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Sonnenhaar und die sprechende Blume
ОглавлениеVor langer Zeit lebte in einem Dorfe einmal ein Mädchen, das nannten alle Sonnenhaar, und niemand wusste mehr ihren richtigen Namen. Sie hieß so, weil ihre Haare glänzten wie Gold und weil sie leuchteten wie die Sonne an ihren besten Tagen.
Ihre Eltern waren gestorben und sie lebte alleine im alten Gartenhaus. Sie hatte nur noch ihre ältere Schwester Trutscha, die in einem anderen, weit entfernten Dorf verheiratet war, sich aber immer weiter entfremdete und nur selten zu Besuch kam. Meist stritt sie dann mit Sonnenhaar, denn Trutscha meinte, sie solle mehr aus ihrem Leben machen und endlich heiraten. Sonnenhaar mochte aber die Art, wie sie lebte. Im Dorf war sie sehr beliebt, denn sie kannte sich besonders gut mit Kräutern und Wurzeln aus, die sie mischte und bearbeitete und den Menschen im Dorf überließ, wenn jemand krank war und ihre Mixturen helfen konnten.
Eines Tages wanderte Sonnenhaar wieder einmal weit über ihren Garten hinaus ins Feld. Da hörte sie plötzlich eine Stimme, konnte aber niemanden sehen. Die Stimme rief ganz deutlich ihren Namen. Sonnenhaar suchte mit den Augen die ganze Gegend ab und merkte endlich erstaunt, dass vor ihr eine Blume stand, die zu ihr sprach: „Sonnenhaar, nimm mich mit. Ich möchte auch nützlich sein und von allen geachtet und geliebt werden.“
Die Blume war wunderschön, sie blühte leuchtend blau und es gab weit und breit nur diese eine. Aber Sonnenhaar wusste, dass sie außer ihrer Schönheit nichts zu bieten hatte, was nützlich gewesen wäre: „Oh, du blaue Schönheit, du wirst doch von allen beachtet und bewundert. Ich kenne jedoch kein Leiden, für welches du hilfreich sein könntest. Sei nur froh, dass du so wunderbar leuchtest und alle Blicke auf dich ziehst. Jeder mag dich gerne, ich auch.“ Damit ließ sie die sprechende Blume alleine und begab sich zurück nach Hause. Nach einigen Tagen trug es sich zu, dass Sonnenhaar wieder über das Feld ging und an der Blume vorbeikam: „Sonnenhaar“, rief diese sogleich. „Ich möchte dir danken. Du hast mir gezeigt, dass ich auf meine Art auch etwas Besonderes bin. Ich verrate dir dafür ein Geheimnis. Siehst du den abgestorbenen Nussbaum dort? Wenn du drei Schritte von seinem Stamm an seiner Sonnenaufgangsseite gräbst, findest du einen Schatz. Und dafür behältst du für dich, dass ich sprechen kann.“ Tatsächlich grub Sonnenhaar dicht an dem Nussbaum eine Schatulle aus. Diese bestand aus purem Gold und stammte aus einer uralten und längst untergegangenen Kultur. Als das Mädchen die Schatulle zum Kauf anbot, kamen Händler und Edelleute von weit her und Sonnenhaar wurde sehr wohlhabend.
Ihre Schwester Trutscha, die davon hörte, besuchte sie bald und tat ganz verwandt: „Liebes, hast du ein Glück! Wie hast du denn diesen Schatz nur gefunden?“ Sonnenhaar aber ließ sich das Geheimnis nicht entlocken und ihre Schwester musste sich enttäuscht und zornig auf den Heimweg machen.
Als Sonnenhaar wieder einmal über das Feld wanderte und darüber nachdachte, was wohl einer Nachbarin helfen könnte, die überall auf der Haut juckende Pusteln bekam, da führte ihr Weg an der sprechenden Blume vorbei. „Ich weiß, was du brauchst!“ Dann nannte ihr die Blume einen Nadelbaum, dessen Nadeln sie kochen und mit dem Saft einer bestimmten Wurzel vermengen sollte. Und eben dies half der Nachbarin, die bald von den Pusteln befreit wurde, Sonnenhaar übermäßig rühmte und ihr zu noch größerem Ansehen verhalf. Bald darauf erhielt Sonnenhaar erneut Besuch von ihrer neidischen Schwester Trutscha, die sie auszufragen versuchte: „Wie konntest du nur so etwas herausfinden, du bist doch kein Doktor?“ Sonnenhaar aber lächelte nur und verriet wieder nichts.
Da Trutscha ihre Schwester seitdem immer wieder heimlich beobachtete, sah sie aber nach einiger Zeit, wie die sich zu einer leuchtend blauen Blume hinabbeugte und mit ihr zu sprechen schien. Als Sonnenhaar am selben Abend einen Bauern warnte, eine Reise anzutreten und dieser dann eine kaputte Deichsel an seinem Karren entdeckte, da leuchtete Trutscha ein, dass dies etwas mit der Blume zu tun haben musste. Also ging sie am nächsten Tag zu der Stelle hin. Als die blaue Blume fragte: „Wo ist denn Sonnenhaar?“, da begriff Trutscha vollends, riss die Blume voller Gier heraus und meinte, das Geheimnis gelüftet zu haben und nun ihrerseits reich, berühmt und beliebt zu werden. Sie pflanzte die blaue Blume in ihrem kleinen Garten ein: „Sage mir, Blume, wo kann ich vergrabene Schätze finden?“ Die Blume jedoch antwortete nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Am dritten sah sie schon so aus, als wolle sie welken. Trutscha wässerte die stumme sprechende Blume und fragte, doch nichts geschah. Schließlich dachte sich die habgierige Frau, dass die Blume eine wärmere Umgebung bräuchte, grub sie aus und pflanzte sie in einen Topf, den sie an ein sonniges Plätzchen in ihrer Stube stellte.
Einige Zeit danach besuchte Trutscha ihre Schwester Sonnenhaar erneut, aber nur, weil sie meinte, dass es womöglich einen Zauberspruch oder etwas in der Art brauche, um die Blume zum Sprechen zu bringen, und dass sie dies von ihrer Schwester erfahren würde. Sonnenhaar aber hatte noch gar nicht bemerkt, dass die blaue Blume ausgegraben war, denn sie war zu beschäftigt. Und mit den ungeschickten und komischen Fragen der Schwester wusste sie nichts anzufangen.
Als Trutscha Sonnenhaar enttäuscht und voll böser Gedanken wieder verließ, da hatte sie bereits den Entschluss gefasst, die Blume noch heute wieder auszugraben und fortzuwerfen, sollte sie bei ihrer Rückkehr erneut nicht zu ihr sprechen. Als Sonnenhaar an diesem frühen Abend einmal zur Tür hinaustrat, traute sie kaum ihren Augen! Noch ganz winzig und zart, aber doch leuchtend blau wuchsen zwei der sprechenden Blumen direkt in ihrem Garten! Darüber freute sich Sonnenhaar sehr und begann sogleich, ein kleines, schützendes Beet für sie anzulegen, damit sie in Ruhe gedeihen könnten.
Als Trutscha zu ihrem Haus zurückkehrte, traute sie ebenfalls kaum ihren Augen! Wände und Mauern standen schief und im Dach klaffte ein riesiges Loch. Die Blume war enorm gewachsen, der Stängel stand so dick wie ein Baumstamm, füllte fast das ganze Haus und war zum Dach hinausgebrochen. Die blaue Blüte jedoch lag welk direkt vor der Eingangstür. Trotz ihres großen Schrecks glaubte Trutscha zu erkennen, dass die Blüte lächelte.