibt mir bis zur nächsten Fütterung nur das Backgroundgeräusch aus klimpernden Dosen und knackenden Plastikbechern. Jedoch fühle ich weiterhin ihre Nähe. Die noch immer sichtlich erregte Diva namens Delia, die spürbar bemüht ist, bloß keinen übermäßigen Körperkontakt zu mir herzustellen, meckert engagiert weiter. Wenn sie es könnte, sie würde kleine Feuerpfeile spucken. Irgendwie muss ich jetzt wohl einfach da durch und ihrer Laune ein Podium schenken. Natürlich behaupte ich, dass der Tomatensaft widerlich geschmeckt hat und die Saftschubse definitiv rausgeschmissen gehört, am besten jetzt gleich direkt durch den Notausstieg. Dass wir dann gleich alle mit abkacken würden, lasse ich lieber unerwähnt. Argumente dieser beschwichtigenden Art bringen uns leider nicht weiter. Was auch immer ich sage, ich kriege keine Ruhe rein. Glücklicherweise sind die anderen Passagiere in unserem Dunstkreis mit Futtern und Filmschauen beschäftigt. Das Bordrauschen macht auch für mich Delias Genuschel in einem Mindestmaß erträglich, bis sie es sich anders überlegt und mal wieder instruiert, mich natürlich.
»Aspirin!«
Delia benimmt sich, als wäre ich ihr wohldefiniert degradierter Handlanger zur tumben Befriedigung ihrer Gelüste. Da ich jetzt keinen Bock habe, den vorhin so gut verstauten Rucksack aus der Gepäckablage rechts oben zu zerren, tue ich so, als hätte ich sie nicht verstanden.
»Henry! Jetzt tu nicht so, als hättest du mich nicht verstanden. Die Nummer kauf ich dir nicht ab.«
Ja, richtig, ich könnte ganz sicher auf hundert Meter Entfernung in einem Wald ein sich entleerendes Eichhörnchen mit Magen-Darm-Infekt ausmachen. Ja, ich höre einfach alles. Verdammt! Warum muss ich auch immer damit prahlen.
»Ja, Delia, welchen Stern darf ich dir denn nun vom Himmelszelt pflücken?«, wechsele ich mein Verhaltensmuster, das mir momentan nicht stehen will, und lächele sie gequält an.
»Ich krieg grad Kopfschmerzen von der ganzen Nummer hier. Also, komm schon, die Aspirin sind im vordersten Reißverschlussfach.«
Ich schnaufe im Aufrappeln kurz durch, was auch nicht unkommentiert bleibt, und klappe die Abdeckung der Ablage langsam hoch. Da liegt er, mein aschgrauer Wildlife-Rucksack. Ich hatte ihn irgendwann mal von Delia zum Geburtstag bekommen, nein, zum ersten Jahrestag, der sollte ewig halten, eben was fürs Surviven. Zwischen den davor hineingestopften Bambushüten und einem tonnenförmigen Musikinstrument mit sowas wie einem Eingeborenenmuster lugt der Trageriemen hervor. Während ich mit der einen Hand das Musikungetüm zu fixieren suche, ziehe ich bestimmt an dem Riemen, doch da bewegt sich nichts. Als ich kurz über meine Schulter sehe, merke ich, dass die nächste Stewardess mit dem Müllwägelchen anrückt. Hinter mir spüre ich Delias So-wird-das-schon-mal-gar-nichts-Vorwürfe, die nun an meinen Nacken klatschen und mir langsam den Rücken hinunterfließen. So sehr ich auch ziehe, da löst sich nichts. Ein wenig schieben, nach links drücken, dann leicht drehen und seitlich zurückpressen. Den Kopf zwischen meinen langsam schwerer werdenden Oberarmen eingepfercht tänzele ich auf meinen Zehenspitzen. Meine Finger zittern sich über das fremde Gepäck hinweg bis ganz nach hinten. Im Ungewissen fingern … das hatte ich mir für den Urlaub ganz anders vorgestellt. »Klappe, du blöde Geilheit! Jetzt brauchst du auch nicht mehr anzuklingeln.« Mit den Kuppen angele ich mir den still ruhenden Rucksack. Scheu, aber fühlbar huscht mir etwas Befriedigung aus der Brust. Leider merke ich nicht, dass sich der übrige Trageriemen im Restgepäck in einer kleinen Gehäuseschraube verfangen hat. Ich krieg allmählich auch Kopfwummern und habe nun ein ganz eigenes Interesse, an die Pillen zu kommen. Jetzt reicht’s, denke ich und kralle mich im Gepäck fest. Der Müllwagen rollt langsam, aber unaufhaltsam in meine Richtung. Nun komm schon, du Mistding! Delia gibt auf Platz 19 b schon die Schlussvorstellung der Kameliendame, als ich mich mit meiner ganzen Schwungmasse reinhänge und unbeholfen wie fünfundneunzig Kilo Mischhack laienhaft die Abrissbirne im Impro-Theater mime.
