Читать книгу Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille - Tobie Schmack - Страница 9

GROUND ZERO

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»Prost, du alter Sack. Auf dich!«, sage ich adrenalinbesoffen zu Tacko.

»Auf jeden!«, grölt er – sanft wie ein großer Bruder, den ich niemals hatte – zurück.

Mit festem Griff hebt sich das Bier und fließt erwartungsvoll erfrischend in meinen Rachen. Nein, das Hausbräu hier im Spikes kann erleichternder nicht schmecken. Kaum zu glauben, aber es ist gerade einmal schlappe zwei Stunden her, dass Meier nach erfolgreicher Wiederinstallation des Türschlosses mit ’nem Hunni im Blaumann die Abreise angetreten hat. Gemäß unseres Plans wurde die Tür anschließend von Tacko CSI-gesichert, fachmännisch eingetreten, die Polizei verständigt und natürlich die Versicherung informiert. Die Dame am anderen Ende der Leitung war sichtlich bemüht, mich in der von mir – wie ich meine – vortrefflich vorgegaukelten Verzweiflung zu trösten. Drei Jahre Schultheater waren eben doch nicht umsonst. Danke, Frau Mehlich! Zugegeben, dass ich auch die abgelaufene Bio-Milch mit satten drei Komma acht Prozent Fett auf die Verlustliste setzen wollte, war übertrieben. Aber hey, gestohlen ist gestohlen und lässt sich wieder holen. Da wird auch nicht geschludert. Sagen wir es so, ich war die ganze Zeit neben der Spur und Zuschauer eines merkwürdigen Films, an dessen Ende hoffentlich die Zusage leuchtet, dass der entstandene Schaden irgendwie übernommen wird.

»Alter! Keen Kopp! Die Brüder zahlen immer! Immer!«

Woher Tacko seine Zuversicht nimmt, ist mir schleierhaft. Und so wandert mein schweigender Blick vom sich allmählich leerenden Bierhumpen über Tackos überwältigendes Grinsen nach oben und ich spüre, wie der Alkohol den Stress aus dem Nacken spült.

Die Partyleuchten an der Decke haben sicher schon bessere Zeiten gesehen. Alles wirkt auch jetzt noch wie kurz nach ’89 renoviert und dann gründlich durch Zigarettenrauch konserviert. Die Scheiben waren schon immer mit schwarzer Folie abgedunkelt. Und das ist auch gut so! Wer wollte schon rausgucken? Immerhin, hier drin ging’s ab. Jeden Freitag gab’s hier NDW auf die Ohren und die Wodka-Cola, die nur palettenweise verhökert wurde, für neunundneunzig Cent in die Backen. So auch hier und jetzt. Mit Blick auf eine Truppe sich motiviert abfüllender Kerle in Tarnfleckmontur gebe ich mir gerade die erbärmliche Bierpfütze aus dem mittlerweile widerwärtig ausgelebten Glas. Die Hütte ist voll. Kein Wunder! Das Konzept »Billiger Alkohol plus Achtziger-Jahre-Mucke« geht für die Masse der Unter-Dreißigjährigen auf. Ü30 hat hier Seltenheitswert, was uns garantiert, dass uns alle für die Typen vom Ordnungsamt halten. Neues Bier kriegt man dadurch aber auch nicht schneller.

Ich habe Mandy schon gewinkt. Und doch steht mein Glas, immer noch leer, so trostlos vor mir, mit einer klebrigen Erinnerung daran, dass mal etwas Feierabendsaft in ihm gewesen ist. Die aus den einsam heruntergelaufenen Gerstentropfen gesammelte Restsuppe schlummert deprimiert am Glasboden und wartet auf einen Ortswechsel. So wie ich, obgleich ich nicht gierig geschluckt oder in der Kneipenspüle versenkt werden wollte. Als Tacko was von Steckdose faselt und rumpelnd unter dem Tisch verschwindet, frage ich mich, wie man nur so schwanzgesteuert sein kann. Dass er wirklich nur einen Stromanschluss sucht, um sein Netbook anzuschließen, muss ich nach den mir im Vertrauen erzählten Stories kategorisch ausschließen. Plötzlich taucht Mandy, die selbst nach einer Zwanzig-Stunden-Schicht rotzig heiß wirkt, vor mir auf, schiebt die Gläser auf dem Tablett zurecht und fragt lässig: »Noch mal das Gleiche, Jungs?«

»Ja, Schnucki!«, ertönt Tackos Stimme hinter dem flackernden Spielautomaten, der mit rotierenden Nummernscheiben und elektronisch verzerrtem Gedudel was von neuer Chance klimpert.

»Japp!«, nicke auch ich, mich selbst belügend.

Nein, ich will nicht das Gleiche, ich will was anderes. In meinem Schädel drehen sich die Gedankenfetzen und verschwimmen wie die Ziffern vor mir.

