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Sonnenhaar und die traurige Vogelscheuche
ОглавлениеEinmal, als Sonnenhaar das wunderschöne Wetter genießen wollte und zu einem ausgedehnten Spaziergang aufbrach, da kam sie an einen gepflügten Acker, in welchen gerade erst die Saat für den Weizen eingebracht worden war. Mitten darauf, dort, wo ein schmaler Pfad über das Feld führte, stand eine große Vogelscheuche.
Als Sonnenhaar diese Stelle passierte, glaubte sie, ein schweres Seufzen zu vernehmen. Aber da war weit und breit niemand, wohin sie auch blickte. Und doch hörte sie einen zweiten Seufzer. Da bemerkte sie plötzlich, wie die Vogelscheuche die Schultern hochzog und mit einem Seufzer wieder fallen ließ. Ganz überrascht blickte das Mädchen ins Gesicht der Vogelscheuche: „Was ist denn da los?“ – „Ach“, antwortete da die Vogelscheuche tatsächlich, „ich bin ganz unglücklich! Die Krähen und Spatzen, die hierher fliegen und die neue Saat aufpicken wollen, die reden schlecht über mich.“ „Aber was sagen sie denn?“ – „Sie sagen, ich sei ein ganz hässlicher Kerl, und zu den kleineren sagen sie, dass sie sich nicht vor mir zu fürchten brauchen, weil ich mich sowieso nicht bewegen kann.“ „Weißt du was“, antwortete Sonnenhaar. „Ich frage den Bauern, ob ich dir nicht ein freundlicheres Gesicht machen darf. Dann werden sie dich bestimmt nicht mehr als hässlichen Kerl bezeichnen!“
Die Vogelscheuche war froh und dankbar, dass das Mädchen etwas für sie tun wollte und hoffte, dass der Bauer, ein gar zu grimmiger Mann, auch zustimmen würde.
Sonnenhaar verriet dem Bauern nicht, dass sie mit der Vogelscheuche selbst gesprochen und wie die sich beklagt hatte, sondern fragte: „Herr Bauer, ich habe Ihre Vogelscheuche gesehen und würde sie gerne ein bisschen verschönern. Es kostet natürlich nichts und wenn es Ihnen nicht gefällt, dann ändere ich es auch wieder.“ Der Bauer, der sowieso viel zu wenig Zeit für all seine Arbeit hatte, gab nur eine kurze, eher mürrische Antwort: „Nur zu, mir egal.“
Daraufhin band Sonnenhaar einen Strohballen zusammen und formte kunstvoll ein ganz fröhliches Gesicht hinein, so wie bei einem Schneemann, mit Steinen und Nüssen und einer Mohrrübe. Dann ging sie zu dem Feld und tauschte den Kopf der Vogelscheuche aus: „Ich komme bald wieder und bin schon gespannt, wie es dann geht!“
Einige Tage später herrschte wieder wundervoller Sonnenschein und sie ging zu dem Feld, wo die Vogelscheuche stand. Aber was war geschehen? Die Vogelscheuche stand da ganz in sich zusammengefallen, mit hängendem Kopf und weinte herzzerreißend. „Oje, liebe Vogelscheuche, was ist denn passiert?“, fragte sie. „Du siehst ja schrecklich mitgenommen aus!“
„Es geht mir auch nicht gut. Die Krähen und Elstern und Spatzen verspotten mich und ich höre sie sagen, dass ich jetzt zwar lachen könne, aber immer noch ein dürrer, hässlicher, nackter Gesell sei, der sich nicht bewegen kann. Und ihre Kinder haben überhaupt keine Angst vor mir, sondern picken sogar direkt unter mir die Körner weg.“ Sonnenhaar hatte wirklich Mitleid und überlegte, aber die Vogelscheuche sprach weiter:
„Traurig bin ich aber vor allem deshalb, weil der Bauer hier war und sah, dass die Vögel furchtlos seine Saat fressen und mich nicht beachten. Ich habe gehört, wie er zu seinem kleinen Jungen sagte, dass er mich bald entfernt und zu Brennholz macht, weil ich zu nichts taugen würde.“ Dann weinte die Vogelscheuche noch heftiger als zuvor. Sonnenhaar verabschiedete sich und versprach, bald wiederzukommen.
Sie ging auf direktem Weg zu dem Bauern und fragte ihn, ob er zufrieden sei mit ihrer Arbeit. Als der sagte, er mache die Vogelscheuche zu Brennholz, da bat sie ihn, ihr noch mal die Möglichkeit zu geben, deren Nützlichkeit zu erhöhen, und der Bauer stimmte abermals mürrisch zu.
Daheim im Gartenhaus stöberte sie nach der schweren Truhe mit einigen Sachen ihrer verstorbenen Eltern, die sie aufbewahrte. Sie fand, was sie suchte, nämlich ein weites, weißes Nachthemd. Sonnenhaar mischte aus dem Saft von Wildbeeren und zerstampften Kräutern verschiedene Farben. Damit bemalte sie das Nachthemd von allen Seiten mit Drachen, Falken und allerlei Kreaturen, vor denen die Vögel sich fürchteten, und sie sah zu, dass die Farben entweder lähmend schrill oder ganz grauenhaft dunkel wurden. Zuletzt trennte sie das Hemd an den Seiten ein Stück weit auf, ebenso an den Ärmeln. Mit einem Messer schnitt sie dann Fransen in unterschiedlicher Breite und Länge dort hinein und bemalte auch diese in allen möglichen Farben.
„Ich ziehe dir das jetzt an“, erklärte Sonnenhaar der Vogelscheuche. „Und wenn ich in ein paar Tagen wieder hierher komme, dann sagst du mir, ob es besser wird auf dem Acker.“
Tatsächlich dauerte es eine ganze Woche, bis Sonnenhaar wieder die Zeit fand, zu dem Feld hinauszuwandern. Schon von Weitem konnte sie erkennen, dass die Vogelscheuche ein wenig nach vorne gebeugt dastand und dass das Nachthemd wild im Wind flatterte.
Als sie ankam, da sprudelte es nur so heraus: „Ich bin ja so glücklich! Vielen, vielen Dank, das war eine tolle Idee! Die Vögel fürchten sich und es kommen nur noch sehr wenige und die bleiben nur, bis etwas Wind aufkommt und fliegen gleich wieder davon. Der Bauer war hier und sagte zu seinem Jungen, er hätte noch nie so eine tolle und erfolgreiche Vogelscheuche gehabt. Es geht mir wirklich sehr gut!“
Nun war auch Sonnenhaar sehr zufrieden, sagte der Vogelscheuche adieu und wanderte mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen fröhlich weiter.