Читать книгу Über die Liebe - Tom Sar - Страница 5

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Bereits beim nächsten Mal, als ich nach der Arbeit zu Victoria kam, hatte sie einen Gast, den sie mir gleich als Onkel Boris vorstellte. Er fühlte sich aber in meiner Gegenwart offenbar unwohl und verabschiedete sich sehr schnell. Dann fragte Victoria mich nach Neuigkeiten. Ich fing an, über die Abenteuer meiner Kollegen zu erzählen. Sie lächelte, weil die Geschichten lustig waren, aber ihr Lächeln ähnelte den Lippen eines Mannequins. Schließlich fragte ich Victoria, was sie den Tag über getan hatte.

„Ich habe nichts zu erzählen. Alle meine Tage sind gleich... Das ist so seltsam, dass in mir zur gleichen Zeit das Leben und der Tod wachsen... Unser Leben ist so merkwürdig, weil wir sterben, und die Erinnerung von uns verschwindet. Ich sterbe und niemand wird sich an mich erinnern.“

Ich wollte sagen, dass ich sie nie vergessen werde. Stattdessen versicherte ich Victoria, dass sie noch viele Jahren leben werde, und wahrscheinlich sogar mich überleben werde, denn laut Statistik leben in Deutschland die Frauen länger als die Männer.

„Alle werden sterben, die mich kannten. Die Papiere, auf die mein Name geschrieben wurde, werden in den Archiven schlummern. In Stücke zerfällt alles, was ich berührt habe. Es wird nichts bleiben.“

Das sagte sie ruhig, ich hatte aber das Bedürfnis, sie zu trösten und begann darüber zu sprechen, wie lange sie noch leben werde. Auf Victorias Gesicht erschien zuerst eine Grimasse der Irritation, danach ein Ausdruck von Sarkasmus. Am Ende war sie wieder ruhig. Ich sprach, und sie sah aus dem Fenster. Ich schaute in die gleiche Richtung. Dort war ein Baum, der vor unserem Haus stand. Die Vögel umkreisten ihn, und die Zweige bewegten sich langsam und träge im Takt des Windes.

„Ich muss heim gehen“, endete ich.

Sie nickte gleichgültig, stand auf und begleitete mich zur Tür.

Obwohl mir bewusst war, dass meine Gefühle unrecht, sogar kindlich waren, kam ich enttäuscht und erbost von Victorias Benehmen nach Hause, weil sie mich zuerst selbst eingeladen hatte, nachdem ich jedoch ihre Bitte erfüllt hatte, kalt und geistesabwesend war. Nach einigen Minuten redete ich mir ein, dass es von ihrer Krankheit verursacht worden war und eigentlich leicht zu erklären war. Mit diesem Gedanken beruhigte ich mich ziemlich schnell.

Ich lag auf meinem Sofa und überlegte, woher die schönen Frauen so viel Macht über die Männer haben, dass ihnen alles verziehen wird. Ich glaubte damals naiv, dass ich die richtige Antwort wusste: Es sei die Hoffnung auf den Sieg in der Zukunft, die in den Gedanken der Männer nistet und das Spiel zu unterstützen zwingt. Es war mir aber klar, dass Victoria mich bereits gefangen genommen hatte, dass ich morgen, unabhängig davon, wie erbost ich gewesen war, zu ihr wiederkommen und mich mit ihrem Spiel, vielleicht ein wenig mürrisch, jedoch auf jeden Fall zufrieden geben werde, und alles machen werde, was sie nur von mir wollen wird.

So war es in der Tat auch jenes Mal. Ich kam wieder gleich nach der Arbeit zu ihr. Victoria war freundlich und nett, gab mir etwas zu Essen, wartete geduldig bis ich aufgegessen hatte.

„Heute haben wir ein großes Kulturprogramm“, kündigte sie dann an. „Wir besuchen ein Restaurant und selbstverständlich eine Diskothek.“

Sie schien über meine Überraschung sehr zufrieden zu sein.

„Du sollst nichts Schlechtes vermuten. Wir werden nur tanzen! Hab also keine Angst. Alles von meinem Geld!“

„Ich will nicht“, wehrte ich mich unsicher. „Ich habe keine Lust.“

Da lächelte sie: „Denk nur nicht, dass ich versuche, dich zu verführen. Wenn ich das wollte, würde ich das schon seit Langem gemacht haben, da kein Mann meiner Schönheit widerstehen kann. Also hier geht es nicht darum.“ Victoria berührte meinen Arm und fuhr leise und ernst fort: „Ich möchte wieder dorthin gehen, um über die Vergangenheit nachzudenken. Denn nur dann, wenn wir unsere Fehler verstehen, werden wir sie nie mehr wiederholen. Komm mit mir.“

Ich schaute ihr in die Augen und konnte ihre Bitte nicht ablehnen.