»Mandy!«, rufe ich ihrer noch sichtbaren Kellnerschürze hinterher. »Nein, nicht wie immer, ich nehm … ich nehm …«

Meine Fragezeichen tanzen kurz in der pommesschwangeren Kneipenaura, um nun klirrend am Boden zu zerschellen. Sie dreht sich wieder weg und schlägt dem neben ihr aufgetauchten Suffi eiskalt auf die Grabschgriffel, die ihr gewünschtes Ziel nicht mehr erreichen. Ich hocke gänzlich neben mir. Ich muss hier raus, die ganze Nummer macht einfach keinen Sinn mehr. Das ist doch krank. Warum harren wir hier aus … hier im Osten? Seit gefühlten hundert Jahren. Aber … was will ich denn eigentlich? Hab ich mich das überhaupt schon mal gefragt? Okay, mit Delia wär alles klar. Wir würden in ein paar Jahren das Grundstück in Meckelfeld übernehmen, mit dem Haus, in dem Onkel Freddy seit dem Tod meiner Tante allein sein Dasein fristet. Leider. Leben kann man das echt nicht mehr nennen. Meckelfeld! Das war der Plan. Gut, es hat ewig gedauert, bis ich Delia auch nur ein halbes Ja zum Umzug entlocken konnte. Wenn’s nach ihrer Familie ginge, müsste sie gar nichts tun. Toll, wenn der greise Herr Papa ’ne Spedition führt und die Prinzessin einzig zu repräsentativen Zwecken mal das Firmengelände betreten soll. Aus irgendeinem Grund hat der seit ihrem vierzehnten Geburtstag, was auch immer da gelaufen ist, tierische Panik, dass sie mit einem seinem Trucker durchbrennen würde, was alles andere als dem Stand entspräche, zu dem er sich selbst zählt. Er, der aus dem Nichts kam und alles mit seiner Hände Arbeit und ein paar stadtbekannten Winkelzügen zu einem bis ins hinterste Sibirien agierende Kipperlädchen gebracht hatte. Nicht schwer zu glauben, dass ich fürs Erste, als ich auf seiner Bildfläche erschien, als beziehungstechnische Übergangslösung und bessere Notstandsbegleitung offiziell geduldet wurde. Wann immer es passte, rückte er meine familiäre Position in seinem erlesenen Dunstkreis ins einzig von korrekt interpretierte Licht. Jedes noch so belanglose Zusammentreffen mutierte binnen Sekunden zum alles entscheidenden Bewerbungsgespräch, jedes sonntägliche Kaffee-und-Kuchen-Stelldichein zum Tribunal, dem ein standesrechtliches Erschießungskommando folgen müsste. Was immer ich vorher zu sein glaubte, danach wusste ich, dass ich nichts wusste. Würde mich heute jemand aus dem Schlaf reißen, ich könnte Unmengen Bibelpsalme aus meinem Unterbewusstsein leiern, als gäb’s kein Morgen, und in jeder drittklassigen Popelprovinz den Stadtführer mitsamt allerlei übernützlichen Anekdoten mimen. Hauptsache, man hat immer was zu babbeln und zu präsentieren. Es hätte manches Mal nicht viel gefehlt und ich wäre an Übermissionierung verreckt. Er konnte alles, er kannte alles und hatte alles, sogar für jeden Anlass das passende Parteibuch. Matrosen, wechselt die Fahne, der Wind hat gedreht! Mit jedem Bissen, mit jedem Schluck Kaffee schrie es in mir nach Flucht. Auf ins gelobte Land ohne Vaterbrust. Ja, selbst diese stillende Rolle riss ihr werter Herr erzählerisch irgendwann an sich, auch wenn ich mir das nicht vorstellen mochte. Nein, nein, nein! Delia und ich, wir beide in Meckelfeld. Wir hätten eine Chance auf eine eigene Zukunft. Das ganz sichere Ding für uns im Hamburger Speckgürtel. Hätten, hätten, hätten! Tja! Aber warum eigentlich nur zu zweit? Nieder mit der Pärchenkacke! Mann, das ginge doch auch ohne sie. Dort könnte ich locker einen Job in Freddys Firma bekommen, obwohl ich mit Fliesenlegen – geschweige denn handwerklicher Schaffenskraft – nun wirklich noch nie etwas am Hut hatte. Und wenn schon! Dann steige ich bei der Windkraftbude von Dietmar, seinem Schwager, ein. Marketing. Sicher, Marketing geht immer. Das würde schon klappen. Wenn man will. Und ich würde wollen, diesem ausgelebten Kaff hier endlich den Rücken kehren und zusehen, dass mich nicht alle für einen Versager hielten, bloß weil ich den Absprung nicht geschafft und einfach nicht genug Mut gehabt hätte, die vergilbten Sicherungen rauszudrehen. Als stünde das Ende meiner Welt unmittelbar bevor, beschließe ich, eine Mayday-SMS an Dietmar abzusetzen, dessen Nummer sicherlich noch irgendwo im hintersten Winkel meines Handys herumvegetiert. Gedacht, getan! Da sag noch einer, ich sei nicht spontan. Entscheidungen. Genau! Ich hätte das Bier bestellen sollen – das Gleiche wie immer. Mann, ist mir schwindelig.

»Sag mal, ist die Luft hier immer so dünn?«, brülle ich zu meinem Kumpel, der gerade den femininen Neuzugang mustert und mich bestens ignoriert.

