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Charly erlernt einen Beruf

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Es vergingen einige Tage, in denen Charly sich nach Anstellungen im Ort erkundigte. Vieles bot sich ihm nicht an. Zum einen war da der Schmied, der nun wieder einen Lehrling suchte, ein Landwirt in der Nachbarschaft, der eine Hilfe für die Bestellung und Ernte der Felder benötigte. Auch der Schlachter im Ort bot ihm eine Anstellung an, die er jedoch sofort dankend ablehnte. Zuletzt hörte er von der örtlichen Post, dass Albert, der Postmann, jemanden suchte, der ihm bei der täglichen Arbeit half. Von der mageren Auswahl an möglicher Arbeit erschüttert, saß Charly traurig zuhause und wusste nicht weiter. Er überlegte noch einmal, welche Anstellungen ihm angeboten wurden.

»Da sind der Schmied, der Landwirt, der Schlachter und der Postbote« sagte er zu sich. »Einen Schmied haben wir bereits auf dem Hof, das brauche ich also nicht zu lernen. Landwirtschaft kann ich wohl am besten von Dan lernen und würde somit auch mehr unserem Hof schaden als helfen, denn wenn andere mehr ernten als wir hier, dann wird unser Verkauf der Waren darunter leiden. Das fällt also auch aus. Beim Schlachter möchte ich auch nicht arbeiten, das ist echt ekelig. Da bleibt mir also nur der Postbote« entschied sich Charly mit wenig Begeisterung. Dennoch wollte er es sich zumindest mal ansehen, bevor er gänzlich den Kopf in den Sand stecken und weiterhin auf dem Hof arbeiten würde.

Dan war zwar von der Idee wenig begeistert, da ein Postbote auf dem Hof von wenig Nutzen war aber Charly konnte ja vieles von seinen Söhnen lernen. Nur Claris freute sich über Charlys Entscheidung. Sie fand die Arbeit sehr passend zu Charly. Sie hatte immer das Gefühl, als würde Charly der Kontakt zu anderen Menschen fehlen. Und da er pflichtbewusst und fleißig war, war dieses wohl die beste Arbeit, die Sie sich für ihn denken konnte. Noch im Herbst fing Charly bei der Post an zu arbeiten.

Zu Beginn der Ausbildung sah Charly Albert bei dem zu, was er tat. Morgens gingen sie, jeder mit einer großen Ledertasche umhängend, durch den ganzen Ort und verteilten die Post, die Albert anscheinend schon vorsortiert hatte. Nachdem sie in Glengarriff fertig waren, kehrten Sie zum Postgebäude, welches auch gleichzeitig das Wohnhaus von Albert und seiner Frau war, zurück und stiegen dort in einen Wagen ein, der neben einem anderen hinter dem Haus parkte. Im Wagen fand Charly noch weitere Posttaschen vor, die anscheinend genau wie ihre jetzt leeren Taschen auch schon vorsortiert und durch Albert gepackt waren. Sie fuhren los und Charly stellte im Laufe des Tages fest, dass Albert nicht nur in Glengarriff, sondern auch die Post in vielen weiterer Ortschaften verteilte.

Nachdem Sie die ganze Post verteilt und in den Orten die zu versendende Post abgeholt hatten, fuhren sie zurück zur Poststation und fanden hier bereits zwei Jutesäcke vor, die an der Tür angelehnt standen. Anscheinend war ein Kurier da gewesen und hatte diese hier abgestellt. Albert und Charly nahmen sich jeder einen der Säcke und gingen damit in das Gebäude hinein. Hier sah Charly sogleich einen großen Tisch, der mit einer erhöhten Holzumrandung eingefasst war. Außerdem waren hinter dem Tisch mehrere große Ablageflächen, die ebenfalls mit einem hohen Holzrand versehen waren. Albert legte seinen Sack von der Schulter auf den Tisch und öffnete ihn. Er fasste den Sack am Boden an und hob ihn hoch, sodass der Inhalt auf den Tisch fallen musste. Heraus kam eine, für Charly, schier unvorstellbare Menge an Briefen, die sich auf dem Tisch verteilte. Albert bat Charly das Gleiche mit seinem Sack zu tun und so lagen nun einige Hundert Briefe vor ihnen auf dem Tisch.

