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Die unterirdische Stadt

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Claris hatte den ganzen Tag wieder bei Collin Earls, dem Tierarzt, verbracht. Sie war zwar erst seit drei Monaten dabei, konnte dem Tierarzt dennoch bei vielem assistieren und auch einige Aufgaben selbständig übernehmen. Er freute sich eine so wissensdurstige und fleißige Schülerin zu haben. Oftmals bedauerte er, dass sie nicht, so wie er, in Dublin oder in Oxford studieren wollte. Sie war, wie Dan, der Meinung, dass ein Studium unnütz sei und nur durch praktische Erfahrung ein Handwerk gelernt werden kann. Da Collin Earls der Meinung war, dass Claris eindeutig das Potential dazu hatte, eine gute Tierärztin zu werden, beschloss er, ihr soviel beizubringen, wie es ihm nur möglich war. Er nahm Claris sogar zu Vorträgen und Lehrgängen mit. Getarnt als persönliche Assistentin, da eigentlich immer nur studierte Ärzte zugelassen waren, konnte er Sie überall mit hinnehmen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

Sie freute sich immer wieder darüber, dass nun auch sie eine Ausbildung außerhalb des Hofes machen konnte. Sie verspürte seit einiger Zeit einen kleinen Anflug von Neid, wenn Sie ihre Brüder betrachtete und zusehen musste, wie sie sich entwickeln konnten. Andererseits hatte sie selbst den Ausbildungen von Steven und Jim zugestimmt und immer beteuert, dass sie auf dem Hof bleiben und keine Lehre machen wolle, zumal sie die jüngste der Geschwister war. Mit der Zeit hatte sie aber gesehen, dass es ihren Brüdern anscheinend Spaß bereitete und sie hatte durch die vielen Erzählungen und Geschichten immer mehr das Bedürfnis bekommen, auch etwas anderes machen zu wollen.

Charles freute sich für Claris. Er konnte förmlich beobachten, wie sie jeden Tag dazulernte und immer fröhlicher und munterer wurde. Er empfand sie vorher nicht als traurig oder langweilig, doch hatte sie sich durch die Anstellung bei Collin Earls stark verändert. Oft saßen nun beide abends zusammen und Charles ließ sich von Claris ihre neuesten medizinischen Erkenntnisse und Erlebnisse berichten, was er überaus interessant fand. Vor allem war er erstaunt, dass sich Claris alles so gut merken konnte. Er selbst hielt es für unmöglich, sich die ganzen lateinischen Namen und Begriffe zu merken. Auch welche Dosierung eines Medikamentes bei welcher Körpergröße und welchem Gewicht eine bestimmte Wirkung erzielte, wusste Claris auswendig. Sicherlich kannte sie noch nicht alle, aber alle die, die bereits durch Collin Earls verwendet wurden. Collin erklärte ihr immer die Eigenschaften sowie die Nebenwirkungen der Medikamente, die er verabreichte. So konnte sich Claris eines nach dem anderen merken.

Da sich Charly und Claris regelmäßig abends trafen und ihre Erlebnisse austauschten, hatten sie sich gut kennengelernt. Deswegen kam ihr wahrscheinlich auch Charlys Verhalten sehr merkwürdig vor, als er so spät nach Hause kam und als Begründung, die viele Arbeit angab. Sie hatte gespürt, dass es eine Ausrede war.

Als Charly am nächsten Morgen zur Arbeit gehen wollte, fing ihn Claris in der Eingangsdiele ab.

»Guten Morgen Charly« begann sie und versuchte natürlich zu klingen.

»Guten Morgen« erwiderte Charly träge. Er hatte kaum geschlafen und stattdessen die halbe Nacht an Balduin denken müssen.

»Hast du gut geschlafen?« fragte in Claris.

»Ich bin hundemüde« antwortete Charly »Ich konnte irgendwie die halbe Nacht nicht schlafen«

»Du hast wohl gestern zu viel gearbeitet? Oder war es doch etwas anderes?« platzte es aus ihr heraus, obwohl sie es gar nicht sagen wollte. Charly guckte Claris einen Moment lang tief in die Augen.

»Naja« fing er an »ich musste schon an etwas von gestern denken, aber« er unterbrach sich und dachte kurz an sein Versprechen. Er wollte es Claris so gerne erzählen, aber sein Gewissen bremste ihn.

»Lass uns ein andermal darüber reden. Ich muss jetzt los« und Charly schnappte sich seine Jacke und stürzte aus dem Haus.

»Willst du gar nichts frühstücken?« rief ihm Claris nach, aber Charly winkte nur ab und lief eilig davon. Nun wusste Claris definitiv, dass er über irgendetwas nicht reden wollte. Ihre Neugier war geweckt und so nahm sie sich vor, es am Abend noch mal bei Charly zu versuchen.

»Oh verflixt« murmelte Charly vor sich hin, als er auf dem Weg zur Poststation war. »Wie gerne man doch ein Geheimnis ausplaudern möchte.«

Bei der Post angekommen, fing alles wieder in gewohnter Form an. Man trank zusammen eine Tasse Tee und danach machte sich jeder daran, die Post zu verteilen. Gegen Mittag trafen sich Albert und Charly wieder am Sortiertisch.

»Annabelle und ich haben gestern noch lange über unsere Zukunft gesprochen.« sagte Albert. »Du weißt schon, wegen unseres Ruhestandes und dass wir dann von hier wegziehen wollen. Wir haben uns gefragt, wie du darüber denkst und ob du vielleicht die Post irgendwann übernehmen möchtest«

Charly brauchte einen kleinen Moment, ehe er antwortete. Genau das hatte er sich seit gestern auch immer wieder gefragt. Er war doch erst 21 Jahre alt. Konnte er da schon so eine Verantwortung übernehmen? Charly war klar, dass er das nicht beantworten konnte. Nachdem er nichts sagte, zeigte Albert sich verständnisvoll.

»Ich habe mir schon gedacht, dass du mir darauf nicht antworten würdest. Ich glaube du denkst, du seiest zu jung, um jetzt schon zu bestimmen, was du dein Leben lang machen möchtest. Das kann ich gut verstehen. Mir ging es damals auch nicht anders. Denk in Ruhe darüber nach und wenn du zu einem Entschluss gekommen bist, dann lass es mich wissen.«

Inzwischen hatten sie die Briefe fertig sortiert und Albert fing an, seine Tasche mit der Post für die Telluris zu füllen.

»Kommst du mit?« fragte er Charly.

»Ja, gerne« antwortete dieser freudestrahlend. Er hatte sich seit gestern nichts anderes gewünscht.

Sie gingen die Hauptstraße entlang und da Charly bereits den Weg kannte und er sich darauf freute Balduin wieder zu sehen, bestimmte er nun das Tempo. An der Buche angekommen, klopfte Albert leicht gegen ihren Baumstamm und kurze Zeit später erschien Balduin vor ihnen. Die Briefe packten sie nun direkt in seinen Rucksack und Balduin zeigte sich erfreut, dass Charly wieder dabei war.

»Schön, dass du mitgekommen bist. Ich war gestern noch bei Albert und Annabelle und da haben wir über die Zukunft gesprochen.« begann Balduin. Charlys Stimmung schlug schlagartig um. Wieso unterhielten sich alle über seine Zukunft? Warum wurde er dazu nicht eingeladen? Seine Meinung musste doch auch von Interesse sein, dachte er.

»Schön« grummelte er nun vor sich hin.

»Albert hatte dir ja erzählt, was er vorhat und ich dachte, du möchtest vielleicht erst mal alles sehen, bevor du dich entscheidest?« fragte Balduin unbeeindruckt von Charlys Reaktion.

»Was meinst du mit: Alles?« fragte ihn Charly.

»Ich meine damit die Welt der Telluris. Wenn du magst, dann kannst du gleich mit zu mir kommen und dir alles angucken.«

Charlys Missstimmung verschwand sofort und wich einem freudestrahlenden Lächeln. Seit gestern hatte er an nichts anderes mehr denken können und er hatte sich gewünscht, möglichst bald mal mitgehen zu können. Er hatte sich viele Gedanken gemacht und sich gefragt, wie es bei ihnen wohl aussehen mag, aber so richtig vorstellen, konnte er sich nichts.

»Ja gerne« antwortete er etwas zurückhaltend. Er schämte sich seiner Reaktion, die er eben noch zutage gelegt hatte.

»Albert, kommst du auch mit?« fragte Balduin.

»Nein danke, Annabelle wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich.« antwortete Albert »Aber ich wünsche euch viel Spaß.« Nachdem Albert seinen Stapel Briefe an Balduin gegeben hatte, verabschiedete er sich kurz und winkte beiden beim Weggehen über die Schulter zu.

»Möchtest du über den geheimen Eingang im Wald zu uns kommen oder sollen wir es mal mit Fluxen versuchen?«

»Fluxen musste das Mitfließen mit den Strömungen sein, von dem Albert erzählt hatte. Man soll ja danach nichts als Erde schmecken, aber was soll’s, ich will jetzt sehen, wie es da unten aussieht und nicht erst noch eine halbe Stunde durch den Wald laufen« dachte Charly.

»Lass uns fluxen« antwortete er also.

»Gut, dann halt dich an meiner Hand gut fest und atme noch mal tief ein.« sagte Balduin. »Hast du alles?« fragte er noch, und bevor Charly antworten konnte, fühlte er schon, wie sein ganzer Körper warm wurde. Er schaute an sich herunter und sah, dass er nun auch unsichtbar war, ganz wie Balduin es immer machte, denn anstatt seines Körpers sah er nun nur den Waldboden. Und bevor er Balduin fragen konnte, wie er das gemacht hatte, spürte er einen Ruck an der Hand, mit der er sich an Balduin festhielt, und es wurde plötzlich dunkel vor seinen Augen.

Es hat nicht mehr als einige Sekunden gedauert und es wurde wieder hell vor Charlys Augen. Sie fanden sich in einer kleinen Höhle wieder, welche durch etwas an der Decke hell erleuchtet war. Durch das Licht konnte Charly die Felswände erkennen, in die die Höhle geschlagen wurde.

»Wie geht’s dir?« fragte Balduin. Sie waren nun beide wieder sichtbar und trotzdem spürte Charly immer noch eine wohlige Wärme.

»Mir geht’s gut« antwortete er. »Aber es stimmt, man hat das Gefühl als hätte man Sand gegessen.«

Balduin musste lachen. »Ja, so schmeckt Waldboden. Warte erstmal ab, bis wir durch einen frisch gedüngten Acker fluxen«

Charly wollte es sich lieber nicht vorstellen und verzog ekelerfüllt das Gesicht.

»Gut, dann lass uns gehen« Balduin zeigte auf eine massiv aussehende Holztür an der Wand, die Charly bei seiner ersten Begutachtung des Raumes nicht aufgefallen war. Er war gespannt, was ihn dahinter erwartete, denn was er bisher sah, fand er wenig aufsehenerregend. Er hatte sich gedacht, dass die Telluris irgendwie spektakulärer wohnen würden.