Was bitte fesselt ihn eigentlich an seine poppend abgegraste Heimat? Er müsste doch wirklich schon jede dunkle Ecke gesichtet haben. Allein bei dem Bild will ich weg aus meinem Kopf. Mann, wir waren uns doch so einig. Wann immer wir nachts zur Tanke liefen, weil uns der Wodka ausgegangen war, waren wir wie zwei einsame Wölfe auf der Suche nach Menschenfleisch. Nicht zum Fressen, versteht sich. Wir fühlten uns so häufig – unausgesprochen – einfach allein in dieser Provinzklitsche, von deren höchstem Punkt, einer längst geschlossenen Müllkippe, jeder Tourist eindrucksvoll die zerrissene Kultur nachwendezeitlicher Stadtplanung erblicken kann. Die leergewohnten Ratio-Bauten, zwischen denen wir als Kinder bis weit nach Sonnenuntergang unbesorgt herumtoben konnten, weichen Grünflächen, die niemand pflegen wird. Wer auch immer noch etwas auf sich hält, flüchtet halbherzig, an den Rand der Stadt oder pfercht sich in das hippe Wohnviertel im Norden. Wenn es die oberste Bürgermeisterpflicht ist, ein neues Tankstellenklo einzuweihen, ansonsten dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr den frisch gebackenen Hundertjährigen den selbst gezauberten Streuselkuchen wegzufressen und die Sahne vom Törtchen zu lutschen, dann ist dieses Glück nicht von Dauer. Noch aber brennen die Lichter der Stadt, auch wenn es vielleicht selbst gelegte Brände sind, aus Angst, im Dunkel der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Lichter, Leuchten, Blinken. Blink, Blink, Blink.

Der Automat verspricht bei bestem Diodentheater schon wieder die große Chance. Mit einem kurzen Knall gehen schlagartig die Lichter aus. Bumms – aus – Nikolaus! Das Gedudel versiegt und wir hören nur noch die sich selbst feiernde Menge.

»Na bitte, geht doch!«, stellt Tacko johlend fest.

Der soeben verstummte Kasten hat ausgespielt. Eigentlich logisch, immerhin ist mein bester Kumpel unter diesen Voraussetzungen klar im Vorteil und hat seine Fähigkeiten, auch in der dunkelsten Ecke erfolgreich herumzufingern, schamlos eingesetzt. Tacko beendet seinen Tauchgang und hockt sich neben mich, wobei er der Maschine einen Blick völliger Missbilligung zuwirft.

»Ich konnte die Dinger noch nie leiden. Wenn ich was brauche, wo ich Geld reinstecke und nichts rauskriege, kann ich auch heiraten, was!«, brüllt er mir schallend ins Ohr.

Intakte Trommelfelle werden eben echt überschätzt! Da ich mir leider nicht sicher bin, ob die meinigen gerade einen ungünstig irreparablen Dauerschaden genommen haben, versuche ich mit aller Kraft das Lüftungssurren seines Computers einzufangen. Natürlich muss Mandy genau jetzt was frisch Gezapftes auf der Tischplatte abstellen. Rumsen würde ich noch mitkriegen, aber mir geht’s um die feinen Töne.

Mit ordentlichem Schwung haut sich Tacko das Bier rein. »Echt lecker!«

Unnötig zu fragen, wen er meint und wovon seine gierigen Augen sprechen.

»Mann, Henry! Weißte …«, will er jetzt galant einleiten, dass die gerade entflohene Bar-Maus, eine ganz besondere Nummer im Bett und vielleicht auch in seinem vor lauter One-Night-Stand ausgewaschenen Herzen haben könnte. Aber das wäre nicht drin, weil er sich ja nicht aufheben könne, weil ihn alle verdienen, und dass er sie fast alle schon hatte, die Brünetten, die Blondchens, die mit oder ohne Hängebrust, Selbstwertgefühl, Vaterkomplex und Wohlfahrts-Tattoo, ja auch mal einen Dreier mit zwei verwarzten Zwergen, gefesselt, mit Ketten und Wachs … Bondage! Hauptsache, immer was mit Bondage. Und jetzt, da mir diese ganzen Protzmärchen der Gebrüder Knick & Knack aus meinen zum Teil tauben Ohrmuscheln rausquellen, fällt mir ein, was ich ganz unbedingt will.

»Tacko, ich brauch einen Freund, was ganz Normales. Einen, der einfach mal stino bleibt, der genauso langweilig sein kann wie ich.«

Mit versöhnlich einlullendem Blick drückt er seinen Kopf an mich heran. »Aber Henry! Okay, alles, was du willst! Kein Thema. Und auch wenn du das nicht glauben kannst, wenn du frühmorgens an dir runterschaust, aber auch du … bist ein Mann.«

Während er nun meinen Kopf abtätschelt und nach zerrissenen Wortbrocken immerzu meinen Namen einbindet, beginnt eine Reise durch die Menschheitsgeschichte à la Tacko, wobei die Fakten sehr großzügig kombiniert werden. Ich bin mir streckenweise nicht sicher, ob ich aus diesem Monolog lebend herauskomme, als Tacko unerwartet die Biege macht und mich mit einem deftigen Ruck gegen die Schulter zurück in die Realität holt.