»Die Briefe werden in Dublin und Cork vorsortiert« fing Albert zu erklären an. »In Dublin gibt es eine Postzentrale, die Überseepost und Post aus Nordirland, die für den Süden bestimmt ist, zusammenfasst und diese dann nach Cork weiterleitet. Hier wird die Post aus dem Süden Irlands nach den Himmelsrichtungen vorsortiert und dann weitergeleitet. Post für den Norden und Übersee gehen dann nach Dublin und so weiter. Die Post, die aus dem Süden kommt und für den Süden bestimmt ist wird dort zusammen mit der Post aus Dublin nach den einzelnen Postoffices der einzelnen Gemeinden sortiert und in Jutesäcke gepackt, so wie diese hier« Albert zeigte auf einen neben sich liegenden Sack.

»Unsere Aufgabe ist es nun, die Post zu seinem Empfänger zu bringen. Hinter dem Tisch siehst du viele Fächer, die für die verschiedenen Orte stehen, in die wir die Post liefern. Mittlerweile kenne ich alle Einwohner der Orte mit Namen, daher fällt es mir leicht die Post schnell zu sortieren. Du wirst dafür wohl etwas länger brauchen, daher schlage ich vor, wir teilen uns vorerst die Arbeit. Wir sortieren die Post gemeinsam und jeder teilt danach die Hälfte wieder aus. Wir packen dir die Briefe in die Reihenfolge, in der die Leute wohnen. Dann hast du es etwas leichter. Eines musst du mir aber versprechen. Bei jedem Brief, den du abgibst, achtest du auf den Namen des Empfängers« schloss Albert seine Einführung in den Beruf des Postboten.

Die eingehende Post, die die Einwohner von Glengarriff an der Poststelle abgaben, wurde von Alberts Frau Annabelle bearbeitet. Sie war den ganzen Tag über in der Poststelle und nahm die Post entgegen, sortierte diese bereits in die Postsäcke für Dublin und Cork und half meistens mit, wenn es darum ging, die Post für Glengarriff zu sortieren. Nebenbei betrieb sie noch einen kleinen Kaufmannsladen, der von den Einwohnern oft auch als Treffpunkt zum Reden genutzt wurde.

Am Anfang hatte Charly Angst, dass er sich die Namen aller Einwohner nicht merken könnte. Immerhin gab es in allen Ortschaften zusammen etwa dreitausend Menschen und er konnte sich nicht vorstellen, irgendwann mal jeden namentlich zu kennen. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, wie Albert es bisher geschafft hatte, die ganze Post alleine auszuteilen.

Zu Beginn sortierte Charly die Post nach Straßen und Hausnummern. Während er die Post aber austrug, erkannte er schnell, dass es hier und da Abkürzungen gab und er deswegen die Post nach dem Weg, den er gehen würde, sortieren müsste. »Das war also der Hintergrund, warum Albert die Post so sortierte«, dachte Charly.

Albert freute sich über Charlys Hilfe. Auch wenn er am Anfang kaum Arbeit abnahm, so zeigte sich doch schnell, dass zumindest das Austragen der Post für Albert schneller ging. In den ersten Wochen trug Albert die Post für alle Ortschaften bis auf Glengarriff aus, welche Charly übernahm. Er sollte zu Beginn Glengarriffs Einwohner kennenlernen. Bereits nach drei Wochen übernahm Charly dann den nächsten kleineren Ort namens Adrigole. Nach dem Austragen trafen sie sich immer in der Poststube zu einem Tee mit Annabelle und erzählten sich die neusten Geschichten aus der Gegend. Als Postbote, so lernte Charly schnell, erfährt man oftmals mehr, als irgendwo zu lesen war. Jeder wusste wieder etwas Neues über den Anderen. Nach der gemütlichen Runde zu dritt gingen Albert und Charly nach hinten in den Sortierraum und begannen, die Post für den nächsten Tag vorzubereiten.