Balduin öffnete die Tür und sie beide traten hinaus in ein unglaubliches Getümmel von Telluris und Tieren. Sie standen am Rande einer, so wie es aussah, Hauptverkehrsstraße, die etwa so breit war, dass vier Fuhrwerke nebeneinander Platz hatten. Als Charly sich umsah, konnte er neben der Straße auch Bäume erkennen. Hinter diesen schien aber die Tunnelwand zu sein, da er stellenweise durch das Laubwerk Felswände sehen konnte. Er blickte nach oben und konnte in weiter Ferne die Decke des Tunnels ausmachen. Sie war etwa doppelt so hoch wie ein Haus und er konnte in regelmäßigen Abständen die Leuchtquellen sehen, die alles in ein helles und warmes Licht tauchten.

»Wieso ist es hier unten so hell und warum wachsen hier Bäume« fragte er Balduin.

»Sieh mal da oben an der Decke. Da sind überall Luminakristalle, die das Licht abgeben. Hier, sieh mal« sagte Balduin und drückte Charly einen kleinen Luminakristall in die Hand. »So einen trägt jeder von uns bei sich. Man weiß ja nie. Wenn du ihn mit einem Tropfen Wasser beträufelst, notfalls geht auch deine Spucke, dann fängt er zu leuchten an.«

An einigen Stellen der Höhle lief Wasser an den Wänden herunter, stellenweise waren es sogar kleinere Wasserfälle, und Charly ging zu einem hin, um den Kristall auszuprobieren. Er hielt seine Hand unter ein kleines Rinnsal und ließ dann einen Tropfen Wasser von seiner Hand auf den Kristall tropfen. Dieser fing sofort so hell an zu leuchten, dass es ihn blendete und er die Augen schließen musste.

»Siehst Du, ganz einfach. Das Beste ist aber, dass es hier unten immer irgendwo Wasser gibt und wir die Kristalle nur irgendwo anbringen müssen. Fortan Leuchten sie, bis man sie wieder abnimmt.« Charly stand mit offenem Mund da und staunte nicht schlecht.

Auf der Straße konnte er nun Holzkarren erkennen, die von Ochsen oder Pferden gezogen wurden. Auch sah er viele Telluris, die zu Fuß, mit der Kutsche oder auf laufradähnlichen Gestellen mit drei Rädern unterwegs waren. »Komm, wir müssen hier entlang« sagte Balduin und zeigte nach rechts die Straße hinunter und ging los. »Wir kommen übrigens gerade aus einem Fluxraum. Die findest du hier überall und zwar da, wo die besten Strömungen herrschen.«

»Wie viele Telluris leben hier unten?« fragte ihn Charly und folgte Balduin, der jetzt schnellen Schrittes vorwärtsging.

»Meinst du insgesamt oder hier in Eboris?«

»Was ist Eboris« fragte ihn Charly zurück.

»Eboris ist die Stadt, in der ich wohne. Da leben etwa fünftausend Telluris. Weltweit sind wir aber einige Millionen, wie man vermuten darf. Wir haben uns bisher noch nicht gezählt, aber ich habe schon viele Reisen unternommen und wesentlich größere Städte gesehen als Eboris es ist« antwortete er und ging nun rechts von der Straße ab. Hier war anscheinend eine kleinere Nebenhöhle, die über und über mit Bäumen und Grünflächen bewachsen war. Charly sah sofort eine kleine Kutsche an dem ein Pferd angespannt war. Das Pferd war gerade noch beim Gras essen, als es von Balduin freudestrahlend begrüßt wurde. Es schien sich zu freuen, ihn wieder zu sehen, denn es blickte sofort auf, als es Balduin hörte, und fing kräftig zu wiehern an. »Den restlichen Weg fahren wir. Steig ein« sagte Balduin und schwang sich auf das Gespann.

Auf dem Weg in die Stadt kamen ihnen viele andere Kutschen entgegen und jeder, der Balduin und Charly auf der Kutsche sitzen sah, grüßte die beiden. »Es fällt immer sofort auf, wenn uns ein Mensch besuchen kommt« sagte Balduin und jetzt bemerkte Charly erst, dass er ja viel größer war als alle anderen.

Sie fuhren etwa zehn Minuten die Straße entlang und Charly bemerkte, dass die Wände an den Seiten immer weiter zur Seite wichen und der Tunnel anscheinend immer größer wurde.

»Jetzt sind wir gleich da« sagte Balduin, und lenkte das Gespann rechts in einen abzweigenden Tunnel. Dieser war nun nicht mehr so groß und flößte Charly ein wenig Angst ein. Die Wände waren grau und kalt und es gab nur wenig Beleuchtung. Sie fuhren durch eine weit gezogene Kurve und Charly konnte sehen, dass es immer heller zu werden schien. Mit einem Mal wurde es taghell und sie fuhren in eine so große Höhle, wie ein Mensch sie wohl noch nie gesehen hat. Sie fuhren eine leicht erhöhte Straße entlang, die nun bergab in die Stadt hinein führte. »Von hier aus kannst du die Stadt ganz gut überblicken« sagte Balduin »Ich bin extra hier lang gefahren, damit du Eboris mal ganz sehen kannst.«

Charly war zum wiederholten Male so baff, dass er nichts sagen konnte. Er sah Hunderte von kleinen Häusern, die aus Stein und Holz gebaut waren. Manche waren ebenerdig, manche ragten mit zwei Geschossen in die Höhe. Überall konnte er Bäume und Wälder sehen und auch hier war es wieder tag hell. Die Höhle war einfach gigantisch. Sie musste bestimmt einige Hundert Meter hoch sein und hatte einen Durchmesser von einer ganzen Stadt. Sie fuhren den Weg hinunter und hielten gleich an dem ersten Haus, was sie passierten. »Hier wohne ich.« sagte Balduin und stieg vom Wagen ab. Charly tat es ihm gleich und folgte ihm.

Balduins Haus stand in einer Reihe mit vielen weiteren kleinen Häusern, die sich alle sehr ähnelten. Gemauert waren diese anscheinend aus den Bruchstücken der Steine, die von den Telluris bei den Höhlenerweiterungen gewonnen wurden. Zwischen den Etagen der Häuser, die Fensterrahmen sowie die Fensterläden, die Türen und das Dach waren aus Holz gefertigt. Um die Häuser herum waren kleinere Gemüsegärten angelegt und es schien, als würden die Telluris nur wenig von Blumen halten.

Vor Balduins Haus war auch ein Gemüsebeet und Charly konnte aufgrund seiner Erfahrungen, die er in den letzten Jahren auf Dans Hof gesammelt hatte, erkennen, dass hier Radieschen, Kartoffeln, Karotten, Erbsen und vieles weitere angebaut wurde. Auch standen ein Apfel-, ein Birnen- und ein Kirschbaum vor dem Haus sowie mehrere Büsche mit den verschiedensten Beerensorten.

Ein schmaler Weg führte an den Beeten vorbei direkt zur Haustür. Charly folgte Balduin den Weg entlang und betrachtete die Umgebung. Es sah alles so aus, als wäre es eine normale Stadt, wie es sie überall gibt. Wie konnte so etwas unter der Erde existieren, ohne dass jemals jemand etwas davon gemerkt hatte? Wie konnte es sein, dass es hier alles so gab wie über der Erde? Bäume, Tiere, die Telluris. Das war unglaublich.

Die Tür, durch die sie das Haus betraten, führte direkt in die Küche und hier sah Charly eine Frau stehen, die anscheinend mit irgendetwas schwer beschäftigt war. »Hallo Alba, ich bin zurück und habe Besuch mitgebracht.« sagte Balduin und schloss die Tür. Alba drehte sich um und Charly blickte in ein freudestrahlendes Gesicht und ihm fiel sofort die große knollige Nase auf, wie auch Balduin sie hat. Das musste wohl ein Merkmal der Telluris sein, dachte Charly. Alba trat näher und Charly vermutete, dass Alba ihn zur Begrüßung an sich drücken wollen würde. Er bückte sich schnell runter zu ihr und tat gut darin, denn er sollte recht behalten. Sie presste ihn fest an sich und begrüßte in herzlichst in ihrem Zuhause.

»Du musst Charly sein« fragte Alba und Charly nickte. »Schön, dass du uns besuchen kommst. Baldi hat mir schon viel von dir erzählt« sagte sie weiter. Charly guckte Balduin an, welcher wiederum verlegen zum Boden guckte und sich wohl für seinen Spitznamen schämte. Charly konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und schaute sich nun ein wenig in der Küche um.

Er sah einen Ofen, der aussah wie ein normaler Kohleofen, er konnte aber keine Klappe zum Befeuern erkennen. Lediglich eine Art Schieberegler war daran angebracht. Links neben dem Ofen stand ein langer Schrank mit einer großen Arbeitsfläche. Dahinter war eine breite Fensterfront, die über die ganze Breite des Schrankes, und das war immerhin die halbe Zimmerlänge, ging und durch die ein herrliches Tageslicht einfiel. Über der Arbeitsfläche, an der Decke angebracht, hingen viele Töpfe und Pfannen herunter, die kupferfarben und silbern glänzten. Rechts neben dem Ofen stand ein hohes Regal mit Glastüren, deren Umrandungen mit vielen Holzschnitzereien verziert waren. Inmitten des Raumes stand ein großer Esstisch, an dem sich an jeder Seite drei Stühle befanden.

Balduin ging zum Ofen auf dem gerade Wasser anfing zu kochen und nahm den Topf herunter.

»Möchtet ihr auch einen Kaffee?« fragte er die beiden und nahm vorsorglich drei Tassen aus dem Schrank neben dem Ofen. Charly und Alba stimmten zu und sie setzten sich alle an den Tisch.

»Du hast doch bestimmt viele Fragen« fragte Alba Charly.

»Ja, das stimmt. Am meisten interessiert es mich, wie es sein kann, dass es hier unten genau so aussieht, wie oben über der Erde« fing Charly an.

»Nun, ich hatte dir das mit den Kristallen ja bereits erklärt« fing Balduin an. »Die Kristalle leuchten ununterbrochen, solange wie sie von Wasser berührt werden. Das Licht, was sie ausstrahlen, ist dem der Sonne sehr ähnlich und deswegen wachsen die Pflanzen alle so gut. Da keiner Lust hat, die Kristalle immer wieder abzunehmen, um Sie am nächsten Tag wieder anzubringen, leuchten die Kristalle einfach durchgehend. Zudem kommt noch die permanent gleich bleibende Wärme und Luftfeuchtigkeit. Dadurch kann man hier fast alles anbauen, was es bei euch auch gibt. Das Gemüse wächst sogar so gut, dass wir uns mit dem, was wir anbauen selbst versorgen können. Die Wälder, die bei uns wachsen, wurden von uns angelegt, um frische Luft zu haben. Da es nur wenige Schächte nach oben zur Oberfläche gibt, müssen wir zusätzlich für Sauerstoff sorgen. Es ist also nicht nur schön, sondern auch nützlich. Ja und was das Wasser angeht, das frischeste und sauberste Wasser kommt hier einfach aus der Wand.« sagte Balduin freudestrahlend.«

»Wie tief sind wir hier?«

»Wir sind in etwa eintausend Meter Tiefe« antwortete Balduin und schenkte allen noch mal Kaffee nach.