»So, Schmucker! Ta-ta! Dein neues Profil, willkommen in der Welt der Beischläfer. Schau’s dir an und dann feiere mich!«

Tackos Bescheidenheit kann mich noch immer überrumpeln.

»Profil? Neu? Wusste gar nicht, dass ich überhaupt eines habe!«

Eingehüllt in die schummerige Muschebubu-Beleuchtung bemühe ich mich, meinen Blick gespielt dankbar interessiert auf den grell leuchtenden Netbookmonitor zu richten.

»Nee, nett ist das nicht«, schießt es mir durch den Kopf, in dem Bewusstsein, dass »nett« jene berühmte kleine Schwester von »große Scheiße« ist.

Mein neues Ich, das definitiv schon seit Stunden online ist, geht mir überhaupt nicht leicht runter. An meinen echten Namen hat sich ein beeindruckendes Profilbild angeheftet. Fragt sich nur von wem. Da thront ein James-Bond-Body-Double mit makellos enthaarter Brust in einem roten Sportflitzer. Ein Torso, der ganz zufällig mein Haupt samt Krater-Grübchen und gezupften Brauen auf den in der Sonne glänzenden, eingeölten Schultern trägt. Ich muss echt aufpassen, dass diese Version von mir mich nicht selbst anmacht. Würde sich Tacko mal gepflegt seine Pimperbrille runterreißen, er würde endlich den lieben Bubi aus dem Briefmarken-Kaupel-Club erkennen, den ich mir trotz des mühsam wachsenden Drei-Tage-Barts optisch nur schwerlich abstreifen kann.

»Tacko, echt lieb! Verstehe ja, du willst mir helfen. Aber das hier ist absolut ›emotionaler Pflegefall in der Endstufe‹. Hier, das Bild! Echt jetzt! F40 und Hostessen? Zugepiercte Pobacken? Tacko, dir haben sie doch echt ins Hirn … Das kauft mir doch keiner ab! Und seit wann habe ich Tribals am Oberarm?«

»Ab Mittwoch! Und mach dir mal keine Platte. So genau nimmt das im Netz eh keiner. Ey, das ist jetzt schon seit ’ner Woche online. Und bis jetzt kommt’s an. Allein gestern haben dich vierzehn Chicks geliked.«

»Vierzehn!«

Tackos Sinn für welche Realität auch immer muss im virtuellen Nirwana elendig abgekratzt sein. Ich habe also nun offiziell ein Tattoo, das ich jetzt sehen müsste. Immerhin geht es bis zur Kragenkante und müsste seine leuchtende Speerspitze blutgierend in meine Halsschlagader bohren. Tacko sieht das alles äußerst locker.

»Hey, am Computer war das ganz schnell gezogen.«

Das glaub ich gern. Was er sich möglicherweise sonst so reinzieht, weiß ich wohl weniger.

»Ja, ja«, lenkt er ein und zieht mit seiner Masche galant aus der Spielstraße wieder direkt auf die Autobahn. »Alles schick, Großer! Also, die Maus hier legt keinen Wert auf Einzelheiten, die ist an Primärem interessiert.«

Bei »primär« legt sich ein gieriges Lächeln um seine vor Sabber tropfenden Zähne. »Henry, locker! Die will dich gleich abchecken und danach bestimmt nur knallen, mit oder ohne Waschbrettbauch. Und da hat der Tacko keinen Pfennig dazubezahlt, verstehste?«, versucht er mich appetitanregend auf etwas einzustimmen, wobei die Worte »die« und »gleich« in meiner Hose das völlige Gegenteil auslösen.

»Lass gut sein, Alter! Du, ehrlich, ich hatte echt schon genug Stress.«

In mir brodelt der vierzehnköpfige Hexenkessel und angesichts Tackos aktuellen Kreativitätswahns schwant mir nichts Erlösendes. Was hat Tacko für gleich klargemacht? Power-Panik kommt in mir hoch und ich beschließe, die in meinen Händen zerrinnende Zeit für etwas CSI zu opfern, bis jener unbestimmte Moment »gleich« eintreten wird. Nein! Spontan stelle ich die Ermittlungen zurück und presse ein unmissverständliches »Hast du sie noch alle!« aus meiner Kehle. Hu! Das tut gut. Gleich noch mal. Leider bleibt der gewünschte Effekt bei ihm aus.

»Sag mal, drehst du langsam ab? Tribal am Mittwoch! Und von wem redest du hier eigentlich?«, platzt es aus mir heraus.

Die Recherche läuft. Ja, bezüglich des Tribals hat er es tatsächlich ernst gemeint und mit »in zwei Tagen«, das gerade eben neu eröffnete Tattoostudio am Theaterbrunnen neben Schmidts Elektrohandel. Bleibt noch Frage zwei. Das Publikum in der Bar würde sicher keine Antwort erahnen können, der Anruf ist hinfällig, und was bitte nützt ein Fifty-Fifty, wenn nicht minimal zwei mögliche Lösungen in Aussicht stehen. In mir dröhnt der Buzzer: TIME IS OUT! GLMPF! Ich steh wirklich auf Thüringer Klöße, aber nicht, wenn sie im Hals kleben.