Dann handelte sie sehr energisch und drängend, gab mir eine Möglichkeit in meine Wohnung zurückzukehren, um mich umzuziehen, führte mich zu ihrem Auto, das sie schnell und sicher zum Ziel fuhr.

Im Restaurant sagte Victoria, dass es sehr gut wäre, zusammen mit mir ein kulturelles Minimum zu erledigen. Wahrscheinlich sah ich unzufrieden oder bloß überrascht aus, weil sie ihre Handfläche auf meine kalten Finger beruhigend legte. Ich nahm meine Hand weg. Victoria lächelte kaum merklich.

Sie war wunderschön. Bestimmt wusste sie, dass ihr graues glänzendes Kostüm ihr perfekt passte, deswegen benahm sie sich sehr selbstbewusst. Ich war aber nervös und fragte heftig, was mit „kulturellem Minimum“ gemeint sei. Nach Victorias Erklärung waren es die minimalen Kenntnisse, die ein kultureller Mensch in seinem Leben sammeln sollte, und zwar Besuche in einem Museum, einem Theater, einer Gemäldeausstellung und einem Zoo.

„Wozu?“

„Für die allgemeine kulturelle Entwicklung“, antwortete Victoria ernst. „Zum Beispiel warst du mal im Theater?“

„Nein, natürlich nicht. Was für eine sinnlose Zeitverschwendung!“

„Ich war mir sicher. Ich habe es sofort… Ich meine, ich habe eine riesige Lücke in deinem Wissen entdeckt“, seufzte sie tragisch. „Und warst du in einer Gemäldeausstellung?“

„Ich habe meine eigenen Bilder ausgestellt“, erwiderte ich, „wenn in unserer Schule die besten Zeichnungen im Flur ausgestellt wurden. Ich habe den dritten Platz in der Konkurrenz erreicht. Ich habe sogar ein Spielauto als Belohnung bekommen. Ich erinnere mich so gut daran, als ob das gestern passiert wäre. Und: Ich war mit der ganzen Klasse in einem Puppentheater. Dieser dumme Kasperl. Also war ich auch im Theater.“

Victoria lachte nicht über meine Witze, sondern fügte weiterhin ruhig hinzu: „Natürlich warst du nicht in Kunstausstellungen. Aber hast du ein Museum besucht?“

„Ich war im Museum! Ich war auch im Zoo!“, sagte ich bereits verärgert.

„Also gehen wir auf alle Fälle hin“, beschloss Victoria ohne Rücksicht auf den Ton meiner genervten Stimme. „Ich bin sicher, du hast unseren Zoo noch nicht gesehen. Habe ich recht?“

„Ja, ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe aber mehrere andere besucht. Früher.“

„Schade. Unser Zoo ist wunderschön. Überhaupt ist Hamburg eine ausgezeichnete Stadt. Ich liebe sie so sehr. Würdest du hier dein Leben lang bleiben?“

„Was hat eine Diskothek damit zu tun?“, fragte ich.

„Das Restaurant und die Diskothek sind bloß für den Anfang, als eine Vorspeise sozusagen“, erklärte sie. „Zum Beispiel, wenn du plötzlich Sport treiben wolltest, würdest du doch nicht mit einer Stange von zweihundert Kilo zu üben beginnen. Du startest sicherer mit einem leichteren Gewicht.“

Ich schwieg. Victoria verstand mein Gefühl und später an diesem Abend war sie sehr sanft mit mir. Sie beobachtete die Besucher, machte humorvolle Kommentare und beschrieb das Verhalten und die Charaktere des Publikums. Es schien, dass ihre Vermutungen richtig waren. Zuerst fand ich ihre Scherze lustig, aber später war ich traurig.

„Ein Professor hat ein Heilmittel gegen Krebs gefunden“, berichtete Victoria plötzlich. „Das ist wirklich ein Wundermittel. Ich habe ihm einen Brief geschrieben. In Kürze bekomme ich die Antwort.“

„Gute Nachrichten“, bemerkte ich.

Sie nickte und befahl: „Lass uns nach Hause fahren. Für heute gab es genug Unterhaltung.“

Ich hatte mich bereits an ihre Art gewöhnt und lächelte sie anstatt einer Antwort nur an.

Unterwegs nach Hause plante sie was, wann und wie wir besuchen werden. Sie überlegte laut vor sich hin, dass die beste Zeit dafür das Wochenende war. Alles klang zu komisch und amüsant, sodass ich in jenem Moment gar nicht sicher war, dass sie sich an ihr Vorhaben morgen noch erinnern wird.

Über die Liebe

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