Charly staunte nicht schlecht. Soweit er sich erinnern konnte, waren sie doch nur wenige Sekunden unterwegs gewesen und nun sollen sie tausend Meter unter der Erde sein?

»Bleibst du noch zum Essen?« fragte Alba. Sie stand auf und war schon auf dem Weg zum Herd, als Balduin sie bremste.

»Ich denke, Charly sollte uns bald wieder verlassen. Es ist schon spät und er sollte zuhause so wenig Verdacht wie möglich erregen.«

Charly wollte zwar noch nicht gehen, sah aber ein, dass Balduin recht hatte. Sie tranken noch ihren Kaffee aus und dann machten Sie sich beide wieder auf dem gleichen Weg zurück, wie sie gekommen waren. Als Balduin das Gespann die Straße hinauf führte, blickte sich Charly noch mal um und träumte bereits davon, möglichst bald wiederzukommen. Sie fuhren wieder den Hauptverkehrstunnel entlang bis zu der Lichtung, die sich nun als ausgewiesener Parkplatz darstellte. Zu Fuß ging es dann weiter zu dem Fluxraum, von dem sie gekommen waren und Balduin brachte Charly hoch zur Oberfläche. Oben angekommen war es bereits dunkel und Charly wurde klar, dass er gar nicht wusste, wie lange er bei den Telluris war.

»Hier, nimm den Kristall, dann kannst du im Wald was sehen. Du kannst ihn mir morgen wiedergeben« sagte Balduin und drückte Charly den Kristall in die Hand. Kaum hatte Charly ihn in der Hand da verschwand Balduin auch schon winkend vor seinen Augen ins Nichts.

Zuhause angekommen sah er Claris und Jim in der Küche am Ofen sitzen. Sie unterhielten sich angeregt über etwas und unterbrachen, als Charly eintrat. »Na du hast dir ja einen tollen Job ausgesucht« sagte Jim. »Ihr seid schon zu zweit und müsst trotzdem bis in die Nacht hinein arbeiten. Vielleicht solltet ihr euch noch jemanden suchen, der mithilft.«

»Wir haben dir noch was zum Essen übrig gelassen, falls du Hunger hast.« viel Claris ihrem Bruder ins Wort.

»Keine dummen Fragen«, stellte Charly im Gedanken fest und genau das war es, was er sich gewünscht hatte. Er freute sich über die Reaktion der beiden so sehr, dass er sich nun, sichtlich erleichtert, zu den beiden setzte und endlich mal durchatmen konnte. Auf dem Ofen stand ein Topf, aus dem der herrliche Duft von heißer Schokolade strömte. Charly stand wieder auf um sich eine Tasse zu holen, als ihm ein leichtes Schimmern aus seiner Jackentasche auffiel! Es war der Kristall, der immer noch leuchtete. Schnell zog er seine Jacke aus und rollte sie so zusammen, dass der Kristall in der Mitte der Jacke und dadurch gut eingebetet lag. Nun konnte niemand mehr das Schimmern sehen.

Im Laufe des Abends unterhielten sie sich über dies und das. Jim erzählte von einem Auftrag einen Kleiderschrank zu bauen und Claris berichtete von einer Kräutermischung, die auch größere Wunden desinfizieren konnte und eine heilende Wirkung zu haben schien.

Nach einiger Zeit gesellten sich auch Dan und Steven zu ihnen und erzählten wiederum von ihren Erlebnissen des Tages.

»Warst du mit Albert eigentlich schon im Wald?« fragte Dan und blickte rüber zu Charly.

Charly stockte der Atem. Wusste Dan etwa Bescheid? Albert hatte doch gesagt das nur Annabelle und er eingeweiht seien und sonst niemand.

»Ja« antwortet Charly knapp und musterte Dans Gesicht.

»Wieso im Wald« fragte Jim neugierig und blickte abwechselnd zu Dan und Charly.

»Da soll ein komischer Kauz leben, der sich seine Post in den Wald bringen lässt.« antwortete Dan, nachdem er kurz gezögert hatte. Er hatte kurz gewartet, um zu sehen, ob Charly die Frage beantworten würde.

Vielleicht weiß er es, dachte Charly, vielleicht aber auch nicht. Da aber die anderen auch dabei waren und sie anscheinend gar nichts wussten, dachte Charly sich nun schnell eine Geschichte aus.

»Ja, da wohnt tatsächlich jemand einsam im Wald. Albert ist jeden Tag bei ihm draußen, um ihm die Post zu bringen« sagte Charly und fühlte sich ganz wohl mit der Antwort. Wirklich gelogen war sie ja nicht.

»Ich wusste gar nicht, dass da jemand lebt« sagten Jim und Claris fast gleichzeitig. »Seit wann das denn?« fragten sie weiter.

»Ich weiß auch nicht mehr als ihr« log Charly. Es tat ihm leid, seine Freunde anlügen zu müssen. Er hätte sich gefreut, ihnen alles erzählen zu können. Und das nicht nur, weil er nicht gerne log, sondern auch, weil er ein starkes Gefühl in sich spürte, welches ihn mit aller Kraft dazu bringen wollte, die ganze Geschichte zu erzählen. Er kämpfte regelrecht gegen das Gefühl an und besann sich auf sein Versprechen, was er gegeben hatte.

Die anderen schienen mit der Antwort zufrieden zu sein, da nun keine weiteren Nachfragen mehr kamen. Stattdessen wurden die üblichen Themen des Tages diskutiert, wobei sich Charly zurückhielt und nur noch zuhörte.

Erschöpft durch den langen Tag und der anstrengenden Diskussion am Abend ging Charly früh zu Bett. Auch diese Nacht konnte er nicht richtig schlafen. Er hatte einfach zu viele Bilder vor seinen Augen, die er nun einzeln noch mal durchging. Er sah die vielen Tunnel, die so gewaltig waren, dass es ihn unwirklich vorkam. Die Stadt, die sich vor ihm ausbreitete und in einer gewaltigen Halle stand und die vielen Telluris und Tiere, die ihm auf der Straße entgegen kamen. All diese Bilder sah er nun immer und immer wieder und bald darauf schlief er doch ein.

Charly fand sich in einer Höhle mit einer Tür wieder. Er ging zu ihr hin und öffnete sie. Er sah hinaus auf eine Straße, die dieses Mal nicht befahren war. Er blickte nach links und rechts und konnte weit und breit niemanden entdecken. Er wusste nicht, wie er hier hergekommen war und ehe er sich weiter umsehen konnte, ging plötzlich überall das Licht aus.

Charly sah die Hand vor Augen nicht mehr. Auch hörte er nicht einen Laut von irgendwoher und er spürte, wie sich in ihm Panik breitmachte. Wieso war plötzlich das Licht aus und warum war hier keiner? Er versuchte zurück zur Tür zu kommen und tastete sich vorsichtig in die Richtung, die seiner Meinung nach die richtige sein musste. Er kam nicht weit. Nach wenigen Metern stolperte er über einen Stein und fiel der Länge nach hin. Als er sich wieder aufrappeln wollte, spürte er in seiner Jacke einen harten Gegenstand. Der Kristall. Er hatte ihn noch in seiner Jacke. Ihm fielen sofort wieder die Worte von Balduin ein, die ihm sagten, dass notfalls auch Spucke reiche, um den Kristall zum Leuchten zu bringen. Er befeuchtete mit seiner Zunge seine Hand, womit er den Kristall kurzum zum Leuchten brachte. Endlich Licht. Sein Herz schlug schnell und er blickte sich in alle Richtungen um, doch konnte er noch immer niemanden sehen. Plötzlich hörte er neben sich lautes Gepolter und Charly wachte auf.

Er lag nass geschwitzt in seinem Bett und sah neben sich den Kristall auf dem Boden liegen. Anscheinend hatte er ihn wohl fallen lassen, was der laute Knall war, den er in seinem Traum gehört hatte. Er blickte sich um und lauschte, um zu sehen, ob jemand den Lärm gehört hatte, es war und blieb aber zum Glück alles ruhig im Haus. Charly hob den Kristall auf und legte ihn zurück in seine Jacke. Er fragte sich, wie der Kristall wohl in seine Hand gekommen sein mag. Als er sich schlafen legte, war der noch in seiner Jacke eingewickelt und lag auf dem Stuhl am Fenster.

Charly schlief wieder ein und für den Rest der Nacht hatte er einen tiefen, traumlosen und erholsamen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte er erholt auf und freute sich auf ein stärkendes Frühstück. Durch die angeregte Unterhaltung am Vorabend hatte er ganz vergessen, noch etwas zu essen und war mit leeren Magen ins Bett gegangen. Jetzt freute er sich auf ein herzhaftes Rührei und frischen Apfelmost. In der Küche angekommen, sah er Steven und Jim am Tisch sitzen. Sie tranken beide Kaffee und hatten, den Krümeln auf dem Tisch nach zu urteilen, bereits Brote gegessen. Charly holte Eier aus der Vorratskammer und nahm sich eine Pfanne, als Steven das gestrige Thema erneut aufgriff.

»Hast du den Burschen, der im Wald lebt, mal gesehen?« fragte er.

»Ja, einmal« antwortete Charly und freute sich gar nicht, dass das Thema wieder angesprochen wurde.

»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen« fuhr ihn Steven an »Du musst doch verstehen, dass uns so etwas brennend interessiert.«

»Ich werde versuchen noch was herauszufinden« sagte Charly, um etwas Zeit zu gewinnen.

»Man, du kannst aber auch nerven« sagte Jim zu Steven. »Charly hatte doch schon gesagt, dass er nicht mehr weiß«

Charly freute sich über diesen Beistand.

»Ist ja schon gut!« antwortete Steven. »Aber das ist doch der Hammer. Wir leben seit der Geburt hier und keiner, außer Dan, wusste das es ihn gibt. Ich für meinen Teil möchte schon noch mehr erfahren.«

Charly konnte Steven gut verstehen. An seiner Stelle würde es ihm vielleicht genauso gehen, wenn er auch nicht so penetrant sein würde.

»Was macht ihr denn heute so?« versuchte Charly endlich vom Thema wegzukommen.

»Ich fange heute den Kleiderschrank an, von dem ich erzählt hatte. Ich werde heute zu den Holzhändlern fahren und sehen, dass ich irgendwo gutes Holz kaufen kann.« sagte Jim.

»Ich werde heute auf dem Hof helfen.« antwortete Steven auf die Frage. »Die eine Wand des Schweinestalls ist brüchig und wir wollen heute die Steine tauschen. Das Wetter ist gut und die Schweine können jetzt tagsüber wieder nach draußen. Außerdem müssen wir mal wieder Holz hacken, sonst wird es bald kalt im Haus.«

Charly war bereits aufgefallen, dass der Vorrat an Holzspalten zur Neige ging, jedoch hatte er in den letzten Tagen keine Zeit finden können, abends dabei noch zu helfen. Es war jetzt Ende Mai und die Tage waren bereits sehr warm. Nur abends wurde es noch empfindlich kalt und er wusste, dass bis zum Sommer noch einiges an Holz benötigt werden würde.