Tacko wendet sich zu mir, zieht meinen Kopf zu sich heran und flüstert so intensiv in mich hinein, als würde die Inquisition hinter mir warten. »Die da … die ist dein Premium-Date für heute! Aber edel.«

Bullshit! Hat der gerade »Date« gesagt?

»Für heute?«

Ich muss hier dringend was klären.

Zu spät. Als ich mich umdrehe, kann ich lediglich eine schwache Silhouette ausmachen, die im Takt des Discobeats mal auftaucht und wieder im Dunkel verschwindet, sodass ich lediglich etwas Schlankes, circa einsfünfundsechzig Großes erkenne. In mein Gemurmel mischt sich eine Extraportion Angst, dass hier hoffentlich keine Nummer mit Piephahn in der Buchse droht. Kurz bevor sich die ersten Schweißperlen zur Furcht-und-Panik-Demo auf meiner Stirn zusammenrotten, erkenne ich das bisher befürchtete »Es« zweifelsfrei als eine eindeutig überschminkte »Sie«.

»Danke, Gott! Das ist ’ne Tussi.«

Mit kurzem Bobschnitt. Gut, so wählerisch will ich mal jetzt nicht sein, erde ich mich selbst, als ich merke, dass das Flackern vorüber ist und einer der Spots wieder genüsslich klemmt und damit direkt meine Visage faltenfrei ausleuchtet. Das Discolicht will auch nach Sekunden peinlicher Stille einfach nicht abblenden. Danke auch! Dem Laden spendiere ich irgendwann mal ’ne richtige Anlage. Glücklicherweise ist sie keine Puppe aus dem Wachsfigurenkabinett, sodass sie sich selbst dazu einlädt, sich an unseren Tisch zu setzen. Das heißt, unser Tisch ist eigentlich nur noch meiner, da Tacko die Kunstpause nutzt, mitsamt seiner Präsentation abzudampfen, vermutlich zu Mandy. Aber das ist wohl mein kleinstes Problem.

Wenn Opa mal was vom Krieg erzählt hat, ging’s immer um die Angst, den Feind im Nacken. In jeder Sekunde tödlich verletzt zu werden. Feuerstöße, ratatat … ratatat … ratatatat! Nein, hier sitzt keine Heckenschützin vor mir. Ich schaue direkt in das Mündungsrohr, an dessen anderem Ende der Finger lauernd am Abzug liegt. Die Schlacht beginnt und ich mache gar nicht erst den Versuch, mit der weißen Fahne ergeben zu wedeln. Stattdessen schleudern mich ihre Fragen wild umher, ohne mich dabei vom Stuhl zu fegen. Ja, man kann Leute besoffen quatschen. Was sonst passiert hier gerade mit mir! Ich sehe schon die Schlagzeile im Lokalteil von morgen: »MORD IN DER BAUHAUSSTADT! Single erliegt Ohrenbluten beim Speed Dating.« Nee, so geh ich ganz bestimmt nicht von dieser Welt, wenn ich auch zugeben muss, dass meine Rettungsversuche äußerst kläglich daherkommen. Ich höre mir selbst gebannt zu, wie ich in Hilfslosigkeit zu ertrinken drohe.

»Ja! – Nein! – Doch! – Nee, warte mal! – Ähm, Single. – Jaja! – Hm! – Ja! Dreier? Wieso? – Also! Deine Haare? Nee, schick! Haare halt! – Bestimmt! Ja – Ja. Bisschen. Russisch? Sieben Jahre, eben Schule! – Ja! – Wie? – Nee, echt! – Was? Fuffi pro Stunde? – Nein! – Ja! – Hab ich ›pummelig‹ gesagt? – Ähm, ja! – Zu mir? Was? – Ja! – Wie? Halb elf? – Äh! – Stopp mal! – Wer? – Standesamt? Morgen! – TACKOOO!«

Und plötzlich – aus! Stille! Keine Ahnung, ob mich ihre blitzenden Schüsse getroffen haben, aber die Ruhe nach diesem Quasselsturm ist gespenstisch. Wenn mir jetzt einer aus dem Nichts ungeschützt in den Rücken springen würde, meine Blase würde sich platzend freigeben. Hat da nicht eben noch die Frau gesessen, die zu jenem attraktivem Schattenspiel gehörte? Wo ist sie hin? Und worum ging’s hier wirklich, grübele ich, als mir Mandy ungefragt ein Bier vor die Nase setzt.

»Die Kleine ist weg. War ganz schön angepisst. Aber glaub mir, die wär eh nichts für dich. Das Bier ist von Tacko. Der hockt drüben an der Bar und glotzt mir ständig in den Ausschnitt«, beschwert sie sich nüchtern, wobei ich zu gern erwidern würde: »Wenn die Bar geöffnet ist, muss man sich nicht wundern, wenn einer was trinken will.«

Dabei versuche ich so unauffällig wie möglich in ihre Auslage zu schauen. Mandy dreht weiter ihre Runden. Hat die Schattenmaus eigentlich gesagt, wie sie heißt. Nee, oder? Speed Dating! Ja, genau! Ich wurde offiziell gespeeddated. Man trifft sich und nichts bleibt. Aber warum sollte man sowas wollen? Und was habe ich ihr so völlig überfahren bloß geantwortet? Panikartig taste ich meine Hemdtaschen ab. Gott sei Dank, meine Kohle ist noch da. Alles gut! Puh! Wie auch immer, damit könnte ich leben, auch wenn ich schleunigst das Foto mit dem Arschbackenring von meinem virtuellen Ich killen muss.