Das Sortieren der Post fiel Charly am schwersten. Er bewunderte Albert, wie schnell dieser das machte. Er hatte kaum auf den Brief geguckt, da lag dieser auch schon im richtigen Fach. Charly brauchte dagegen bestimmt dreimal so lange für einen Brief. Auch hatte er oft Schwierigkeiten, überhaupt die Handschrift zu entziffern. Dann musste er Albert fragen und dieser erkannte meist bereits an der Handschrift, von wem der Brief kam und an wen dieser gehen sollte.

»Es sind doch immer die gleichen, die die Briefe schreiben. Und es sind auch immer die gleichen, die die Briefe dann erhalten« sagte Albert. »Du wirst bald sehen, auch dir werden irgendwann die Handschriften immer bekannter werden.«

So vergingen einige Monate, in denen Charly auch noch die anderen Ortschaften kennenlernte und sich mit Albert die Arbeit teilte. Auch konnte er bald die ersten Tage alleine arbeiten. Albert nahm sich nun ab und zu einen Tag frei, um seine Verwandtschaft besuchen zu fahren. Es war schon immer aufregend für Charly, wenn er ganz alleine in dem großen Sortierraum stand und die Arbeit vorbereitete. Aber zum Glück war Annabelle immer da und kümmerte sich auch weiterhin um die Post aus dem Ort und half auch immer Charly bei der Sortierarbeit, wenn sie konnte.

Auf dem Hof war während dessen nicht viel passiert. Nur Claris hatte jetzt auch eine Anstellung angenommen. Sie half bei einem Tierarzt aus, um sich später besser um die Tiere auf dem Hof kümmern zu können. Charly staunte über diesen Eifer der Familie. Es war für ihn beeindruckend, wie sehr hier alle zusammenhielten und wie sehr sich jeder für den Hof einsetzte.

Wenn man sich abends traf und Charly oft noch mithalf, Feuerholz zu schlagen oder das Essen vorzubereiten, dann erzählte er immer den neuesten Klatsch aus dem Ort. Alle freuten sich auf die abendlichen Geschichten, sodass jeder nun doch meinte, Charly würde einen guten Beruf erlernen.

Eines Tages, beim Sortieren der Post, fand Charly einen Brief in dem Haufen auf dem Tisch, der ihm merkwürdig vorkam. Auf dem Brief stand zwar ein Name geschrieben, allerdings gab es hierzu keine Anschrift. Nur Alberts Name stand darunter. Da Charly den Namen des Empfängers nicht kannte, fragte er Albert, ob er wohl wüsste, an wen der Brief gehen solle, da ja auch sein Name darauf stand. Albert nahm den Brief aus Charlys Hand und sah Charly einige Sekunden lang tief in die Augen, als ob er ihm etwas sagen wollte.

»Ja, der ist an einen Freund gerichtet. Ich bringe ihn nachher vorbei« sagte Albert und steckte den Brief in die Tasche seiner Jacke und sortierte weiter. Irgendwie kam Charly Alberts Verhalten komisch vor. Auch war er danach nicht mehr so gesprächig wie vorher. So standen sie schweigend nebeneinander und sortierten noch einige Zeit die Post, bevor sie beide Feierabend machten und Charly nach hause ging.

Zuhause angekommen musste Charly noch lange an den Brief denken. Es interessierte ihn brennend, für wen dieser Brief war und woher er kam, er wusste nur nicht, wie er Albert darauf ansprechen sollte. Beim Essen erzählte er den anderen von seinem Erlebnis. Keiner zeigte sich so richtig überrascht, was wiederum Charly überraschte. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass ihr euch alle mit mir wundert. Anscheinend wisst ihr aber mehr über Albert als ich« sagte Charly.

»Wenn ich Albert im Ort getroffen habe, hat er mich immer überfreundlich gegrüßt und sich dann schnell weggedreht. Ich weiß nicht, aber ich fand ihn schon immer komisch.« sagte Steven.

»Ich habe ihn mal im Wald beobachtet, wie er mit sich selbst gesprochen hatte« sagte Jim. »Es war echt unheimlich. Wenn er nur gemurmelt hätte, dann wäre es ja noch okay gewesen, aber er hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt, sich eine Pfeife angezündet und dann genüsslich eine Pfeifenlänge lang geredet. Der ist auf jeden Fall komisch.« fuhr er fort.