»Nun mach mal nicht die Pferde scheu« ermahnte ihn Jim. »Wenn wir Zeit haben, dann helfen wir auch. Nur weil du zurzeit keine Aufträge hast und stattdessen hier helfen musst, heißt das nicht, dass wir alle die Zeit dafür finden.«

Charly entzog sich der erneuten Diskussion und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Allerdings nahm er sich vor, noch am kommenden Abend auf dem Hof zu helfen. Er hatte ein schlechtes Gewissen und mochte es nicht, wenn er nicht seinen Teil zu der Gemeinschaftsarbeit beitragen konnte. Da er allerdings auch wieder zu Balduin wollte, um noch mehr über ihn und Eboris und über die Telluris überhaupt erfahren zu können, musste er heute besonders schnell arbeiten. Kaum war er angekommen, da schnappte er sich seine Posttasche und wollte gerade das Gebäude verlassen, als Albert ihn von hinten ansprach.

»Na du hast es ja heute eilig. Wollen wir gar keine Tee zusammen trinken?«

»Nein, heute nicht. Ich war doch gestern bei Balduin und hatte da einfach zu wenig Zeit und heute möchte ich gerne etwas mehr Zeit haben. Deswegen werde ich mich heute besonders beeilen.«

»Lass die Tasche hier und geh doch jetzt schon hin« sagte Albert und lächelte Charly an. »Ich habe die Post jahrelang alleine ausgetragen, da werde ich es wohl heute auch noch schaffen.«

»Danke« stammelte Charly und war baff. Daran hatte er gar nicht gedacht, dass ihn vielleicht Albert vertreten könnte. Er legte seine Tasche ab und wollte gerade den Raum verlassen, als ihm Albert hinterher rief »Klopf gegen die Buche. Es wird zwar etwas dauern, aber dennoch wird Balduin auftauchen.«

Grinsend lief er Richtung Wald. Er hatte einen ganzen Tag vor sich und trotzdem noch genug Zeit, am Abend auf dem Hof zu helfen. Besser konnte es ihn gar nicht treffen.

An der Buche angekommen, hämmerte er mehrfach mit der Faust gegen den Stamm und war nun zum Warten verdammt. Wie konnte er wissen, ob ihn Balduin gehört hatte? Sollte er vielleicht noch mal klopfen, oder noch warten? Charly entschied sich für Letzteres, denn wenn er zuhause war und das Klopfen hörte, dann brauchte er eine Weile, um zum Fluxraum zu gelangen.

Nach einigen Minuten war es dann endlich soweit und Balduin erschien direkt vor Charlys Nase.

»Was machst du denn schon hier?« fragte er Charly und er erklärte kurz, wie es stand.

»Na dann komm mal mit« sagte Balduin und griff nach Charlys Arm. Dieser spürte sofort wieder die Wärme in ihm aufsteigen, und ehe er sich versah, waren sie wieder in der Höhle, die Charly bereits kannte. Kaum angekommen wurde es Charly flau im Magen. Er musste sich an die vergangene Nacht und seinen Traum erinnern und spürte diesmal, wie Angst in ihm aufkam.

»Hattet ihr hier schon mal so was wie ein Lichtausfall in euren Tunneln und Höhlen?« fragte Charly und Balduin lachte.

»Da müsste ja das Wasser aufhören zu fließen. Nein, nein, das kann nicht geschehen. Wo es mal vorkommen kann, dass ist bei Baustellen. Die machen die Kristalle nicht ordentlich fest und dann fallen sie herunter und schon ist es stockfinster. Aber seit dem ich lebe, habe ich so was noch nicht erlebt.« antwortete er, sah aber in Charlys Gesicht, dass er nicht so fröhlich aussah, wie er es eigentlich von ihm erwartet hatte.

»Wieso fragst Du? Hast du Angst vor der Dunkelheit?«

Charly erzählte Balduin alles über seinen Traum.

»Mach dir keine Sorgen, das ist doch ganz normal. Als ich mal bei Verwandten geschlafen habe, die im Wald wohnen, konnte ich auch kein Auge zu machen. Du hast dein Leben lang den Himmel über dir gehabt und nun ist er nicht mehr da. Ich glaube, du musst dich erst noch daran gewöhnen.« In Charlys Ohren klang das plausibel und es beruhigte ihn auch ein wenig.

Sie gingen zusammen, den für Charly bereits bekannten Weg, bis zum Parkplatz. Auch heute war die Straße wieder überfüllt mit geschäftigen Telluris. Am Gespann angekommen, stiegen sie beide auf und fuhren in Richtung Stadt.

»Wie funktioniert das eigentlich mit der Buche und dem Anklopfen?« fragte Charly, während sie die Hauptstraße entlang fuhren.

»Oh, das ist ziemlich einfach. Die Wurzeln enden in einem elektromagnetischen Feld und wenn jemand dagegen klopft, dann gerät dieses Feld in Schwingungen. In meinem Haus habe ich einen Empfänger, der diese Schwingungen auffängt. So was haben alle Telluris, die mit einem Menschen Kontakt haben.« antwortete Balduin.

»Zum Glück kann man das aber abschalten, sonst gäbe es immer Alarm, wenn bei euch mal ein Sturm tobt.« fügte er noch hinzu und lachte.

Einen Moment lang schwiegen sie, bis Balduin die Stille unterbrach:

»Hast du dir denn für heute was vorgenommen?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Charly. »Ich möchte gerne noch einiges von euch und eurer Stadt erfahren«

»Gut, dann fahren wir erst mal in die Stadt« antwortete Balduin. »Du hast doch schon gefrühstückt?«

Charly erzählte kurz von seinem Frühstück mit Steven und Jim und dem Ereignis mit Dan vom Vorabend. Balduin schien davon unbeeindruckt, kommentierte es aber auch nicht weiter. Sie fuhren heute einen anderen Weg, wie Charly schnell merkte, und kamen dadurch früher am Rand der Stadt an. Leider konnte Charly diesmal nicht den wunderschönen Blick auf die Stadt genießen, worauf er sich eigentlich gefreut hatte. Doch als er die ersten Gebäude sah, war der Wunsch wie weggeblasen.

»Schau mal hier auf der rechten Seite, siehst du das große Gebäude? Das ist unser Badehaus. Wir haben zwar auch ein Bad zuhause, aber hier ist es geselliger.« Balduin zeigte zu einem großen Gebäude, welches einem griechisch-antiken Gebäude glich. Große Säulen zierten die Front des Gebäudes und zwischen den Säulen konnte Charly große Scheiben erkennen.

»Auf der linken Seite stehen Wohnhäuser, wobei eines ganz besonders ist!« sagte Balduin geheimnisvoll. Charly schaute die Straße entlang und sah zwischen den einzelnen Häusern eines stehen, was ganz besonders hervorstach. Es war höher und größer als die anderen und sah dadurch gewaltiger auch.

»Das ist das Haus von Albert und Annabelle«, klärte Balduin ihn auf. »Hier werden sie mal herziehen, wenn du die Post übernommen hast.« Es war ein schönes Haus und selbst der Garten war schon fertig eingerichtet. Alles sah danach aus, als wenn Albert und Annabelle sehr bald einziehen wollten, was Charly wiederum beunruhigte. Es erinnerte ihn wieder daran, dass er diese Entscheidung noch zu treffen hatte.

So fuhren sie quer durch die Stadt, wobei sie allerhand Häuser passierten. Hier und da waren Wohnhäuser, Gebäude, die aussahen wie Werkstätten und immer fand sich zwischendurch eine kleinere Parkanlage. Sie fuhren immer weiter in die Stadt hinein und hielten an einem großen Platz, der über und über mit kleinen Buden und Zelten besetzt war. Hunderte von roten und blauen Mützen, so wie Balduin eine trug, wimmelten dazwischen hin und her und Charly musste schmunzeln, als er dieses Treiben sah.

»Nun sind wir im Zentrum. Das hier ist unser Marktplatz. Du weißt ja, dass wir uns zum größten Teil selbst versorgen, aber wenn man mal etwas anderes essen oder haben möchte, dann kann man es hier tauschen oder auch kaufen. Hier bekommst du alles«, sagte Balduin stolz. »Eboris ist ein Knotenpunkt von Handelsstraßen und alles, was in der Welt hergestellt wir, kannst du hier bekommen. Aber komm, ich will dir noch etwas zeigen.«

Balduin ging nun schnellen Schrittes weiter und Charly hatte seine Mühe, ihm durch die Menge zu folgen. Nach einigen Minuten erreichten Sie das Ende des Marktplatzes und hatten Balduins Ziel erreicht,

»Hier verbringen wir die meiste Freizeit« sagte Balduin und zeigte mit einer schwingenden Handbewegung auf die Häuserzeile, vor der sie jetzt standen.

»Komm, lass uns mal reingehen« sagte er und ohne auf eine Antwort von Charly zu warten, hatte er bereits die Tür des ersten Hauses geöffnet. Im Eingang blieben beide stehen und Balduin erklärte, dass dieses eines der vielen Trilor-Häuser ist, die es in Eboris gibt. Charly erkannte etwa zwanzig Tische, die eine dreieckige Form hatten und zu jeder Seite mit einem Telluris oder einer Tellurin besetzt war. Ein reges Treiben bot sich den beiden in der Tür stehenden und es hatte den Anschein, als würde hier gespielt werden. Ausgestattet waren die Tische mit einem dicken, hölzernen Spielbrett, wie Charly bei näherer Betrachtung erkennen konnte. Es schien, den hier Spielenden viel Spaß zu bereiten und ausgestattet mit Krügen und Pfeifen saßen sie dort und blickten alle gespannt auf ihre Spielfelder.

»Was wird denn hier gespielt?« fragte Charly neugierig und Balduin schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn sofort sprudelte aus ihm heraus.

»Nun, wie du siehst, besteht das Spielfeld aus acht Mulden, die zu jedem Spieler ausgerichtet sind und zusammen ein Dreieck ergeben. Jeder Spieler hat seine eigenen Spielsteine, und damit meine ich auch wirklich seinen eigenen«, Balduin hielt nun ein kleines Ledersäckchen hoch, was er schnell aus seiner Tasche gekramt hatte und wedelte damit vor Charlys Nase hin und her. Balduin erklärte Charly das Spiel und schien keine der Regeln dabei auszulassen, sodass Charly bereits nach der Hälfte den Faden verlor und ihm nicht mehr folgen konnte.

»Ich glaube es gibt keinen Telluris, der dieses Spiel nicht spielt. Nur die Kleinsten von uns, und damit meine ich unsere Kinder, spielen es noch nicht, weil sie es nicht verstehen. Aber jeder fängt damit an, sobald er kann.« Balduin winkte nun in den Raum hinein und als Charly seinen Blick von dem Tisch vor ihnen aufrichtete, sah er, dass sich nun viele nach der immer noch offen stehenden Tür umgedreht hatten und den beiden eifrig zu winkten. Viele baten die beiden zu ihren Tischen zu kommen und es schien, als ob jeder Balduin kennen würde. Sogleich fiel Charly ein, dass er ja Postbote hier unten war und ihm fiel auch ein, dass es in Glengarriff auch nicht anders war, denn auch dort war der Postbote jedem bekannt. Balduin war mittlerweile zu einem Tisch weit in den Raum hinein gegangen und Charly folgte ihm.