»DAS – MUSS – DOCH – HIER – RAUS – GEH’N!«
Sechsmal kräftig geruckt und mein Gesicht macht einen auf knallig lackierte Tomate, während sich der Rest meines Ichs auf »bedauernswerte Gurke« transformiert. Und nun? Irgendwas hat gerade geknackt. Nee, oder? Bitte nicht die Bandscheibe! Ein kurzes Rückspüren versichert mir, dass da alles in Ordnung ist, was mich motiviert, meine verinnerlichte Mission fortzusetzen.
»Na bitte!«, ploppt es erleichtert aus mir heraus.
Leider bleibt mir lediglich ein klitzekleiner Moment der Glückseligkeit, denn nun ist die Ladung in Bewegung und kommt wie eine Lawine eiskalt über mich. Okay, Zeit für das – von Zugreisenden so hochgeschätzte – sich leicht verspätende Frühwarnsystem, das leider für den Höchstgefährdeten ungehört bleibt.
»Kacke, der Typ unter mir pennt!«
Mit einem imposanten Ausfallschritt, der mir die Hosennaht entjungfert, bemühe ich mich um Stabilität, die sich in diesen Tagen nicht nur die Anleger diverser Börsenunternehmen so sehnlich wünschen. Wie auch bei denen ist hier nichts mehr kalkulierbar, aber ich nehme gern noch Wetten an. Und so kann ich nur zuschauen, wie die Lasche reißt und mir einer der Hüte mit den feinen Blätterfasern ins offene Auge fährt und mir jegliche Sicht nimmt. Der andere sticht mir unter der Last des Instruments in den Unterarm, weshalb ich diesen wegziehe und damit dem gesamten Packen freie Fahrt nach unten gebe. Während Hüte, Trommel und eine plötzlich zum Vorschein kommende Kameratasche auf den Boden prallen, springt mich nun mein Rucksack an, den ich, als ich auf den Müllwagen knalle, am Riemen zu greifen versuche. Dummerweise drückt sich die bisher als unproblematisch betrachtete Fechtermuschel mit fröhlichen drei Kilo Kampfgewicht durch den Reißverschluss und landet unsanft auf der Glatze von 19 d. Guten Morgen! Der ist nun wach, aber sowas von. Blutüberströmt schreit der nun alles zusammen. Ich wäre ihm echt dankbar, wenn er sich eine Minute genommen hätte, die Situation mal nüchtern zu analysieren. Hat er aber nicht, obgleich er so schlaftrunken nun wirklich nicht objektiv sein kann. Ob es klug von ihm ist, die Worte »Blut«, »Attacke« und Hilfe« jetzt so direkt, unmissverständlich bis tief in das Champagnersprudeln der ersten Klasse hinein fühlbar, in den Raum zu drücken, darüber lässt sich vortrefflich streiten, was auch dessen Frau meint, die sich nun wild gestikulierend in unseren Disput einklinkt. Macht die gerade Gebärdensprache? Okay, er hat ein Loch im Kopf und sie beschimpft mich mit gefingerten Untertiteln. Mein vermittelndes »Das bisschen Blut …« beruhigt sie keineswegs. Gut, was soll sie auch antworten. Überdeutlich verlangt sie nach Hilfe und winkt mit theatralischer Geste das Flugpersonal heran. Kurz darauf baut sich hinter mir ein Sixpack aus blauen Kostümchen und straff gelegten Stoffhalsbändchen auf, deren Chef-Schlumpfine ich über die sprachlose Gattin der Platzwunde aufkläre und zeitsparend mit »Stewardess« anquatsche. Sie wiederum nutzt die Gelegenheit, ihren Beruf ins rechte Licht zu rücken.
»Also, erstens heißt das Flugbegleiterin, Sie Machoschwein. Und zweitens sagen Sie mir kurz, wie Sie heißen?«, rattert sie bestimmt, aber noch im Grundsatz freundlich Seite eins des Störfallprotokolls herunter.
