Читать книгу Über die Liebe - Tom Sar - Страница 3

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Sie kam also selbst zu mir. Ich saß vorm Fernseher, als ein Klopfen an der Tür mich ablenkte. Ich schaute vorsichtig durch das Guckloch und sah Victoria, die eine bunte Bluse mit einem Minirock trug. Sicherlich fühlte sie meine Anwesenheit und winkte fröhlich, mit breitem Lächeln auf dem Gesicht. Ich öffnete die Tür.

„Moin. Moin“, schien sie vor Freude zu strahlen.

Ich versuchte auch zu lächeln.

Victoria ging sofort zur Sache: „Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mir helfen?“. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie in meine Wohnung ein. „Ich möchte zum Grab meiner Eltern fahren. Komm mit. Ich brauche dich. Es kann mir plötzlich schlecht werden, oder mir passiert irgendwas. Wer weiß?“, drängte sie.

Ich hatte keine Wahl, außer zuzustimmen. Ich bat sie nur darum, mir Zeit zum Umziehen zu geben.

„Natürlich“, erwiderte sie selbstbewusst, „Ich warte auf dich in meinem Auto. Es steht draußen. Direkt vor der Tür. Man kann es nicht übersehen. Es gibt zurzeit bloß keinen anderen Wagen“, und begab sich zurück.

Tatsächlich, als ich nach draußen kam, saß Victoria in einem kleinen grünen Auto gegenüber von der Eingangstür unseres Treppenhauses.

„Wie war die Woche?“, fragte sie, gleich nachdem ich in den Wagen einstieg.

„Es gab viel Arbeit. Ich komme immer so spät nach Hause“, fing ich an zu erzählen.

„Ich habe dich jeden Tag vom Fenster aus beobachtet, wenn du nach Hause gekommen bist“, lächelte Victoria höhnisch.

Dann schwiegen wir. Sie fuhr Auto, blickte ab und zu kurz auf mein Gesicht, und ich blickte unwillig auf ihren Bauch und ihre Beine.

„Es scheint mir, dass ich dich mit meiner Krankheit erschreckt habe“, sagte Victoria nach einer Weile. Sie wartete ein bisschen. Ich antwortete nicht, und sie setzte fort: „Ich habe dir nicht gesagt, dass ich jetzt eine tolle Medizin einnehme. Das ist ein Hausmittel gegen schwere Krankheiten. In ein paar Wochen werde ich gesund sein.“

„Sicherlich“, bestätigte ich.

„In der Tat denkt sich kein Arzt etwas Besseres aus, als das, was die Überlieferung bereits weiß“, behauptete sie.

Ich stimmte wieder zu.

„Ich fühle mich wirklich nicht mehr krank. Wenn wir uns etwas später getroffen hätten, hätte ich schon überhaupt nicht mehr über die ehemalige Krankheit gesprochen.“

„Ja“, sagte ich.

„Wenn es dich interessiert, kann ich dir erklären, wie man diese Medizin vorbereitet.“

Sie begann sofort zu erzählen, obwohl ich keine Antwort gegeben hatte. Danach berichtete sie noch über weitere wundertätige Heilmittel gegen Krebs, die mir sehr merkwürdig schienen, trotz ihrer Begeisterung.

So kamen wir am Friedhof an, wo Victoria mich bat, einen kleinen Behälter mit Wasser für die Blumen, die sie gekauft hatte, aus dem Auto mitzunehmen. Nachdem ich es getan hatte, führte Victoria mich entlang einer Allee, bis sie vor einem der Gräber stehenblieb, ohne sich zu bewegen. Ich war hinter ihr und konnte ihre Figur frei betrachten. Danach begann ich die Aufschriften auf den Gräbern zu lesen, die zeigten, dass ihre Eltern innerhalb eines Jahres gestorben waren.

„Ja, als erste ist Mama an Krebs gestorben, und dann Papa. Es stellte sich heraus, dass er ein schwaches Herz hatte, aber ich glaube, er wollte einfach nicht mehr leben“, erklärte Victoria traurig.

„Haben sie einander so stark geliebt?“

„Ja. Jetzt verstehe ich es.“

„Ein schöner Grabstein. Du hast alles sehr gut gemacht“, versuchte ich sie zu erfreuen.

„Das ist das Werk meines Onkels“, erwiderte sie. „Ich war seit langer Zeit nicht mehr hier. Ohne meinen Onkel gäbe es hier nur eine leere Stelle.“ Victoria schwieg ein wenig, und dann fügte sie hinzu: „Ich hatte keine Zeit, mich mit dem Grab zu beschäftigen. Ich dachte, sie seien schon gestorben, und es mache keinen Sinn, sich mit Grabsteinen zu beschäftigen. Ich war eine schlechte Tochter und blieb es auch.“

Ich wagte nichts mehr zu fragen. Deswegen schaute ich einmal auf die umliegenden Gräber, einmal auf Victoria, die mit fürsorglichen Bewegungen den Grabstein in Ordnung brachte. Ich stand hinter Victoria, wenn sie sich bewegte, konnte jedoch ein wenig ihre Wangen und Augen sehen, und es schien mir, dass ihr Gesicht getrennt von ihren weichen Körperbewegungen lebte. Ich sah auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Wut und dachte, dass sie gleich den Strauß, den sie in eine Vase auf das Grab gestellt hatte, in Stücke reißen und zertrampeln würde. Stattdessen wandte sich Victoria um und lächelte sanft.