»Hallo ihr beiden. Na Balduin, wen hast du denn da mitgebracht?« wollte einer der dort sitzenden wissen und fragte noch, ob sie eine Runde mitspielen wollen.

»Hallo! Das ist Charly. Er ist neu hier und ich bin gerade dabei, ihm unsere Stadt zu zeigen. Da musste ich natürlich als Erstes zu euch kommen.« antwortete Balduin und lächelte den Leuten zu. »Ich denke, wenn Charly nichts dagegen hat, werden wir erst mal weiterziehen« antwortete Balduin. »Aber vielen Dank für die Einladung. Vielleicht kommen wir ja heute Abend vorbei und treffen uns dann auf ein Spielchen.« er blickte nun rauf zu Charly, der wiederum gebannt auf das Spielfeld schaute. »Oder wollen wir hier bleiben und eine Runde spielen?«

Charly überlegte kurz und musste gegen seine Neugier ankämpfen. Andererseits wollte er auch gerne die Stadt weiter erkunden und so, zwischen zwei Fronten stehend, entschied er sich dann, die Stadt weiter zu besichtigen. Er machte sich Mut, indem er sich einredete, dass er das Spiel auch später noch spielen könne. Wenn auch nicht heute Abend, da ihm wieder einfiel, dass er ja noch auf dem Hof helfen wollte.

Sie verließen das Haus und gingen nach links weiter, am Rande des Marktplatzes entlang, wo noch immer reges Treiben herrschte. Neben dem Trilor-Haus war ein Kräutergeschäft, wie Charly durch die Schaufensterscheiben erkannte. In der Auslage waren allerlei Kräuter und Gewürze zu erkennen und über dem Schaufenster warb ein großes Werbeschild mit der Aufschrift „Jildrids Sonnenkräuter“ für die anscheinend von der Erdoberfläche geernteten Kräuter.

»Kauf hier bloß nichts« sagte Balduin eindringlich zu Charly. »Der erntet die Kräuter oben und fluxt dann mit ihnen hier her. Dadurch schmecken und riechen die alle nach Erde. Ich weiß bis heute nicht, wer hier einkaufen geht.«

Charly schaute durch die Schaufensterscheibe und sah einen alten, grauhaarigen und langbärtigen Telluris, der in der linken einen Mörser voller Kräuter und Gewürze und in der rechten Hand einen großen Stößel hielt, womit er kräftig rührte und drückte.

»Der mischt immer irgendwelche Tinkturen und Salben zusammen« sagte Balduin noch und ging dann weiter zum nächsten Geschäft. Sie kamen zu einer Buchhandlung, wie der Name „Zum Bücherwurm“ es erahnen ließ. Erkennen konnte Charly diesmal nichts. Durch die dick verstaubte Scheibe konnte er schemenhaft Regale erahnen, die dort bis unter die Decke standen. Auch konnte er ein großes Gestell inmitten des Raumes sehen, was er als Leiter identifizierte. Außerdem fielen ihm zwei Tellurinnen auf, die hier anscheinend arbeiteten.

»Ah« sagte Balduin plötzlich neben Charly, der dadurch von der Scheibe wegschreckte. »Sieh mal einer an, wen wir hier haben.« sagte er nun sichtlich erfreut. »Das hier ist die beste Schneiderei im ganzen Land. Komm lass uns reingehen, wir müssen dir doch noch eine Mütze besorgen.«

Charly erhaschte gerade noch einen Blick auf das Schild, welches die Aufschrift »Zur flinken Nadel« trug, ehe er von Balduin hineingezogen wurde.

»Hier kaufen Alba und ich immer die Sachen, die wir so brauchen« sagte er beim Hineingehen.

»Grüß dich, Selba« rief er beim Hineingehen einer noch, wie Charly fand, jung aussehenden Tellurin zu. Charly wusste nicht, warum er sie als jünger empfand, aber ihr Gesicht wirkte straffer und ihre Bewegungen geschmeidiger.

»Hallo Balduin, was machst du denn hier? Hast du Post für mich oder brauchst du wieder neue Kleider? Wie geht’s Alba?« sprudelte es so aus ihr heraus und Balduin fand keine Redepause, in der er hätte antworten können.

»Wen hast du denn da mitgebracht? Albert ist das aber nicht, oder täusche ich mich da jetzt so?«

»Wir brauchen« warf nun Balduin ein und man sah ihm an, dass er sich dabei unhöflich vorkam, Selba unterbrechen zu müssen »eine Mütze für unseren Freund hier« und er zeigte auf Charly. »Das ist Charly und er wird vielleicht der Nachfolger von Albert werden.«

»Wie! Ist es schon wieder soweit? Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht. Aber na gut. Komm mal her und lass dich ausmessen.« kommandierte sie zu Charly, der sich gerade noch über diese Anmerkung von Selba wunderte. Er setzte sich auf einen Schemel, den Selba ihm zurecht geschoben hatte, und glaubte nicht daran, dass sie nun an seinen Kopf heranreichen würde. Auch sie war mehr als zwei Köpfe kleiner als er.

»Was macht denn Alba?« fragte sie, während sie mit Schwung versuchte, ein Maßband um Charlys Kopf zu werfen. »Sie war schon lange nicht mehr zum Tee bei mir. Ich glaube ich muss sie mal wieder einladen, was meinst du?« fragte sie, während sie es nun nach mehreren Versuchen endlich geschafft hatte, das Maßband mit der anderen Hand wieder aufzufangen und endlich Charlys Kopf ausmessen konnte.

»Da wird sie sich bestimmt freuen« antwortete ihr Balduin.

»Hast du dich schon für eine Farbe entschieden?« fragte sie Charly, der nur den Kopf schüttelte.

»Welche Farben habe ich denn zur Auswahl?« fragte er und Selba fing an zu lachen.

»Na rot und blau natürlich, du Dummerchen« antwortete sie und blickte fragend rüber zu Balduin.

»Er ist heute erst den zweiten Tag bei uns!« sagte dieser und zog unwissend die Achseln hoch.

»Über was reden die hier? Wieso haben die denn nur zwei Farben? Die tragen doch auch buntere Kleidung« dachte Charly. Er zeigte sich aber verständnisvoll und entschied sich, ohne nachzufragen für Blau.

»Gut. Dann kommt mal in zwei Stunden wieder, dann sollte die Mütze fertig sein. Und bringt Alba mit, ich würde mich freuen, wenn ich ihre Meinung zu meinem neuesten Entwurf hören könnte«, sagte Selba und deutete auf einen Vorhang am Ende des Raumes hin, der verschlossen war und anscheinend noch einen Raum verbarg.

»Das können wir dir leider nicht versprechen, wir wollen noch die Stadt weiter erkunden und Alba ist zuhause. Aber wir werden es versuchen.«

Sie verließen die Nähstube und traten hinaus ins Freie. So ging es nun weiter. Balduin führte Charly einmal um den Marktplatz herum und zeigte ihm alle wichtigen Geschäfte und Werkstätten, machte ihn mit einigen der Handwerker und Händler bekannt und überall wurden sie herzlichst empfangen. Als sie den Platz umrundet hatten, waren bereits zwei Stunden um, dennoch wollte Balduin Selba den Gefallen tun und schlug vor, kurz nach Hause zu fahren, um Alba abzuholen, bevor sie Charlys neue Mütze abholen würden. Charly hatte nichts dagegen und so verspäteten sie sich ein wenig.

Bei Selba angekommen, zeigte diese sich ganz verwirrt und wunderte sich, dass die zwei Stunden schon um waren. Sie freute sich aber sehr das Alba mit dabei war und Charly musste bis zu der Vollendung seiner neuen Kopfbedeckung wohl noch ein wenig warten. Alba und Selba fingen gleich, kaum hatten sie sich begrüßt, hitzig zu erzählen an und während die beiden ganz vertieft in ihr Gespräch waren, blickte Balduin zu Charly rüber und machte mit dem Kopf eine nickende Bewegung Richtung Tür, was Charly sofort als Aufforderung verstand, sich draußen mal die Füße zu vertreten.

»Das dauert wohl noch ein Weilchen bei den beiden« sagte er, als sie in der Tür standen. »Wollen wir solange ins Trilor-Haus gehen? Ich sage Alba bescheid, sie wird deine Mütze schon mitbringen« Charly nickte, wurde aber durch einen lauten Ruf seines Namens von Selba gebremst.

»Halt, wo wollt ihr denn hin?« fragte sie und Balduin erläuterte kurz ihr Vorhaben. »Dann lass uns wenigstens mal eben prüfen, ob die Mütze überhaupt passt« sagte sie und eilte, mit einem blauen Knäuel in der Hand, zu Charly herüber. Sie zerrte einen Ring aus Filz über Charlys Kopf, der nun kniend auf dem Boden hockte, und murmelte einiges vor sich hin. Charly konnte nur Brocken wie „sieht doch gut aus“ und „etwas strecken und zerren“ verstehen und dann konnten sie gehen. Draußen vor der Tür lachte Balduin zu Charly herüber und erklärte, dass Selba zwar zugegebener maßen ein wenig verrückt im Verhalten, aber eine total liebenswerte Frau und zudem noch Albas Schwester sei.

Auf dem Weg zum Trilor-Haus begann Balduin, Charly das Spiel zu erklären, was sie gleich spielen würden, doch dieser wurde von einer Person abgelenkt, die er kannte. Albert kam ihnen geradewegs entgegen.

Auch Balduin hatte ihn jetzt gesehen und begrüßte ihn sogleich. »Hallo Albert, schön, dass du auch hier bist. Wir wollten gerade einen kleine Runde Trilor spielen. Kommst du mit?« Albert willigte erfreut ein und gemeinsam betraten sie nun das Trilor-Haus. Sie erkannten sofort, dass alle Tische besetzt waren und nur an einem gerade ein Platz frei zu werden schien.

»Geh du schon mal spielen« sagte Albert zu Balduin, »Charly und ich setzen uns solange an die Theke«. Balduin willigte ein und saß schon am Tisch, bevor die beiden den Tresen am hinteren Ende des Hauses erreichen konnten. An der Wand hinter dem Tresen hingen kleine Plakate, die anpriesen, was hier zu trinken bestellt werden konnte. Charly las sich die Plakate durch und je weiter er nach unten zum Ende der Liste kam, desto mehr verzog er sein Gesicht. Es gab Tee mit den Geschmacksrichtungen Fenchel, Salbei, Kamille, aber auch Eschewurzel, Petrikraut und sogar Fliegenpilz. Die Auswahl an Kaffeesorten klang da schon interessanter, befriedigte Charlys Wunsch nach einem erfrischenden Getränk jedoch auch nicht. Anscheinend tranken die Telluris nur Tee und Kaffee. Charly konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass dieses aus Krügen getrunken wurde, daher fragte er kurzerhand Albert, was die anderen an den Tischen wohl so trinken.