Guck mal an, das Kostüm kann deutsch! Dumm nur, dass in dieser Situation mein selbst diagnostizierter Sexmangel in einer launisch-riskanten Diskussionsfreudigkeit mündet. Immerhin habe auch ich meine klaffenden Wunden soeben um Haaresbreite überlebt.
»Ja, dürfen Sie, aber ich denke, die Blutung wird dadurch nicht ins Stocken geraten. Falls Sie also gerade nichts anderes vorhaben, könnten Sie einen Arzt ranholen. Oder kleben Sie das hier gewöhnlich mit Mutti-Spucke, Miss Poppins?«
In welchem Seminar sie gelernt hat, dass Konfliktmanagement am besten mit einer saftigen Beleidigung gereicht wird, werde ich sicher nie erfahren. Dafür aber, wie lange sie schon bei der Airline ist. Ja, es lässt sich deutlich an ihren feurig schimmernden Pupillen erkennen, dass sich da einiges angestaut hat. Was das jetzt mit der von mir verursachten Muschelattacke und dem scheinbar nun verblutenden Mittfünfziger zu tun hat, bleibt mir vorerst schleierhaft. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf das jaulende Anschlagsopfer. »Tschuldigung, der Mann bricht uns hier gleich weg. Der schaut doch schon aus wie Sichtbeton. Der hat hier schon alles eingesaut. Selbst in Reihe fünfzehn sind Spritzer.«
Nur um sicherzugehen, beuge ich mich zu ihm hinunter.
»Aids haben Sie nicht, oder?«
Nein, hat er nicht, aber museumsreifen Karies und Mundgeruch im fortgeschrittenen Stadium sowie nicht zu leugnenden steigenden Blutdruck. Wenn Blicke töten könnten! Da die Stewardess nun wieder ansetzt, mir bunt bebildert ihren Lebenslauf zu schildern und mit propagandaartig wiederholtem »Wir werden hier alle maßlos unterschätzt« aufzuspritzen, schreite ich selbst zur Tat und frage Reihe für Reihe nach, ob sich in die Maschine vielleicht auch ein Arzt verirrt hat. Es soll ja auch Mediziner geben, die in die Dom-Rep fliegen. Und bei über zweihundert Passagieren ist die Chance statistisch nicht gering. Irgendwie will keiner so recht bei der Rettung des Verletzten mitmachen, denn das Fress-Beschäftigungsprogramm läuft auf vollen Touren und bindet alle Kapazitäten der mampfenden Bordinsassen. Egal ob Pasta oder Hühnchen, kalt schmeckt’s auch nicht besser. Möglicherweise sind ein paar Leute tendenziell etwas angeekelt von meinem blutgetränkten Ärmel.
Ganz vorn meldet sich doch noch jemand. Endlich! Hätte mich auch sehr gewundert, wenn … Nachdem ich mich durchgekämpft habe, entpuppt sich die bisher gehobene Hand als Körperteil eines Sonnenbrandjunkies. Hört, hört! Man sei Physiotherapeut, erfahre ich und ich versuche klarzumachen, wen ich dringend suche. Zeit, etwas zu klären.
»Hey, ich sagte ›Arzt‹. Der Mann hat keine Verspannung, der hat ’ne Eins-a-Platzwunde und kleckert meine Freundin voll. Das sieht echt nicht schön aus. Also, meine Freundin schon, aber der Rest nicht. Was also soll ich mit ’nem Massage-Fuzzi?«
Neben den Blutfleck am Ärmel gesellt sich nun etwas Pastabelag, als der Herr sich der Überbleibsel seines Nudelgerichts an meinem stressgebügelten Hemd entledigt. Ich folge dem freundlich vorgebrachten Vorschlag und sehe zu, dass ich Land gewinne. Zurück am Platz finde ich mich als Zuschauer wieder, weil bereits ein echter Arzt an der Wunde herumdoktert und sich dabei mit merkwürdig intensivem Einsatz mit Delia unterhält, deren bestialische Kopfschmerzen wie von Wunderhand schlagartig verflogen sein müssen. Schön, wenn man vermisst wird. Da war ich mal kurz auf dem Schlachtfeld der Ehre unterwegs, um ein Leben zu retten, und die Zurückgelassene vergnügt sich mit dem Sanitäter. Zu meinem Pech muss ich zugeben, dass der Typ echt sympathisch wirkt und sein Verband beeindruckend professionell daherkommt. Um sowas wie ein Gespräch zu entwickeln, frage ich ihn, ob ich helfen kann.