»Albert ist schon immer ein Mensch gewesen, der Geheimnisse für sich behalten konnte« sagte Dan ernst. »Viele im Dorf halten ihn für exzentrisch, einige vermuten sogar er sei wahnsinnig. Ich dagegen glaube, dass er nichts ohne Grund tut und wenn er mit sich selbst spricht, dann hat er dafür seine Gründe.«

»Ich denke von den Gerüchten aus dem Ort sollte man nicht allzu viel halten. Auch denke ich, dass Albert seine eigenen Gründe hat, sich so zu verhalten, wie er es tut« sagte Claris »Wir Geschwister kennen ihn schon seit unserer Geburt. Dad, du kennst ihn noch länger. Und immer war er da. Jeden Tag hat er uns die Post gebracht und ich kann mich nicht daran erinnern, dass er auch nur einmal krank war. Albert ist der loyalste Mensch, den ich mir vorstellen kann.«

Charly war erstaunt, dass solch eine Diskussion losbrach. Auch hatte er nie etwas von Gerüchten über Albert gehört. Vermutlich hatten die Leute Angst etwas über Albert zu sagen, da Charly sie ja bei Albert hätte verraten können.

»Charly, wenn du wirklich wissen willst, was es mit dem Brief auf sich hat, dann frag ihn einfach. Dann kann Albert selbst entscheiden, ob er dir antworten möchte oder nicht.« schlug Claris vor. Dieses schien eine durchaus sinnvolle Idee zu sein, daher nahm sich Charly für den nächsten Tag fest vor, Albert noch mal auf den Brief anzusprechen.

Am nächsten Morgen spürte er vor lauter Aufregung ein Kribbeln im Bauch. Als er im Posthaus eintraf, war er allerdings alleine. Er sah sich um und bemerkte, dass Alberts Tasche fehlte. Albert war also schon losgefahren. Sie hatten vor einigen Tagen die Ortschaften untereinander aufgeteilt, sodass jeder nur die Hälfte der Post austeilen musste. Charly blieb somit nichts anderes übrig, als bis zum Nachmittag zu warten. Er nahm sich seine Taschen und verließ das Haus. Draußen belud er damit den zweiten Wagen und begann mit seiner Tour. Den ganzen Tag über versuchte er besser auf die Aussagen der Leute zu achten. Er hatte sich erhofft von dem einen oder anderen etwas erfahren zu können. Doch leider waren alle nur kurz angebunden und man wünschte sich lediglich gegenseitig einen guten Tag. Am Nachmittag, als er seine Post vollständig verteilt hatte und wieder zurück war, traf er endlich auf Albert. Der stand bereits am Sortiertisch und war schwer damit beschäftigt, die Post für den nächsten Tag zu sortieren. Charly stellte sich neben ihn, begrüßte ihn kurz und fing ebenfalls an, die Briefe zu sortieren. Albert war, so wie gestern nach dem Zwischenfall, immer noch nicht sehr gesprächig.

»An wen ging der Brief von gestern« fragte Charly?

Albert drehte sich zu Charly um und sah ihm wieder tief in die Augen. Mit seiner brummigen und ruhigen Stimme antwortete er nur: »Das kann ich dir im Moment noch nicht sagen, aber später wirst du es erfahren« und das war alles, was Charly an diesem Tag von Albert hörte.

Die nächsten Tage waren wieder wie gewohnt. Man traf sich morgens im Posthaus und trank zusammen einen Tee, bevor man sich dann aufmachte und die Post in die Orte hinaus trug. Am vierten Tag jedoch fand Charly wieder einen Brief ohne Adresse in dem Haufen voller Briefe, doch dabei sollte es nicht bleiben. Es waren noch zwei weitere dabei, die er sogleich Albert gab. Dieser packte sie in seine Tasche und schwieg sich darüber aus.