»Das ist Fassbrause« antwortete er. »Man könnte es fast als Nationalgetränk bezeichnen, weil wirklich jeder Fassbrause trinkt. Aber Vorsicht! Bestell dir junge Fassbrause! Die Alte ist gegoren und macht dich wirr im Kopf« warnte Albert. Charly entschied sich für junge Fassbrause und auch Albert bestellte davon einen großen Krug.

»Du hast nun einiges von den Telluris gesehen und auch einige kennengelernt. Was denkst du jetzt?« fragte Albert und erwischte damit Charly eiskalt, denn, der hatte nicht damit gerechnet nun wieder über seine Zukunft reden zu müssen.

»Oh, ich finde es super hier. Es sind alle lieb und nett, aber ich weiß nicht, ob ich deswegen die Post übernehmen kann. Momentan bin ich lieber hier unten, als dass ich mir vorstellen könnte, in Glengarriff den ganzen Tag arbeiten zu müssen.« antwortete Charly nun doch wieder gefasster. Er war sogar ein wenig stolz auf sich, so direkt mit Albert gesprochen zu haben.

»Ich danke dir für deine ehrlichen Worte, aber eigentlich wollte ich nur von dir wissen, was du über die Telluris denkst?«

»Ach so, nun ja« stammelte er und er spürte, wie sein Gesicht rot wurde. »Ich bin immer noch erstaunt, dass die Telluris noch nicht entdeckt wurden. Ich meine, hier wohnen Tausende über Tausende unter der Erde und leben wer weiß schon wie lange hier. Es gibt ganze Städte und Straßen und keiner hat je etwas bemerkt.«

»Du vergisst die Telluris, die in den Wäldern leben. Das sind auch noch mal einige Tausend« unterbrach ihn Albert.

Charly war erneut baff. An die hatte er gar nicht mehr gedacht und fragte sich gleich, ob auch sie in Städten lebten. Wenn ja, dann wäre das sicherlich eine Sensation. Neben den beiden saß ein älterer Telluris und schien schon einige von den alten Fassbrausen getrunken zu haben. Er wankte auf seinem Stuhl ein wenig Hin und Her und Charly konnte hören, wie er lautstark nach Eldur rief.

»Wer ist Eldur?« fragte Charly.

»Eldur ist der Name einer Suppe, die hier serviert wird. Eldur bedeutet Feuer und damit macht die Suppe ihrem Namen alle Ehre.« Kaum hatte Albert ausgesprochen, als auch schon die Bedienung mit einer großen Schale in der einen und ein Weißbrot in der anderen Hand um die Ecke kam und dem betrunkenen beides vor die Nase stellte. Dieser zögerte auch gar nicht lange, griff zum Löffel und fing an, etwas leuchtend Rotes in sich hinein zu schaufeln. Anders konnte man die Geschwindigkeit nicht nennen, in der er aß. Charly beobachtete den Essenden und sah, wie sich seine Gesichtsfarbe von Rot in Dunkelrot änderte und die Suppe anscheinend ihre Wirkung zeigte.

»Ein Teufelszeug« sagte Albert »wirkt aber Wunder, wenn man erkältet ist oder, so wie unser Freund hier, eine Fassbrause zu viel getrunken hat. Du wirst gleich sehen, nach der Suppe ist der Gute wieder ganz nüchtern.

Aber zurück zu den Telluris. Du hast recht, es ist ein sehr nettes Volk. Sie sind immer hilfsbereit und nehmen jeden in ihren Reihen auf, der sie darum bittet. Das ist aber auch das Problem, was sie haben. Sie sind zu nett. Wie ich dir bereits gesagt hatte, gibt es unter den Telluris nie Streit oder irgendwelche Neckereien, wodurch sie aber auch nie gelernt haben, etwas Böses zu erkennen, dem aus dem Wege zu gehen, geschweige denn zu bekämpfen. Und da kommen wir Menschen ins Spiel. Ich bin natürlich nicht der Erste, der als Mensch zu den Telluris zieht. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die seit jeher weit verstreut in den Städten der Telluris wohnen. Wir stehen dauernd im Kontakt und passen sozusagen ein wenig mit darauf auf, dass den Telluris nichts passiert. Die meisten der Telluris wissen gar nichts von unserer Funktion. Nur die wenigsten, wie Balduin, wissen darum und bisher hat es auch ausgereicht. Nun ist vor Kurzem der Mensch, der hier in Eboris lebte, gestorben und ich werde seinen Platz einnehmen.«

»Wer sind denn die Feinde der Telluris?« fragte Charly, der nun nicht mehr zu dem Eldur löffelnden Telluris sah, sondern sich zu Albert umgedreht hatte und fasziniert von dem war, was er eben gehört hatte.

»Nun, in erster Linie sind das natürlich wir Menschen. Du hast es ja eben selbst gesagt! Es wäre sensationell, wenn sie in den Wäldern auch Städte hätten. Wir Menschen sind nun mal so, dass die meisten von uns etwas Böses mit den Telluris im Schilde hätten. Lange Rede, kurzer Sinn: Feind Nummer eins ist der Mensch. Aber es gibt auch noch einen Feind, den ich selbst noch nie gesehen habe und den die meisten der Vakar, so werden wir Menschen genannt, die die Telluris beschützen, auch nur vom Hören her kennen. Es sind die Vondur. Wir nehmen an, dass sie viel weiter unten in der Erde leben, als es die Telluris tun, sind uns aber nicht sicher. Keiner hat jeher eine Spur zu ihnen finden können und nur Geschichten und alte Schriften deuten auf die Gefahr der Vondur hin.

Wir Vakar haben zumindest nicht aufgehört daran zu glauben, ich persönlich denke aber, dass sie irgendwann mal ausgestorben sind.

Viel größere Probleme bereiten uns da die Menschen mit ihrem Bergbau. Eboris liegt zum Glück unter der Bantry Bay aber Anderenorts hat man damit schwer zu kämpfen. In Silgog zum Beispiel. Da wurden erst vor ein paar Monaten Stollen von Menschen angegraben, als die Telluris eine neue Straße bauen wollten. Für die Telluris ist das immer ein Riesenspaß. Wenn sie auf einen Stollen treffen, wird die Wand schnell wieder hochgezogen und dann lauern sie dahinter, bis sie wieder einen der Bergbauern hören. Dann klopfen sie gegen die Wände und machen einen Höllenlärm, um den armen Leuten einen Schrecken einzujagen. Was ihnen in der Regel auch gut gelingt.

Wir Vakar dagegen, versuchen dann immer das Aufsehen bei den Menschen so gering wie möglich zu halten.«

»Und wie macht ihr das?« fragte Charly und beide wurden unterbrochen, als die Wirtin vor ihnen zwei große Krüge stellte, die eine herrliche weiße Schaumkrone trugen. Sie prosteten sich zu und Albert blickte misstrauisch um sich, bevor er weitererzählte.

»Du hast doch bestimmt schon Jildrid kennengelernt?« fragte Albert und Charly nickte.

»Jildrid hat hier keinen besonders guten Ruf, aber auch nur deswegen, weil er sich auf die Wirkung seiner Kräuter bei den Menschen und nicht bei den Telluris spezialisiert hat. Immer wenn einer seiner Leute zu ihm kommt und etwas Bestimmtes haben möchte, dann bricht ihm immer der Schweiß aus. So gut die Wirkung seiner Mittel bei den Menschen ist, so schlecht ist sie bei den Telluris.

Zum Beispiel hat er einen Trank erfunden, der die Erinnerungen bei den Menschen auslöscht. Wir nennen ihn den Trank des Vergessens. Dosiert angewandt, kann man einen bis mehrere Tage Erinnerung bei den Menschen auslöschen. Ich musste den Trank mal anwenden und er zeigte eine wunderbare Wirkung. Bei den Bergleuten vor einigen Monaten kam der Trank auch zum Einsatz. Wunderbar, kann ich da nur sagen.«

»Und wie kommt ihr so schnell zu den Menschen hin? Ich meine, lauft ihr nicht Gefahr, dass die alles erzählen können?«

»Wir Vakar haben einen Kristall der Movatid genannt wird. Sobald man diesen an eine Wand drückt, in der eine Strömung herrscht, wird man mitgezogen und kann so auch ohne einen Telluris fluxen. Hier sieh mal« sagte Albert und holte ein gefaltetes Papier aus seiner Tasche. Er entfaltete es und es sah aus wie ein wirres Muster von Linien und Farben.

»Das hier ist eine Strömungskarte« fing Albert zu erklären an. »Mit der können wir Vakar uns beim fluxen orientieren. Das Fluxen als Unwissender ist gefährlich! Es gibt Strömungen, die mitten in der Wand aufhören und wenn man da hinein gerät ist, es schnell aus mit einem!«

Bei dem Gedanken in der Wand stecken zu bleiben, wurde es Charly ganz anders. »Und wenn ihr dann zu einem der Bergleute wollt, dann fluxt ihr hoch zu ihnen und verabreicht ihnen den Trank?« fragte er noch, um schnell wieder von dem gruseligen Gedanken wegzukommen.

»Richtig. Allerdings ist das oftmals nicht einfach, denn wer trinkt schon etwas von einem Fremden?« Albert machte eine kurze Pause, ehe er anfügte »Aber zum Glück entwickelt Jildrid gerade die Mixtur in Tabletten und Salben-Form. Dann kann man den Betreffenden einfach etwas Salbe beim Vorbeigehen in den Nacken schmieren oder ihm eine Tablette in sein Trinken werfen und dann sollte es auch funktionieren.«

Charly staunte nicht schlecht. Alles wurde immer skurriler. Je länger er hier war und je mehr er erfuhr, desto unglaublicher fand er alles.

»Warum erzählst du mir das eigentlich alles? Hast du nicht Angst, dass ich alles verraten könnte? Was ist, wenn ich den Job in der Poststation nicht übernehmen werde?« fragte Charly neugierig und war gespannt auf Alberts Antwort.

»Dann wirst du den Trank des Vergessens trinken müssen.« antwortete Albert knapp und ergänzte dann aber noch »Ich erzähle dir alles, weil ich glaube, dass du es machen wirst und weil ich jemanden brauche, der oben ist und Bescheid weiß. Man weiß nie, wofür es gut ist und wenn du sowieso schon über die Telluris Bescheid weißt, dann kannst du auch das über uns Vakar wissen.« schloss Albert und drehte sich um. Balduin hatte gerufen und es schien als würde der Tisch bei ihm frei werden. Albert und Charly nahmen ihre Krüge und gingen rüber zu Balduin. Auf dem Weg zum Tisch sah Charly wie Albert einen kleinen ledernen Beutel aus seiner Tasche holte und er erkannte sofort, dass darin die Spielsteine aufbewahrt wurden. Er hatte solch lederne Beutel bereits bei den anderen Spielern auf den Tischen liegen sehen und ihm fiel ein, dass er ja gar keine Spielsteine hatte, womit er hätte mitspielen können. Am Tisch angekommen, wollte er sogleich Balduin darauf ansprechen und fragen, wo er denn Spielsteine herbekommen könnte, als ihn dieser einen kleinen Beutel hinhielt und ihm zu murmelte:

»Herzlichen Glückwunsch zu deinen ersten eigenen Spielsteinen. Ich hoffe sie gefallen dir?«

Charly machte den Beutel auf und ihm entgegen strahlten viele kleine Steine, die in einem tiefen Blau schimmerten. Charly leerte den Beutel, in dem er den Inhalt in seine Hand schüttete, und betrachtete sein Geschenk genauer.