Ich proste Tacko gereizt zu: »Auf dich!«, was er mit einem stolzen »AUF JEDEN!« quittiert.

Richtig, auf jeden … auf jeden kommt das Schicksal aus einer völlig unerwarteten Richtung zu und manchmal klaut es ohne ein vermittelndes Zögern deine Zeit. Und alles fühlt sich an wie eine Thaimassage ohne Happy End. Ein glückliches Ende, das gibt’s wohl doch nur in Schnulzen.

»Und im Five-Step-Check der MenPlanet«, wirft Tacko galant von der Seite ein.

Es gibt in unserer Welt ein paar nette Gesetze. Einige davon sind so alt, dass wir die Urheber maximal aus dem Physikunterricht kennen. Andere lauern auf uns, um uns mit ihrer ganzen Stärke hinterrücks eiskalt den Alltag zu versüßen. So wie das: Im Winter fressen wir uns die Hucke voll, und sobald im Januar mal über null Grad erreicht sind, gibt sich die Damenwelt bauchfrei und frisch gedruckte Lebensretter schütten ihre »Fit in den Frühling«-Tipps aus. »Fett in den Lenz« wäre so viel entspannender. Mit dem Schnee kommt die Nahtoderfahrung für die Natur, mit einer frischen Trennung das schwarze Loch der Einsamkeit, das einen magisch ansaugt, um einen mit Haut und Haaren zu verschlingen. Und für all diese Momente gibt es findige Redaktionen, die uns nett verpackt in Hochglanz das gesellschaftliche Soll unter die Hirnlappen reiben. »Pimpt euch, findet euch und f**** euch«, damit auch noch morgen kraftvoll Magazine gelesen werden. MenPlanet, Tackos Lifestyle-Bibel, liegt nun ausgebreitet im Schummerlicht vor mir.

»Ey Henry, das geht auf. Kennste mich, kennste den Weg zu den Chicks. Und damit meine ich nicht den Hähnchengrill, he!«

Was ich da sehe, ist ein Adamskostüm, für das ich auf der Stelle eine Ode an die Männlichkeit hätte schreiben können, aber das wäre nun wirklich nicht hetero. Als ich Tacko dabei beobachte, wie er förmlich in den gedruckten Typen reinkriecht, frage ich mich, wer hier wirklich stationäre Betreuung braucht. Zugegeben, der Kerl sieht einfach makellos aus, sein leichter Bartansatz in der verschwitzten Wangenhaut kommt gut rüber. Dazu die Pose, als wolle er gleich jetzt und hier jede Maus in seinen heiligen Schoß legen. So viel Überzeugungskraft kennt man ja sonst nur als Ministrant in Bayern. Nein, da ist rein gar nichts, was mich mit ihm auch nur im Ansatz vergleichbar macht. Was Tacko nicht im Geringsten stört, nein, ihn sogar beflügelt, mich ganz offiziell zu seinem neuen Projekt zu küren: »Der Henry 2.0«.

Was auch immer er vorhat, ich hab keinen USB-Slot, okay? Die völlig haarbefreite Brustzone vom Cover-Dödel wird einzig und allein von einer fetten »5« bedeckt, die von seinen Brustwarzen eingefasst ist. Gerade als mir auffällt, dass der linke Nippel leicht nach links unten abdriftet, während sein rechtsliegendes Gegenstück geradezu frontal in meine Augen sticht, schiebt mir Tacko einen Gutschein in beißendem Rot mit ebenso beißend lächelnden Menschen herüber.