»Nein danke! Ich hab alles im Blick«, ertönt es mit basslastiger Stimme.
Ja, das merke ich. Und dass man beim Verbinden einer aufgerissenen Glatze gierig in den Ausschnitt der nächstbesten Unfallzeugin stiert, das nennt mal wohl qualitätsgesichert, wie? Das gefällt mir alles nicht. Ich stehe dumm im Gang herum, die Stewardess organisiert den nächsten Streik, der Doc baggert Delia an und die Drohungen der Blutglatze, dass das alle noch ziemlich teuer für mich werden wird, sind für meine wachsende Eifersucht nicht gerade hilfreich. »Nein, ich habe auch keinen Anwalt, und schon gar keinen Billig-Rechtsschutz-Fallschirm, aber danke für den Tipp!«, kontere ich leicht genervt.
»Könnten Sie bitte mal hier kurz Ihren Ringfinger aufdrücken.«
Delia kommt der Bitte gern nach und gibt freie Sicht auf ihren Beziehungsstatus. Nein, ich habe in den letzten Tagen keinen perfekten Moment gefunden, ihr meinen so lang geplanten und völlig makellos einstudierten Antrag zu machen. Wir waren ja immer viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Sonderwünschen nachzukommen. Mal war der Drink zu schwach, mal das Poolwasser zu kalt. Ich kann ihn immer noch vor mir sehen, Pedros Gesichtsausdruck, als ich ihn bat, die Poolheizung hochzuschrauben. Die Mit-mir-nicht-Verlobte presst ihren Finger auf das Ende des Verbands.
»Mach ich das richtig so, Conrad?«, haucht Delia zum Doc, der überaus charmant auf ihre Blicke reagiert.
Ach, man ist bereits beim Vornamen und er sicher schon beim Sprung in ihren Vorbau, der wohl noch immer mir zusteht. Hallo!
»Ich wünschte, ich würde das immer so sanft erleben. Wissen Sie, Heilung beginnt mit Mitgefühl«, säuselt der Medizinmann in seinem Armani-Sweater zurück.
Hätte ich mein Hühnchen schon gegessen, es würde mir unerbittlich wieder hochschnellen. Was auch immer das hier vor meinen Augen ist, diese Soap muss ich umtexten. Zeit für einen eiskalten Stimmungsbruch.
»Und wo fliegen Sie hin?«, plauzt es überfallartig aus mir heraus.
»Zum Flughafen«, schallt es nüchtern zurück.
Das Lachen in Reihe neunzehn schwappt gleichmäßig bis zu den Lauschenden in zwölf und vierundzwanzig hinüber. Haha, ein echter Komiker! Heute halten sich wohl alle Weißkittel für Spaßgranaten. Gut, was frage ich auch so blöd. Um jede Fortführung einer gepflegten Verlegenheitskonversation meinerseits abzukürzen, legt der Herr generös Verbal-Holz nach.
»Passen Sie auf, wir landen alle in Frankfurt. So viel haben wir gerade noch gemeinsam. Danach geht’s nach Schönefeld. Mit ein bisschen Glück fährt die Bahn pünktlich. Wenn alles gut läuft, bin ich noch heute in meiner allein bewohnten Doppelhaushälfte.«
Bei »allein« meine ich ein leichtes Aufleuchten in Delias Gesicht zu sehen, während die Umsitzenden im engeren Kreis eifrig zischend ihre geschüttelten Mitleidsdosen aufreißen.
»Ooooohhh!«
Als er dann noch erwähnt, gerade mal zwanzig Autominuten von mir entfernt in unserem Kochstedt zu leben, dreht mein Kopfkino richtig auf. Das macht es für mich definitiv nicht besser. Was geht hier ab, Leute! Womöglich würde meine Herzdame gleich noch den Pik-König hier in unseren Shuttle einladen. Mann, das wird ja ’ne lustige Heimfahrt über die A 9. Ich mach doch hier nicht den Pflaume! So muss sich ein Winterreifen fühlen, wenn der Frühling naht. Huhu! Hier steht noch einer. Und der heißt Henry. Und der wird hier nicht treuhänderisch abgewickelt. Und schon gar nicht von diesem Schmalspur-Landarzt. Doppelhaushälfte!
»Für ein ganzes Haus hat die Praxisgebühr wohl nicht gereicht, hä!«, schießt es aus mir heraus.