Die merkwürdigen Briefe wurden nun zum Alltag. Jeden Tag waren sie dabei, die immer nur einen Namen trugen, nie aber eine Anschrift oder einen Absender. Charly fragte gar nicht erst nach, sondern warf die Briefe auf einen Haufen auf Alberts Seite des Tisches. Charly wunderte sich schon über die Menge an Briefen, die da lagen. Das konnte unmöglich die Post eines Einzelnen sein, dachte er. Als er Albert darauf ansprach, sah dieser nun ein, dass er nicht mehr länger schweigen konnte.

»Eines musst du mir versprechen, Charly. Du darfst das, was ich dir heute zeigen werde, niemals irgendjemanden verraten!« sagte Albert und blickte mit ruhigen Augen Charly an.

»Okay, okay, ich verspreche es natürlich, sag mir nur endlich, was mit den Briefen los ist« forderte ihn Charly auf, der sich vor lauter Neugier kaum noch halten konnte.

»Sagen werde ich es dir nicht, aber zeigen. Ich gehe davon aus, dass du auch in Zukunft die Post für unsere Gemeinde austragen wirst, daher vertraue ich dir das größte aller Geheimnisse an. Lass uns heute noch einen kleinen Spaziergang machen und die besonderen Briefe mitnehmen.«

Nachdem die Arbeit getan war, packten sich beide ihre Taschen mit den Briefen voll und gingen vor die Tür.

»Wir müssen nach links der Hauptstraße folgen.« sagte Albert. Sie gingen ein gutes Stück die Hauptstraße entlang, bis sie links in einen kleinen Feldweg einbogen. Diesem Weg folgten sie bis zum Rand des großen Waldes, der rings um Glengarriff, bis auf den Süden, der an das Meer grenzte, wuchs. Der Wald bestand hauptsächlich aus Buchen und Birken, hatte aber hier und da auch Nadelbäume, die in kleinen Gruppen standen. Es schien, als würden sie durch die Laubbäume nur an diesen Stellen geduldet. Aufgrund des Klimas, welches in dieser Gegend herrschte, gab es aber auch tropisch aussehende Pflanzen zu bestaunen. Aufgrund der warmen Meeresströmungen, die in die Bantry Bay fließen, gab es noch nie Frost in und um Glengarriff herum und das ganze Jahr über herrscht hier eine erhöhte Luftfeuchtigkeit.

»Nun sind wir da« sagte Albert leise, als wollte er niemanden durch seine Anwesenheit stören. »Nimm die Briefe aus deiner Tasche und lege sie hier unten an die Wurzel der alten Buche.«

Charly sah Albert ungläubig an.

»Was sollte das nun wieder?« dachte er, tat aber wie ihm geheißen. Auch Albert legte seine Briefe hier ab.

»Nun lass uns ein paar Schritte von hier weggehen. Wir setzen uns dort auf den umgestürzten Baum.« Albert zeigte mit seinem Finger auf einen morsch aussehenden Baumstamm, der neben ihnen lag. Sie setzten sich nebeneinander hin und Albert zog seine Pfeife aus der Tasche und fing an sie zu stopfen.

»Was machen wir hier?« fragte Charly besorgt und Albert zeigte, nachdem er seine Pfeife fertig gestopft und sie angezündet hatte auf den Stapel Briefe, der gerade imstande war sich in Luft aufzulösen.

»Aber aber aber« stammelte Charly entsetzt »was, wie, warum?« Mehr konnte er nicht sagen und starrte auf den Boden vor der Buche, wo jetzt nichts als Gras und Wurzeln zu sehen war. Albert wiederum zog genüsslich an seiner Pfeife, blies Ringe aus seinem Mund, blickte dann zu Charly hinüber und fing herzlichst an zu lachen. Charly musste wohl recht komisch ausgesehen haben, wie er da mit offenem Mund saß und den Baum anstarrte.

»Hey Albert, was ist los, gibt’s was Neues? Wen hast du denn da mitgebracht? Ist das der Neue, von dem du erzählt hast?« sagte auf einmal eine Stimme, die anscheinend aus dem Nichts kam. Charly erschrak fürchterlich, und obwohl er dachte, es könnte nichts Schlimmeres kommen als sich plötzlich in Luft auflösende Briefe, hörte er auf einmal eine Stimme. Er drehte sich in alle Richtungen um, konnte aber niemanden entdecken, von dem die Stimme hätte kommen können.