»Pass mal auf, hier und heute, das ist Ground Zero.«

Ich warte ab, was das jetzt wieder wird und hoffe inständig, nun nicht gleich noch »New York«, »Al Kaida« und Flugzeuge« zu hören. Ich habe keine Lust, von einem Moment auf den nächsten in einem staubigen Loch auszuharren und als einzig zugestandene Tagesration den Koran verschlingen zu müssen. Alles, was ich will, ist … tja, was denn? Meine Ruhe, ’ne Mütze Schlaf sowie eine bescheidene Portion Zuversicht, nach all dem, was nun vor gefühlten zwei Minuten über mich hereingebrochen ist und das Tacko als seine Großbaustelle ausmacht, für deren einzigen Neuentwurf er einen gigantischen, schattenwerfenden Wolkenkratzer ersonnen hat, ein Monument, das jeden mir gegenüber erblassen lassen soll. Mein Baumeister hat sich das Einladungsschreiben für das große Wiedersehen aller Schulabgänger meines Jahrgangs wie einen verbindlichen Auftrag in die Jacke geschoben. Eine Mission, die im heiligen Krieg um das Ansehen seines Seelenverwandten unter allen Umständen zu erfüllen sei. Und wie immer ist seine Bruderliebe trotz fehlender DNA-Beziehung kein Garant, dass ich aus so einer Nummer, in der er den Chefkoch gibt, herauskomme, ohne fein gehackt im Kochtopf zu landen. Ich kann schon glücklich sein, wenn jener ominöse Henry reloaded nicht als billige Baumarkthundehütte endet und ich somit bei diesem bekloppten Ehemaligentreffen nicht das bemitleidenswerte, gebuchte Opfer geben muss. Trotz aller Erschöpfung und aller Eindrücke aus Bier und Speed Date sammle ich mich und gebe mir alle Mühe, dankbar zu erscheinen. Und wenn die nette Begleitung allem Anschein nach am Ende tatsächlich eine Edelnutte mit russischem Unidiplom in Atomphysik sein würde, es wäre ein Diamant, dem ich zur Not noch Kohle und ein Drehbuch aufdrücke, nur um nicht gänzlich allein dazustehen, vor Mickey, vor Delia und vor allem vor mir selbst, wenn alle ihre Vita abgleichen. Nein, ich will einer sein, der es geschafft hat. Also verpasse ich Tacko keine vor den Latz, was ihm als Provision bereits locker zustünde. Noch ist nicht Zahltag. Der Zugriff durch den CIA bleibt aus. Die Attacke durch Tacko und das sich in meine Hand einschneidende Gutscheinpapier nicht.

»Schmucker, das ist die Eintrittskarte ins Bermuda-Dreieck.«

Wie immer grinst er bei diesem ausgelutschten Gag. Ja, es ist schon lange vor der öffentlichen Zurschaustellung Einzelner im Netz Stadtgespräch, dass er sich gern zwischen den Schenkeln knusprig gebräunter Fitnessclub-Tussis verliert. Beständige Zugriffszahlen seinerseits auf die regionale Tussilandschaft sprechen ihre eigene Sprache. Never change a fucking system! Und verdammt noch mal, ihm geht’s bestens damit. Während ich mich mental fein säuberlich filetiere, wie ich Delia zu kompensieren gedenke, hat der Drecksack einfach Spaß, ohne Reue, ohne einen Gedanken an ein seelenloses »Mann, war ich geil!« in ein fremdes Gesicht nach einer durchgepoppten Nacht.

»Hey Henry, du bist echt ein netter Typ, also optisch … irgendwie. Aber ›nett‹ trägt Omas den Einkauf nach Hause und gibt in der Musikschule Blockflötenunterricht. Nee, ich mach aus dir einen ganzen Kerl, was!«

Aha! Schön. Warum muss ich eigentlich gerade an Hundefutter denken. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich mit glänzendem Haar über eine Wiese jagen, meine zartrosa Zunge hängt vornehm sabbernd lässig heraus. Und ich bin glücklich, frei und entwurmt. Tackos Fünf-Punkte-Plan soll also mein Chappi sein. Auch nach einem kräftigen Schluck Bier schmeckt mir dieser Gedanke nicht so wirklich.

»Alles Gute zum Purzeltag, Alter!«

»Danke, für den letzten biste vier Monate drüber.« Also danke für den Vorschuss, denke ich misstrauisch, als ich den Gutschein nun endlich, aber zögerlich an mich nehme und skeptisch beäuge. »FITNESSCENTER! Wirklich? Klingt nach Arbeitslager!«

Nein, ich fange nicht an zu maulen. Besser! Um Tacko keinen Grund für den nächsten bekloppten Nickname für die kommenden drei Jahrzehnte zu liefern, verstumme ich und ziehe mich etwas zurück. Ja, ich tue sogar so, als würde ich ihm bereitwillig in jedes Abenteuer folgen, was mir den kümmerlichen Rest an Ehre aus dem Leib brennen würde. Kein Zweifel, er ist sich vollkommen sicher, geradezu fasziniert von seinem Vorhaben. Ich muss geformt werden. Und ja, da kennt er keine Gnade. Bleibt nur die Frage, ob ich mit einem edel eingeölten Sixpack oder einem abtörnend chronischen Bandscheibenschaden aus der Sache herauskäme. Für den Abschluss einer Zusatzversicherung ist es jetzt wohl zu spät. Mit gefühlvollem Zuspruch musste ich bei ihm ohnehin noch nie rechnen. Dafür gibt’s jetzt reichlich Rum-Cola an Southern Comfort Ginger Ale gefolgt von Mannis hausgemachtem Obstler. Würde ich den nicht mindestens einmal pro Abend hier ordern, ich hätte ohne Frage lebenslang Hausverbot. Da kennt Manni keinen Spaß. Unter dem steten Fluss agitiert Tacko sein Einmaleins der Frauenwelt an mir herunter, Stunde um Stunde. Und das sieht so aus: »Biste was, kriegste was!«

Soll heißen, Marketing ist alles. Sein Blick hat langsam was von Landvermessung, wie er mich so abstarrt. Als wäre ich eine gut abgehangene Schweinehälfte, patscht er mir mal rechts, mal links an die sich allmählich rötenden Wangen und lallt mich in väterlichem Ton voll. »Wird schonn ’enny, krie’ ’mer hin. Jenug jelabert, ab morjen kann dich Delüah mal jepfleeeeecht am Hobel blasen«, spricht er und kippt dabei ein, zwei, ja drei jungfräuliche Wodka-Cola nach.