Ich erinnerte mich an ihre Worte über den Konflikt mit ihren Verwandten und fragte: „Warum hast du dich mit deinen Verwandten gestritten?“

„Ich wollte einfach nicht so leben, wie sie leben. Ich wollte alles besser machen“.

„Ist es gelungen?“ Erst nachdem ich gefragt hatte, verstand ich, dass es taktlos gewesen war.

„Du siehst es doch selbst. Ich habe alles: eine Wohnung, ein Auto, ein Kind im Bauch, auch eine Krankheit.“

Ich wusste nicht, wie ernst es Victoria meinte, wollte auch keinen weiteren Fehler machen, schwieg darum.

„Sie wollten mich nicht so annehmen, wie ich bin“, sagte sie.

„Und wie bist du?“, fragte ich wieder unglücklicherweise.

„Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ich bin, aber sicherlich bin ich sehr, sehr nett. Meinst du nicht auch?“, in ihren Augen vermutete ich einen Witz.

Ich nickte zustimmend und versöhnlich.

„Und bist du auch gut?“, sagte sie mit einem betont ernsten Ton, sodass es mir schien, dass Victoria mich auszulachen versuchte. „Willst du darüber nicht sprechen?“, fügte sie hinzu, da ich die Frage nicht beantwortete.

„Es gibt nichts, worüber ich sprechen könnte. Habe nie darüber nachgedacht. Das Leben geht weiter, und ich tue, was ich tun muss.“

„Siehst du deine Eltern oft? Vermisst du sie?“ Es klang unruhig, sogar barsch.

Ich antwortete wieder nicht, und Victoria wandte sich hastig ab. Als sie mich nach einem Augenblick wieder ansah, war ihr Blick schon milder.

„Ich habe mich an meine Kindheit erinnert“, sagte sie. „Fast die ganze Nacht. Weißt du, ich habe mich an Papas Hände erinnert, als er mich getragen hat. Ich bin sicher, dass ich damals noch nicht laufen konnte. Oder vielleicht war es später? Es waren nicht einmal Erinnerungen, sondern es war ein inneres Gefühl. Vor mir standen plötzlich Dinge, von denen ich vorher keine Ahnung hatte. Es ist seltsam – als ob ich wieder ein kleines Mädchen war. Als ob meine Mama mich zum Abendessen gerufen hat. Und dann bin ich zurück in die Realität gekommen.“ Victoria lächelte leicht. „Ich habe sie immer geliebt, aber habe das nicht immer verstanden. Es ist schade, dass ich jetzt nichts mehr ändern kann.“

Ich hörte Victorias Monolog zu und beobachtete, wie sich ihre Lippen bewegten und sich ihre weißen Zähne zeigten. Erst dann bemerkte ich, dass ihre Augen rot waren, vielleicht von Schlaflosigkeit.

„Als Mama krank wurde und ins Krankenhaus kam, habe ich sie nur noch ein paar Mal besucht“, sprach sie weiter. „Es war genau so, als Papa allein geblieben war. Nachts habe ich daran gedacht, wie sehr er auf mich gewartet haben muss. Er muss gehofft haben, dass ich komme, um seinen Kopf zu streicheln, so wie er mich in meiner Kindheit gestreichelt hatte. Er hat mich immer umarmt und meinen Kopf gestreichelt, wenn ich krank war. Er hat erwartet, dass ich komme und sein Weinen höre, auch, dass ich ihn vor allem Schlechten schütze, dass ich ihn in meine Arme nehme und ihn zu einem Ort bringe, wo er in Sicherheit und nicht einsam sein würde. So, wie er es mit mir getan hat… Es ging ihm schlecht, aber ich habe darüber nicht nachgedacht. Zu ihm zu gehen, war für mich eine langweilige Pflicht. Ich bin immer aus Papas Wohnung herausgesprungen wie eine Gazelle, um zu meinen Freunden zu laufen. Aber jetzt kann ich mich an diese Menschen, meine damaligen Freunde, kaum mehr erinnern. Ich versuche es, aber es ist fast unmöglich. An viele Namen kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern. Ich habe es nicht bemerkt, mir war gar nicht bewusst, dass er im Sterben lag… Papa ging allein seinen Weg. Sie haben mich nie bestraft, waren immer tolerant und haben nichts Gutes von mir bekommen.“

Ein Flugzeug flog am Himmel, und wir begleiteten es mit unseren Blicken.

„Haben deine Eltern dich oft bestraft, als du noch ein Kind warst?“, fragte Victoria.

In ihren Augen sah ich aber kein Interesse an der Antwort.

„Ich erinnere mich nicht mehr. Wahrscheinlich nicht. Und wenn ja, wäre es recht.“

Ihr Gesicht reagierte auf meine Worte nicht. Sie setzte fort: „Onkel Boris hat zu meiner Mutter mal gesagt, dass sie mich bestrafen muss, und, wenn die Eltern das Kind nicht bestrafen, Gott es bestrafen wird.“

„Was für ein grimmiger Gedanke“, lächelte ich.

Victoria verstummte und sah mich ernst an.

Wir standen lange am Grab. Die Vögel zwitscherten auf den Zweigen der Bäume. Schließlich sagte Victoria fast unhörbar: „Gehen wir?“

Ich nickte, aber Victoria blieb stehen. Dann legte ich meine Hand auf ihre Schulter: „Also los.“

Sie kehrte gehorsam um und ging neben mir.

Über die Liebe

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