»Albert, was ist hier los?« fragte Charly eindringlich.

»Was ist hier los, was ist hier los« äffte ihn die Stimme nach »Na der ist ja nett zu seinen Kollegen« sagte sie weiter und plötzlich tauchte, wie aus dem nichts, vor den beiden sitzenden ein komisch aussehender und ziemlich klein geratener Mann auf. Er war vielleicht 1,20 Meter groß, trug eine grüne Latzhose, einen weißen Pullover und hatte eine rote Mütze auf dem Kopf. Seine Nase war rund und knollig und die Hände grob und fest. Er hatte einen Vollbart aus dunklen Haaren und unter der Mütze wucherten dunkle, dicke Locken hervor. Schuhe hatte er keine an, dafür aber ebenfalls dicke, feste Füße, die anscheinend das Laufen auf Waldboden gewöhnt waren. Er trug einen großen Rucksack auf dem Rücken und einen Beutel an der Seite.

»Ich bin Balduin« stellte sich der zuvor Unsichtbare vor »und du bist Charly?«

»Ja« antwortete Charly vorsichtig.

»Schön, dass du endlich mal in unseren Wald kommst.« sagte Balduin.

»Du, du, bist ein, ich äh, wer bist du?« stammelte Charly unsicher und wusste nicht, was er sagen sollte.

»Ich bin Balduin und bin vom Volk der Telluris. Hast du noch nie etwas von uns gehört?« fragte er Charlie enttäuscht.

»Nein, bisher noch nicht« antwortete Charly nachdenklich.

»Das ist auch kein Wunder« warf Albert ein »die Telluris machen nie etwas Auffälliges, und wenn mal etwas geschieht, womit die Menschen nichts anfangen können, dann vermuten die gleich etwas Übernatürliches. Keiner hat bisher die Identität der Telluris offenbart und es ist anzunehmen, dass das auch gut so ist.« fuhr er fort und seine Stimme erschien jetzt eindringlicher als sonst.

»Lebst du hier im Wald?« fragte Charly Balduin neugierig und nun etwas selbstbewusster, da er nun glaubte, dass Balduin ihm nichts Böses wollen würde.

»Nein. Wir Telluris leben hauptsächlich unter der Erde. Es gibt nur wenige, die in den Wäldern leben.« antwortete Balduin, während er den Rucksack abstellte. Daraufhin holte auch er eine Pfeife heraus und warf sich im Schneidersitz vor Albert und Charly auf den Boden. Er hatte eine schöne, langstielige Pfeife, die anscheinend selbstgeschnitzt war, und packte dann noch ein Päckchen mit Essen aus. Einige Minuten lang geschah gar nichts. Keiner sagte etwas, keiner gab ein Geräusch von sich. Nur Balduin hörte man auf einmal kräftig schmatzen, da er nun genüsslich ein Butterbrot aß. Charly musste erstmal das Erlebte verkraften. Er konnte noch immer nicht glauben, was er hier soeben gesehen hatte. Vor ihm saß einer, der anscheinend nicht alleine hier im Wald lebte und sich unsichtbar machen konnte.

Albert zeigte sich von alledem unbeeindruckt und Charly vermutete, dass Balduin und er sich wohl schon längere Zeit kannten.

»Gibt es was Neues zu berichten?« fragte Albert ruhig, während er sich einen Apfel aus seiner Tasche holte und diesen zum Beißen ansetzte.

»Seit gestern ist nicht viel passiert« sagte Balduin schmunzelnd »Alba hat gestern wieder ihren unbeschreiblichen Auflauf gemacht. Du musst irgendwann mal wieder zu uns zum Essen kommen. Bring doch einfach Charly mit, dann kann er die anderen auch kennenlernen. Außerdem findet bald wieder unser Sommerfest statt. Magst du dieses Jahr wieder mitmachen? Du bist herzlichst eingeladen« fragte Balduin Albert und sah ihn freudestrahlend an.