Stille. Er schaut mich kurz an und widmet sich dann wieder dem bereits stattlich angewachsenen Verband des Anschlagsopfers. Also, ich fand’s lustig. Leider der Rest der Bordinsassen nicht, was mir neben dem Vortrag über die von den Kassen unterdrückten Provinzmediziner zusätzlich das verständnislose Kopfschütteln der glotzenden Passagiere einbringt. Wie lange braucht man eigentlich für ’ne Platzwunde! Keine Ahnung, aber die Sitzung hier dauert und dauert. Wenn alle Ärzte so bummeln, muss ich mich nicht wundern, warum die Warteräume aus allen Nähten platzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verzieht sich der Medizinmann wieder in die First-Class-Zone hinter dem tiefblauen Vorhang. Ein bitterer Beigeschmack bleibt mir als Andenken auf der Zunge zurück.
Das Flugzeug nimmt auf dem Anflug nach Frankfurt noch ein paar unterhaltsame Luftlöcher mit. Der Umstieg in den Luftshuttle nach Berlin bleibt zwischen mir und Delia dagegen äußerst ereignisarm. Wir sitzen wieder am Fenster, zusammen und doch auf dem Weg in verschiedene Welten.
Berlin gibt sich nassgrau und regnerisch. Willkommen in der Hauptstadt, da wo die Merkel lacht und das Volk arm, aber sexy logiert. Das Gepäckband in der Ankunftshalle wirkt trostlos. Einsam zieht ein bunter Koffer aus Thailand seine Bahnen. Durch eine Lautsprecheransage piepst eine Frauenstimme furchtbar freundlich, dass nun die Koffer unserer Maschine durch die kleine, mit Gummilamellen dekorierte Öffnung einmarschieren. Die Glatzwunde schnappt sich zwei mausgraue Schalenkoffer, seine Frau eine mattbraune Rolltasche. Als sie gehen, nehmen sie wenigstens auch ihre verächtlichen Blicke mit, mit denen sie mich die ganze Zeit dankbar bedacht haben. Völlig entnervt diskutiert Delia mit dem Rollband. Und als ob sie einen besonderen Draht zu ihm hätte, erscheint zu meinem Erstaunen Sekunden später ihr knallroter Koffer, der sich dem mir gewidmeten hingebungsvollen Ignoranzgehabe entsprechend genauso hartschalig gibt. Gerade als ich ihr gentlemanlike zur Hand gehen will, drückt sie mich seitlich weg und zieht ihr Gepäck herunter. Sie klappt den Griff aus, würdigt mich dabei keines Blickes und … geht. Ja, sie geht. Das macht sie doch nicht wirklich, oder?
»Delia! Jetzt komm schon. Wo willst du denn hin? Ich mein, du kannst uns doch nicht einfach so …!«
Ja, was eigentlich? Wegwerfen? Aufgeben? Abschreiben? Quatsch, Henry, locker bleiben! Die ist sicher nur sauer wegen der Nummer im Flieger. Ein Blick von ihr lässt mich erschauern und meine Gelassenheit direkt in die Luft jagen. Mann, das wird jetzt aber echt nicht nett. Die wird doch nicht …! Spinnt die jetzt? Junge, wenn du nicht gleich was tust, dann ist das die längste Zeit ein »Wir« gewesen. Ich muss sie rumkriegen. Natürlich muss ich das! Okay, was war das Highlight am Strand? Mach schon, Henry! Hier geht’s doch um Delia, dein Schnuckelschnäuzchen … einfach die bestimmt größte Liebe deines Lebens. Hey, was heißt bestimmt, ganz sicher. Na klar! Wir sind das Paar, für immer und ewig, wie man das eben so ist. Mann, wie billig und abgedroschen das alles klingt. Nein, das will und kann ich ihr so nicht servieren. Das muss krachen, ganz tief drinnen. Ich schließe meine Augen. Junge, mir muss doch was einfallen, bevor sie sich ihre Koffer schnappt und einfach auf und davon ist. Also! Komm schon! Und? Jetzt! Ein verzweifelter Schrei entweicht durch meine weit auseinandergerissenen Lippen.
»Was uns nicht umbringt, macht uns härter.«
Autsch! Das … war … nix! Japp! Blödester Spruch ever zum definitiv falschesten Moment. Langsam öffne ich meine Lider und starre direkt auf ihre Hand. Ihr Mittelfinger prangt deutlich vor meiner Nase und zeigt keine erwähnenswerte Regung. Willkommen zurück in Deutschland, wo das klare Wort triumphiert und der unattraktive Dödel ohne Tamtam aus dem Beziehungsamt gejagt werden kann. Der Copy-and-Paste-Minister, der hatte wenigstens noch seinen ganz öffentlichen Zapfenstreich, aber ich fürchte, dass ich das bald selbst wieder aber sowas von allein für mich feiern darf.