»Die sind wunderschön. Ich danke dir vielmals dafür« sagte Charly zu Balduin, doch dieser winkte nur ab und forderte beide auf, nun endlich mit ihm zu spielen.

»Es geht darum, möglichst viele Steine zu sammeln?« fragte Charly und beobachtete Balduin und Albert dabei, wie sie sechs Steine in jede der acht ihnen zugewandten Felder legten. Er machte es ihnen automatisch nach, ohne zu wissen, warum er es tat und so wurde das Spielfeld fertig aufgebaut. Nun konnte gespielt werden. Balduin machte den ersten Zug und Charly beobachtete genau, was er machte. Er nahm die Steine aus einer seiner Mulden und verteilte diese einzeln, im Uhrzeigersinn, in die Mulden, die der nun leeren folgten. Seinen letzten Stein legte er in ein Feld, was Albert zugewandt und welches mit sechs Steinen von Albert gefüllt war. Da Albert hier mehr Steine liegen hatte, als Balduin, konnte Albert Balduins Stein rausnehmen. Jeweils in den rechten Ecken des Spielfeldes waren größere Mulden, in denen die gewonnenen Steine gelagert wurden. Albert tat den Stein hinein und nun war er am Zug.

So spielten sie noch eine ganze Zeit lang, in der mal Albert und mal Balduin gewannen. Charly begriff das Spiel schnell und hatte auch den einen oder andern guten Moment, doch zum endgültigen Sieg hatte es nie gereicht. Irgendwann fiel Charly ein, dass er ja noch etwas vorhatte. Er wusste, dass Albert eine Taschenuhr besaß, und fragte ihn nach der Uhrzeit.

»Ihr Menschen immer mit eurer Zeit und Terminen, die ihr einhalten müsst.« schimpfte Balduin belustigt dazwischen. Er hatte nie verstanden, wozu das gut sein sollte. Er für seinen Teil lebte ganz zu frieden, so wie es war und soweit er es beurteilen konnte, ging es den anderen Telluris ganz genau so.

»Es ist fünf Uhr am Nachmittag. Ich denke du hast noch ein wenig Zeit« antwortete Albert und konzentrierte sich wieder auf den Spieltisch. Sie spielten noch zwei Partien, ehe Albert dann den Vorschlag machte, Charly nach oben zu begleiten. So endete der erste gemütliche Abend, den Charly bei den Telluris verbracht hatte. Sie verstauten ihre Steine in ihren Lederbeuteln und wollten gerade aufbrechen, als Charly seine Fassbrause einfiel.

»Wie bezahlt man hier eigentlich?« fragte Charly die beiden.

»Haben wir bereits gemacht!« antwortete Albert »Aber um deine Frage zu beantworten: die Telluris tauschen in erster Linie ihre Waren. Und wir beide arbeiten für die Telluris, indem wir ihnen ihre Briefe bringen.«

Daran hatte Charly gar nicht gedacht. Umso mehr freute er sich darüber und zusammen verließen sie das Trilor-Haus. Balduin verabschiedete sich und ging nach nebenan zu Selba, um zu sehen, ob Alba noch bei ihr ist. Albert und Charly dagegen gingen in die andere Richtung.

»Hey Charly, warte mal!« rief Balduin plötzlich von hinten und erschrocken drehten er und Albert sich um.

»Du hast deine Mütze vergessen.« sagte er und wedelte mit einem blauen Stoffdreieck hin und her.

Charly lief Balduin entgegen und nahm seine neue Mütze in Empfang. Er begutachtete sie kurz, setzte sie einmal auf und fand, dass sie sehr gut saß. Er bedankte sich bei Balduin, nahm die Mütze wieder ab und verstaute sie in seiner Hosentasche. Anschließend lief er zurück zu Albert und gemeinsam traten sie den Heimweg an.

Albert, der auch eine Kutsche besaß, hatte diese nicht weit entfernt geparkt und schon bald waren sie zusammen auf der Hauptstraße unterwegs.

»Kann ich nicht auch einen Movatid bekommen?« fragte Charly. »Dann müsste nicht immer einer von euch mitkommen« fügte er hinzu, um seinen Wunsch Nachdruck zu verleihen.

»Es tut mir leid, aber du weißt, dass das nicht geht.« antwortete Albert. »Die Kristalle sind zu gefährlich und nicht ohne Grund nur für die Vakar bestimmt. Nicht nur, dass du dir selbst schaden könntest, sondern, wenn ein Kristall verloren geht und in die falschen Hände gerät, dann kann es für die Telluris gefährlich werden.

Ich will dir aber einen Weg durch den Wald und der Erde zeigen, der hier herführt. Allerdings muss man diesen zu Fuß beschreiten und er ist nicht ganz leicht. Es handelt sich um einen alten Minenschacht, der vor langer Zeit von Menschen gegraben wurde und heute in Vergessenheit geraten ist. Besitzt du einen Luminakristall?« fragte Albert und Charly fiel ein, dass er ja noch Balduins Kristall in der Tasche hatte. Schnell griff er prüfend danach und bemerkte, wie eine unruhige Wärme in ihm aufstieg.

»Balduin hat mir seinen geliehen und ich habe heute vergessen, ihn zurückzugeben« sagte Charly.

»Gut, er wird ihn schon nicht vermissen. Soweit ich weiß, besitzt er mehrere von den Kristallen.«

Albert fuhr die Hauptstraße entlang und Charly bemerkte, dass sie dieses Mal nicht auf den Parkplatz abbogen, sondern der Straße weiter folgten. Sie passierten den Fluxraum und entfernten sich weiter von Eboris. Sie kamen an eine Kreuzung, an der sie links abbogen, um kurz danach anzuhalten.

»Hier hinter dieser Tür« Albert zeigte auf eine kleine hölzerne Tür mitten in der Wand »ist eine Treppe, die hinauf führt. Ich werde dich nach oben begleiten und dir dann sagen, wie du nach Hause kommst.« Er parkte die Kutsche am Seitenstreifen und sie stiegen ab.

»Hol deinen Luminakristall raus« befahl Albert und beide, jeder mit einem Kristall in der Hand, gingen sie durch die Tür. Sie betraten eine niedrige und dunkle Höhle. »Hier ist etwas Wasser an der Wand, damit kannst du deinen Kristall zum leuchten bringen.« sagte Albert und beide Kristalle leuchteten bald darauf hell in die Höhle hinein. Diese Höhle hatte keine geraden Wände und war auch nicht so sauber, wie Charly bisher die Welt hier unten kennengelernt hatte.

Sie sahen sich um. An der gegenüberliegenden Wand war ein Ausgang zu sehen, der durch Stufen noch oben führte. Albert ging voran und Charly folgte ihm. Charly musste nun wieder an seinen Traum denken, den er gehabt hatte und ihm wurde es wieder etwas mulmiger. Sie blickten die Stufen hinauf, doch weit konnten sie nicht sehen. Der Aufgang schien sich zu winden und außerdem folgte nach wenigen Stufen anscheinend ein Plateau, da dort die Decke gerade verlief und nicht steil nach oben zeigte. Der Zustand der Treppe sollte so bleiben, wie sie bald herausfanden. Immer wieder ging es einige Stufen, Steine oder Schrägen nach oben, woraufhin wieder ein Plateau folgte, von dem hin und wieder zu den Seiten weitere Tunnel abgingen. Charly leuchtete in die abzweigenden Gänge hinein, konnte aber immer nur wenige Meter sehen, was sein Wohlbefinden unweigerlich minderte.

Es schien ein regelrechtes Labyrinth zu sein und Charly wusste nicht, wie er jemals hier herausfinden sollte, wenn Albert nicht bei ihm wäre. Auch wusste er nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, aber durch die ewige Steigung spürte er bereits, wie seine Oberschenkel wärmer wurden. Die Dunkelheit und die ewige Stille machten ihm schwer zu schaffen und er spürte, wie er unruhiger wurde.

»Wie weit ist es noch?«

»Ich denke, wir haben etwa ein Drittel geschafft. Vergiss nicht, dass wir eintausend Meter über eine Treppe zurücklegen müssen.« antwortete Albert flüsternd und deutete Charly ruhig zu sein.

»Wieso sollen wir flüstern« fragte Charly so leise, wie er nur konnte und er wunderte sich, dass Albert ihn überhaupt verstanden hatte.

»Man weiß nie, ob sich nicht vielleicht irgendwo ein Stein lösen könnte. Außerdem muss man immer damit rechnen, dass sich vielleicht doch ein Mensch hier her verirrt und nach Schätzen sucht.«

Das leuchtete Charly ein und so gingen sie weiter. Nach einer ganzen Weile bemerkte Charly, wie ihm die Umgebung nicht mehr allzu viel ausmachte. Er gewöhnte sich anscheinend langsam an die Dunkelheit und die Stille, die nur durch ihre Tritte und ab und zu durch einen rollenden Stein unterbrochen wurde, der hinter ihnen die Stufen herunter polterte. Es war ein langer und beschwerlicher Aufstieg. Beide atmeten schwer und wurden, je weiter sie gingen, immer langsamer. Charly konnte sich nicht vorstellen, hier jemals alleine herunterzugehen und ihm wurde klar, dass er Albert irgendwie überreden musste, einen Movatid zu erhalten.

»Denk daran, dass du niemals diesen Weg verlassen darfst. Gehe immer geradeaus und achte nicht auf Geräusche, die du aus anderen Gängen hörst. Hier unten leben viele Tiere in den Gängen und lenken einen nur von seinen Gedanken und seinem Weg ab. Solltest du trotzdem mal vom Weg abkommen und dich verlaufen, dann kann dich nur noch ein Todo retten« sagte Albert wieder flüsternd aber diesmal deutlich aus der Puste und mit unruhiger Stimme.

»Was ist ein Todo?« flüsterte Charly.

»Todos sind Tiere, die hier unten leben. Sie sind intelligent und stets freundlich gesinnt. Wenn du dich verlaufen solltest und einen Todo findest, dann wird er schon merken, was los ist und dich wieder auf den richtigen Weg führen.« antwortete Albert.

»Und wie erkenne ich die?« wollte Charly noch wissen doch Albert hielt schnell einen Finger vor seinen Mund und deutete Charly stehen zu bleiben.

»Psst« machte Albert nur und er horchte in die Ferne.