»Gerne« antwortete Albert, ebenfalls sichtlich erfreut über die Einladung »Wann ist es denn wieder soweit?«

»In vier Wochen, wenn die Sonne am höchsten steht und die Nacht noch lange hell bleibt.« antwortete Balduin.

»Gerne kommen Annabelle und ich zu eurem Fest.« antwortete Albert schnell und drehte sich zu Charly um »ich denke es ist an der Zeit, dir einiges zu erklären. Vorher musst du jedoch versprechen, dass du alles, was du bisher weißt und noch erfahren wirst, für dich behältst. Du bist ein schlauer Mensch, Charly, und wir verlassen uns darauf, dass du keinem auch nur ein Wort darüber erzählen wirst« ermahnte Albert Charly nachdringlich.

»Das würde mir doch sowieso keiner glauben« antwortete Charly abwinkend.

Albert bedachte kurz Charlys Worte und stimmte ihm mit einem Lächeln zu.

»Die Telluris sind ein Volk, das überall verstreut auf der Erde lebt« fing Albert an. »Wie Balduin schon gesagt hat, sind sie in der Lage, fast überall zu leben. Die Telluris sind Lebewesen, die in großen Höhlen leben und unter der Erde riesige Tunnel, Gänge und Hallen haben. Dort existieren ganze Städte, mit Häusern und Gemeinschaftsküchen und Badehäusern und alles, was du dir nur vorstellen kannst. Das Balduin gerade eben unsichtbar war hatte etwas damit zu tun, wie er hier her gekommen ist. Wenn sie reisen, dann verändert sich ihr Aussehen, sodass man sie fast gar nicht mehr sehen kann. Sie sind ein lustiges Völkchen und leben sehr harmonisch zusammen. Ich glaube ich habe noch nie davon gehört, dass ein Telluris von einem anderen bedroht oder sogar bestohlen hat.

Von uns Menschen haben nur wenige Kontakte zu ihnen. Hauptsächlich sind es Leute wie du und ich, die bei der Post arbeiten, denn die Telluris nutzen die Postwege der Menschen, um ihre eigene Post zu versenden.

Ich glaube du hast für heute genug über die Telluris erfahren. Wir sollten jetzt wieder gehen. Es wird langsam dunkel und wir wollen doch nicht, dass sich jemand Sorgen macht.« schloss Albert seine Einführung in das Leben der Telluris. Charly, der noch immer recht sprachlos war, nickte Albert zu, wartete aber ab, bis sich die anderen bewegten, bevor er selber aufstand. Charly konnte gerade noch so Wiedersehen sagen, als Balduin auch schon unsichtbar wurde und verschwand.

Auf dem Rückweg schwiegen sie sich gegenseitig an. Charly dachte die ganze Zeit über das nach, was er soeben gesehen hatte. Schritt für Schritt ging er die letzte Stunde noch mal durch. Hatte er Halluzinationen oder war dass die Wirklichkeit? Er sah Albert an. Dieser grinste nur zurück und sagte:

»Das erste Mal ist es immer komisch. Man glaubt alles zu wissen und zu kennen und dann passiert so was! Aber glaub mir, es ist eine Bereicherung, wenn man sie erstmal besser kennengelernt hat. Es ist schön, dass du nun endlich Bescheid weißt, ich hatte echte Schwierigkeiten die Briefe vor dir geheim zu halten. Annabelle hatte immer schon vorab die Postsäcke durchsucht und die Briefe an die Telluris aussortiert, aber dann hat sie wohl mal einen übersehen. Und ausgerechnet den hast du dann gefunden.