»Hey, Delia, was wird das denn jetzt? Hier? Mit uns?«, frage ich mitleiderregend, nicht ganz ohne provoziert jämmerliche Moll-Note, und muss mich dabei völlig bedeppert anhören.
Sie neigt ihren schmalen Kopf und schaut mir noch immer regungslos in die Augen, als sie sich anschickt, die Eiszeit über uns auszubreiten. »Schau auf meinen Status bei F...!«
»Was?«, falle ich ihr komplett orientierungslos ins Wort und bemerke dabei nicht, dass Sie weitergeht, während ich unter der Kälteglocke zu bibbern beginne.
Was soll ich machen? Das ist doch alles ein bekloppter Scherz. Kein »Komm schon, Henry, wir fahren heim«? Keine Umarmung? Kein »So, und nun sind wir alle mal wieder normal«? Ich soll mich an den Rechner schmeißen und nachlesen, woran ich bei ihr bin? Sag mal, geht’s noch! Scheiß auf das Fratzenbuch! Was haben bloß alle damit? Kann denn keine Sau mehr was sagen, wenn es angebracht ist? Direkt, ungepimpt, einfach analog, ohne dass die halbe Welt mitliest! Das Kofferband leert sich, doch mein Gepäck kann ich einfach nicht entdecken. Delia taucht gerade in eine Menschentraube ein, als ich ihr nochmals nachrufe.
»Delia!«
Es bringt nichts. Ein paar Passanten schauen mich blöd an, als hätte ich ihnen frisch verkündet, dass das Ende aller Tage sowas von nah wäre. Da geht sie, meine … was auch immer … zum Taxistand und hebt ihren Arm. Sie winkt. Und winkt. Nur nicht nach mir.
Das Gepäckrollband bleibt leer und steht nun still. Langsam sacke ich auf der Metallkante ab und rutsche zu Boden. Ich habe doch immer gewusst, was ich wollte. Ich wollte sie, irgendwie bei mir, das musste doch so sein. Das war doch schon immer so. Sie kann jetzt nicht einfach hinschmeißen, sich selbst auf den Markt werfen und mich als Ladenhüter zurücklassen. Das ist sie mir schuldig. Ich meine, alles war klar und wir beide … zusammen und glücklich … aber sowas von zusammen glücklich … mit all unseren Träumen von Haus, Kind und … na eben Pipapo. Glücklich. Glücklich? – Natürlich … glücklich! Na ja, eben was man so erträumt. Mit jeder stummen Wiederholung auf meinen trockenen Lippen wird es blasser, unwirklicher, kälter. Aber es ist doch das, was ich will. Was jeder will. Natürlich nach und nach und wohlüberlegt, nicht überstürzt. All das soll jetzt nicht mehr sein wegen einer lächerlichen Frage nach Chicken or Pasta? Wegen eines blassen Karibikurlaubs und einer klaffenden Platzwunde. Sie hat sich entschieden – allein entschieden. Ich bot ihr blass durchgekochtes Chicken, aber sie verlangte wohl nach unbekannter Pasta. Basta! Mit einem Spontananfall an verletztem Stolz blicke ich ihr verächtlich hinterher. Soll sie doch glücklich werden. Mit mir war sie es wohl nicht. Und ich? War ich es je gewesen? Mein Gepäck hockt in diesem Augenblick, so soll ich später erfahren, übrigens noch in Amsterdam. Meine Klamotten sind also noch kiffen und mich beschleicht ein beschissenes Gefühl, dass nicht nur meine dreckige Wäsche völlig vom Kurs abgekommen ist, sondern auch ich mich gründlich verflogen habe.
Ich könnte jetzt also gehen und Delia wäre mein persönlicher Hans-Dietrich Genscher, der heute nun zu mir gekommen ist, um mir mitzuteilen, dass meine Ausreise – bei mir will kein frenetischer Jubel einsetzen – aus ihrem Leben bewilligt ist. Da stehe ich also, am Flughafen, ohne Koffer, ohne Freundin und ohne eine Ahnung, was ich eigentlich verloren habe. Mein altes Ich ist noch immer in Punta Cana und schlürft Piña Colada. Mein altes Ich hatte einen klar durchdachten Lebensplan, der wie ein Bordcracker im Nichts zerkrümelt ist.