»Schnell. Licht aus« befahl er und sie beide wickelten ihre Kristalle in ihre Jacken, die sie dafür hastig ausziehen mussten. In völliger Dunkelheit standen sie da. Charly spürte sein Herz schlagen. Was hatte Albert gehört? Er selber hatte nichts wahrgenommen, wollte aber auch nicht fragen, da er spürte, dass es falsch sein würde jetzt etwas zu sagen.

Klong

Sie hatten in weiter Entfernung ein lautes Geräusch gehört, was klang, als hätte jemand mit einem Hammer auf einen Eisenträger gehämmert.

»Was war das?« flüsterte Charly und er spürte einen Klos in seinem Hals.

»Psst« machte Albert wieder nur. Er tastete mit seiner Hand nach Charly und erwischte ihn am Ellenbogen. Charly spürte, wie er daran zog. Albert wollte wohl im Dunkeln weitergehen und beide tasteten sich so leise wie möglich voran.

Schepper

Sie hörten wieder ein Geräusch. Diesmal klang es wie ein Kochtopf, der auf einen Kiesboden fiel.

»Menschen« flüsterte Albert und zerrte wieder an Charlys Arm. Diesmal deutete er zur Seite und Charly folgte ihm. Er hatte wohl eine Nebenhöhle gefunden, in die sie nun hineingingen.

»Lass uns einen Moment hier warten und sehen, was sie tun« sagte er leise und dem Geräusch nach zu urteilen, was Charly hörte, hatte Albert sich auf den Boden gesetzt. Charly tastete sich langsam runter und beide lauschten nun dem Treiben, das sie hörten.

In den nächsten Minuten sollte sich daran nichts ändern. Sie hörten hin und wieder ein Geräusch und sie konnten abschätzen, dass es weder näher kam noch sich entfernte.

»Wir können doch fluxen« fragte Charly und war stolz, die Lösung für das Problem gefunden zu haben.

»Ich muss wissen, wer das ist, was er da macht und ob er eine Gefahr für die Telluris darstellt. Ich denke, ich werde mich weiter voran arbeiten und versuchen mehr herauszufinden. Kommst du mit?« fragte Albert Charly und dieser wunderte sich über die Frage. Denn alleine wollte er bestimmt nicht hier sitzen bleiben. Er flüsterte Albert ein Ja zu und beide machten sich auf den Weg in Richtung der Geräusche. Ohne Licht und nur mit tastenden Händen und Füßen kamen sie zwar nur sehr langsam voran, hörten aber, dass ihr Ziel nicht mehr weit weg war. Sie hörten, neben den bereits bekannten metallischen Geräuschen, hin und wieder ein Murmeln oder Flüstern, als würde jemand mit sich selbst leise reden.

Sie waren der Ursache der Geräusche nun so nahe, dass der von dort ausgehende Lichtkegel bereits Alberts Gesicht erhellte. Charly konnte ihn deutlich erkennen und auch sein eigenes Gesicht tauchte jetzt in das Licht hinein.

»Sei vorsichtig« flüsterte Albert und Charly konnte erkennen, wie Albert gebannt nach vorne starrte und sich vorsichtig weiter nach oben arbeitete. Noch versperrte die letzte Stufe vor dem Absatz die Sicht auf die Quelle der Geräusche und auch Charly versuchte langsam über diese letzte Hürde zu gucken. Sie wurden beide enttäuscht, denn sie konnten lediglich einen Eingang zu einem Seitentunnel sehen, aus dem heller Lichtschein drang. Die Geräusche, die daraus kamen, waren allerdings so hell und klar, dass sie vermuteten, dass derjenige, der die Geräusche verursachte, direkt hinter dem Eingang sein musste.

»Was machen wir jetzt?« flüsterte Charly und sofort verstummte es aus dem Eingang. Albert legte so schnell er konnte seine Hand auf Charlys Mund. Absolute Stille trat ein. Charly schluckte schwer und spürte wieder seinen Pulsschlag. Albert ließ ihn los und bedeutete ihn sich zu ducken und damit aus dem Lichtkegel zu verschwinden. Sie beide hockten nun auf der Treppe und erstarrten in dieser Position. Noch immer war nichts zu hören. Wer auch immer sich da oben befand, ließ sich noch einige Minuten Zeit, bis Albert und Charly endlich wieder die erlösenden Geräusche hörten. Sie waren also nicht entdeckt. Beide atmeten tief durch. Albert wusste wohl, dass Charly den Fehler nicht noch mal machen würde, was Charly sehr erfreute, denn anders als erwartet, wurde Charly nicht gemaßregelt, sondern Albert deutete Charly durch einen Griff an seinen Arm, dass er wieder hoch wollte. Zusammen krabbelten sie die Treppe wieder etwas höher und als sie die vorherige Position erneut erreicht hatten, deutete Albert Charly stehen zu bleiben. Anscheinend, so vermutete Charly, wollte er sich alleine bis zum Eingang des Tunnels vorarbeiten und Charly sollte zurückbleiben. Er selbst hielt dieses für eine sehr gute Idee und hatte nichts dagegen einzuwenden, also setze er sich auf eine der obersten Stufen und beobachtete Albert dabei, wie dieser auf allen vieren vor ihm her krabbelte. Es sah sehr vorsichtig aus und Charly konnte auch kein Geräusch vernehmen, was Albert hätte verursachen können. Albert tastete sich immer weiter vorwärts und erreichte den vorderen Stützbalken, der den Eingang markierte. Er schielte vorsichtig um die Ecke und erschrak. Was er da sah, war kein Mensch, sondern eine Gestalt, die vielleicht eineinhalb Mal so groß war wie er und bei dem Licht einer Fackel auf dem Boden saß und etwas Undefinierbares genüsslich aß. Anscheinend machte hier jemand eine Pause. Albert versuchte zu erkennen, wer oder besser, was es war, konnte aber in seinen Erinnerungen nichts finden, was dieser Kreatur glich.

Wesentlich größer als ein Mensch und mit langen, spitzen Ohren, dicker ledriger und vernarbter Haut und einem stählernen Harnisch bekleidet, schien diese Kreatur ein Soldat oder ein Kämpfer zu sein.

Nach einigen Minuten der Beobachtung kroch Albert zurück zu Charly und zusammen kletterten sie vorsichtig die Stufen hinab zu der Höhle, in der sie vorher waren.

»Ich weiß nicht, wer oder was es ist, aber wir müssen vorsichtig sein«, sagte Albert. »Wir sollten doch lieber fluxen und von hier verschwinden.« Albert wickelte seinen Kristall aus, der nun nur noch gering schimmerte. Es war schon einige Stunden her, da sie sie aktiviert hatten und nun ließ die Kraft des Wassers nach. Charly war froh, wieder ein wenig Licht zu haben und zu sehen, in was für einer Höhle sie saßen. Zu seiner Erleichterung war es kein langer Tunnel, in dem sie waren, sondern nur eine kleine Höhle, die zur Seite der Treppe lag. Albert packte die Karte aus, die Charly bereits im Trilor-Haus gesehen hatte, und betrachtete sie prüfend.

»Wir sind etwa hier, wenn ich mich nicht irre« und zeigte auf einen Punkt inmitten der wirr verlaufenden Linien. »Um nach oben zu gelangen, müssen wir einer der grünen Linien folgen. Die Blauen sind Strömungen, die nach unten führen und die Roten, das sind Sackgassen. Hier, ich denke, diese hier können wir nehmen« Albert zeigte nun auf eine andere Linie und Charly beschloss es bei dieser Information zu belassen.

»Wir müssen wieder ein wenig zurück die Treppe hinunter gehen und dann kommt auf der rechten Seite ein Tunnel, dem wir nur wenige Meter folgen müssen. Ich denke, wir können einen der Luminakristall draußen behalten, dann kommen wir schneller vorwärts. Wir müssen nur aufpassen, dass wir leise sind. Achte also darauf, wohin du trittst, ich werde dir alles erklären, wenn wir oben angekommen sind.« schloss Albert, packte seine Karte wieder ein und ging vorsichtig aus der Höhle zu der Treppe.

Schritt für Schritt nahmen sie Stufe um Stufe und nach kurzer Zeit hatten sie den von Albert beschriebenen Tunnel erreicht. Wer auch immer da oben saß, hatte von all dem zum Glück nichts mitbekommen, denn Albert und Charly konnten hin und wieder die gewohnten Geräusche hören und sich so in Sicherheit wiegen. Sie gingen ein Stück den Tunnel entlang, bis sie an einen Punkt gelangten, an dem Wasser aus der Wand trat.

»Ich denke hier sind wir richtig.« sagte Albert und holte mit der noch freien Hand seinen Movatid aus der Tasche. »Nimm du den Luminakristall« sagte er und hielt ihn Charly hin. »Dann können wir uns an den Händen halten, wenn wir fluxen, das ist mir lieber.«

Kaum hatten sich ihre Hände fest umschlossen, als Albert auch schon den Movatid an die Wand drückte und Charly wieder einen Ruck spürte, der ihn vom Boden abzuheben schien. Einen Augenblick später fanden sie sich auf einer grünen Fläche liegend wieder. Es war bereits dunkel geworden und Charly spürte, wie die frische Luft in seine Lungen drang. Er nahm einen tiefen Zug und fühlte, wie die Beklommenheit aus den dunklen Höhlen und Gängen von ihm abfiel.

Albert erzählte Charly von seinen Beobachtungen und auch von seiner Ratlosigkeit. »Ich werde jetzt zurückkehren und einige Leute befragen, die mir vielleicht weiterhelfen können. Wir sehen uns morgen früh zur Arbeit« sagte Albert, nahm von Charly den Luminakristall, verabschiedete sich flüchtig und verschwand in der Erde. Anders als bei den Telluris, die sich vor dem Fluxen unsichtbar machten, konnte Charly sehen, wie Albert in die Erde regelrecht eingesogen wurde. Es war ein komischer Anblick und ihm wurde klar, dass er sich nie gefragt hatte, wie das mit dem Fluxen funktionierte. Man hatte ihm zwar gesagt, dass der Reisende mit der Strömung der Erde mit fließt, aber wie sich ein Lebewesen so sehr verändern kann, dass es durch die Erde passt, das war im schleierhaft.

Charly sah sich um. Es war zwar Nacht, aber seine Augen hatten sich in den vergangenen Stunden an die Dunkelheit gewöhnt und durch den Mond war alles gut erkennbar. Er stand anscheinend auf einer Wiese, die von drei Seiten mit Bäumen umringt war. An der offenen Seite schien die Erde abzufallen und Charly beschloss dort hinzugehen, um sich zu orientieren. Als er dort ankam, erkannte er, dass er auf einem Hügel stand und unten deutlich Glengarriff zu erkennen war. Er war auf den Caha Mountains und es war zum Glück nicht weit bis nachhause.

Es war bereits nach neun Uhr abends, als Charly endlich den Hof erreichte. Den ganzen Weg über musste er an die Erlebnisse denken. Er fragte sich fortlaufend, was das wohl für ein Lebewesen war, das Albert da beschrieben hatte, und wusste aber auch, dass er das heute nicht mehr herausfinden würde.

Telluris

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