Mandy setzt uns Pommes Schranke mit optischen drei Kilo Majo vor, die Tacko als meine Henkersmahlzeit tituliert. Ob ich es glaube oder nicht: Ich bin im Begriff, Tackos Lehrling zu werden und sehe mich ihm schon Bierkästen auf seine Baustellen tragen. Wobei Bier eher Kondome sind und die Baustellen weibliche Dauermitglieder in seiner Pumperhütte. Während Tacko die pappigen Kartoffelsticks als Gleichnis für meine Oberarme missbraucht und ich den Gutschein hoch konzentriert, mit tastendender Zungenspitze an der Oberlippe, zum Flieger verbastele, fällt mir plötzlich eine seiner Eroberungen ein. Nicky! Was, wenn er recht hat und alle durchtrainierten Girls lediglich dort gefunden, gefangen und eingeholt werden müssten, ja abgefischt werden wollten. Dank Tacko hätte ich wohl die besten Connections, an sie heranzukommen, und das alles bezahlt. Ja, allein eine von ihnen wäre sicher schon perfekt. Die ideale Begleitung, ein optischer Bringer. Ich schaue Tacko tief in die Augen.

»Danke nochmals, mein Bester! Ich glaub, ich hab’s jetzt.«

Die schwerfällige, herumfuchtelnde Masse, die sich mein Kumpel nennt, reagiert jedoch nur noch eingeschränkt und gibt sich mit aller Restaufmerksamkeit der Neugestaltung meines Hemdes hin. Auf dem könnte gut lesbar stehen: »Kann Spuren von Erdnüssen enthalten«, denn Tacko hat seit einer Viertelstunde nichts Besseres im Sinn, als mich mit jenen zu bewerfen. Aber weder heiße ich neuerdings Dumbo, noch … ach egal. Auf solche Nummern, die man Viertklässlern heute als Ausdruck spielerischer Kreativität auslegen würde, muss ich nun wirklich keinen Elefanten machen. Wieso um alles in der Welt interessiert mich das jetzt überhaupt? Ja, sicher, mit Essen spielt man nicht, aber … hey, bin ich schon wieder nüchtern? Ich checke kurz meine Beweglichkeit, indem ich einmal um den Tisch flitze – oder das, was man so »flitzen« nennen könnte. Mist! Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich möchte, um so besoffen zu sein, wie ich sollte. Und das, obwohl ein flüchtiger Blick nach vorn ein bereits beachtliches Schlachtfeld offenbart. Die akkurat gekillten Gläser auf dem Wodka-Cola-Tablett liegen gequält auf der Seite und lechzen nach Zuwendung. Neben ihnen schlummern ihre Leidensgenossen, deren flüssige Whiskey- und Obstlerreste einen kleinen, klaren See auf der Tischplatte bilden. Tacko ist sichtlich bemüht, nichts verkommen zu lassen und mutiert zu einem menschlichen Staubsauger. Mit abgestützten Armen beugt er sich vornüber und senkt seinen karpfenmaulgleichen Mund hinab. Ein Bild, ein Moment! Anmutig wie zwei Pfund Hack! Als hätte ich Tacko in seiner Philosophievorlesung unterbrochen, lallt er mich fürsorglich voll, als ich ihm den Mund mit seinem Ärmel abwische und ihn Richtung Ausgang hieve.

»’enny, Mann! Jetzt schnapp dir de Welld. Füff Sachen … musste mach’n. Hihi, des reimd sich. Krass, ne!«

Ich hab genug intus, um ein paar Minuten mitzukichern. Mit letzter Kraft reißt sich Tacko zusammen, schüttelt sich kurz, packt mit beiden Händen meinen Kopf und diktiert mir direkt ins Gesicht: »Korrekter Body, schicke Bude, bisschen Arschloch, Vision und Macke. So machste die Mädels klar. Aber nicht so, guck dich mal an.«

Tja, würd ich gern, aber an mir hängt einer, der für sich genommen alle Kriterien erfüllt und nun hundertprozentig geschmeidig wie eine Python zu Boden gleitet. Mein soeben selbst ernannter Heilsbringer, meine ganz persönliche Task Force, die mich aus dem dunklen Tal der Einsamkeit emporheben will, braucht mich scheinbar gerade mehr als ich ihn. Mann, der sieht doch gar nicht so schwer aus? Deutschland wird am Hindukusch verteidigt und meine Rest-Ehre von Tacko. Okay, nun bin ich also in seiner Hand.

»Tacko? Taaaacko?«

Nichts zu machen, sein Sabber läuft gerade schillernd glänzend an meiner Knopfleiste herunter. In dieser Pose des innigen Zusammenhalts, wie er nur unter Männern existiert, geben wir wirklich ein süßes Paar ab, wie ein Arbeiterdenkmal im Dauerregen. Super, er hat sich mal wieder königlich selbst abgeschossen. READY FOR TAKE OFF!

Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille

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