Aber früher oder später hättest du es sowieso erfahren. Denn wenn du mal in meine Fußstapfen trittst und die Post übernimmst, spätestens dann hättest du Balduin und seine Leute sowieso kennengelernt.«

Jetzt war Charly gänzlich geschockt. Er sollte die Post übernehmen? Er machte den Job doch nur, um auch noch was anderes außer dem Hof kennenzulernen und etwas anderes zu können, falls es auf dem Hof mal nicht so gut laufen sollte. Und nun sprach Albert von seiner Zukunft, über die er selbst bisher nie nachgedacht hatte. Wollte er das? Wollte er nun den Rest seines Lebens Briefe austragen? Nein, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Außerdem, wie sollte er das dann mit der Annahme der Briefe aus dem Ort machen? Albert hatte ja seine Frau, aber er hatte nur sich. Vielleicht könnte man die Poststelle in den Hof verlegen, dachte er, da ist immer jemand, der die Briefe entgegennehmen könnte. Aber konnte man es den Leuten aus dem Dorf zumuten, immer raus auf den Hof zu kommen, um die Post abzugeben? Vor allem die Älteren wären dann benachteiligt. Charly ertappte sich dabei, wie er bereits Pläne schmiedete, um später mal die Post zu übernehmen, obwohl er bis vor 10 Minuten gar nicht daran gedacht hatte, überhaupt die nächsten Jahre Post auszutragen.

»Ich bin nicht mehr der Jüngste und Annabelle und ich planen seit einiger Zeit, uns zur Ruhe zu setzen. Wir haben noch woanders ein Haus mit einem großen Garten« Albert stockte »nein, jetzt erzähle ich dir schon das, was ich den Anderen auch immer erzähle. Nein, wir wollen zu den Telluris ziehen und dort den Rest unseres Lebens verbringen.«

Charly staunte nicht schlecht über diese Neuigkeit.

»Wir Menschen können also tatsächlich dahin, wo die Telluris leben?« fragte Charly ungläubig, denn er konnte sich nicht vorstellen unter der Erde zu leben und sich dort genau so frei zu fühlen wir hier an der Oberfläche.

»Ja. Sie leben ja auch im Wald aber die, die unter der Erde leben, können durch versteckte Eingänge von uns Menschen besucht werden. Die Telluris brauchen diese Eingänge allerdings nicht. Es gibt Stellen, an denen sie mit Strömungen, die durch die Erde laufen, mitfließen können. Für uns Menschen ist das allerdings nicht so toll. Wenn man einen Telluris dabei berührt, wenn er sich auf die Reise begibt, dann wird man mit ihm mitgezogen. Danach hat man zwei Tage lang den Geschmack von Erde im Mund!« lachend bog Albert nun in die Hauptstraße ein. Charly folgt ihm und war nun verwirrt und fasziniert zugleich.

»Wann werden wir Balduin wieder sehen?« fragte Charly neugierig.

»Oh, ich sehe ihn jeden Tag. Er ist sozusagen der Postbote bei den Telluris und ich bringe ihm jeden Tag die Post in den Wald. Er ist nicht wirklich der Postbote, sondern er lagert bei sich die Post und die anderen kommen bei ihm vorbei und holen sich ihre Briefe ab. Dabei nimmt dann einer die Briefe für sein Wohnviertel mit und bei ihm werden diese dann wieder abgeholt und so weiter und so weiter. Wenn du magst, kannst du morgen wieder mitkommen.«

Da sie jetzt am Postgebäude angekommen waren, trennten sich nun ihre Wege. Sie verabschiedeten sich kurz und Albert ermahnte Charly erneut, zu schweigen, drehte sich dann um und schloss die Tür hinter sich zu. Charly war nun sichtlich genervt von diesen dauernden Ermahnungen. Er war schließlich kein Kind mehr und hatte bereits beim ersten Mal verstanden, was Albert meinte.

Im Gedanken versunken kam er schnell am Hof an. Hier erwartete ihn bereits ein herrliches Abendessen, was ihn schnell wieder besser stimmte. Claris fragte Charly noch, warum er heute so spät kam, doch der winkte nur ab und sagte, dass heute besonders viel zu tun war. Es tat ihm Leid, dass er Claris anlügen musste und es lag ihm auf der Zunge, das zu erzählen, was er heute erlebt hatte, aber er besann sich auf sein Versprechen und schwieg lieber.

Claris dagegen wollte sich mit der Antwort nicht zufriedengeben. Sie spürte, dass da noch mehr hinter steckte als nur viel Arbeit, aber sie konnte noch so viel nachbohren, sie bekam aus Charly kein Wort mehr heraus.

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