Читать книгу Mara und der Feuerbringer - Tommy Krappweis - Страница 10

Kapitel 5

Оглавление

Am Montag in der Schule war es zunächst so wie immer. Langweilig bis nervtötend. Und regnerisch. Also mal wieder typisch.

Doch in der Pause fand Larissa zur Abwechslung ein neues Opfer, das sie auslachen konnte: einen kleinen blonden, dicklichen Jungen, vermutlich aus der Fünften, den Mara bisher noch nie bemerkt hatte. Sie fragte sich, wie er wohl Larissas Aufmerksamkeit erregt hatte. Ganz offensichtlich hatte der Junge nämlich nichts gemacht, außer verloren herumzustehen. Aber vielleicht war er einfach nur zwei Dinge gewesen: da. Und dick.

Mehr brauchte es ja gar nicht für Larissa, und schon schallte ihr meckerndes Gelächter mal wieder quer über den Pausenhof. Dabei zeigte sie auf die zugegebenermaßen nicht besonders zeitgemäße Bommelmütze, die der Junge wahrscheinlich von einer fürsorglichen Mutter aufgesetzt bekommen hatte. Sofort stimmten auch die ganzen Schleimhilden rund um Larissa in das Gelächter mit ein.

Der Junge wurde immer kleiner, traute sich aber auch nicht wegzugehen. Mara kannte das Gefühl. Wenn man sich so vorkam, als wären die Beine mit dem Boden verwachsen. Und jede Bewegung, die man machte, fühlte sich so schwer an, als wäre man gefangen in einem Schwimmbecken voller Götterspeise.

Doch als Larissa dann auch noch anfing, den Jungen an seinem Schal zu ziehen und ihn sich unter dem Gelächter der Zickenclique hin- und herdrehen ließ wie auf einem Präsentierteller im Home Order TV, kam ihr plötzlich ein völlig irrsinniger Gedanke: Musste sie nicht dazwischengehen und dem Jungen helfen? War es nicht sogar ihre Pflicht? Wie sollte sie denn die Welt retten, wenn sie nicht einmal den Mut hatte, einen kleinen Jungen von Larissa und ihren Hohlbirnen wegzuziehen?

Irgendwie kam ihr im Vergleich die Sache mit der Weltrettung gerade deutlich einfacher vor. Trotzdem, sie konnte nicht länger zusehen, wie Larissa den Jungen an seinem Schal hin- und herzerrte wie einen Tanzbären am Nasenring! Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie stapfte wild entschlossen direkt auf Larissa und die anderen zu …

… und hätte auch innerhalb der nächsten 30 Sekunden zwischen dem Jungen und Larissa gestanden, wenn nicht in dem Moment der Gong das Ende der Pause signalisiert hätte.

Aus Hunderten von Schülerkehlen löste sich das übliche frustrierte Aufstöhnen. Sofort blockierten mehrere hundert Schülerkörper Maras Weg zu Larissa und dem Jungen und trotteten zurück in ihre Klassen.

Nur der kleine Junge stand immer noch alleine mit hängendem Kopf an der Stelle, wo Larissa und ihre Clique ihn stehen gelassen hatten. Mara versuchte, sich einen Weg zu ihm zu bahnen. Sie wollte ihm wenigstens erklären, dass er sich das nicht so sehr zu Herzen nehmen sollte. Doch dann wurde auch sie vom Gewusel erfasst und zurückgespült in das Schulgebäude …

Kaum ertönte der erlösende letzte Gong des Tages, war Mara auch schon unterwegs zur U-Bahn. Von dort würde sie mit der U2 zum Sendlinger Tor fahren und dann umsteigen in die U6 oder U3 zur Universität.

Für die Fahrt musste sie stempeln, denn hier galt ihre Monatskarte nicht. Aber Gott sei Dank hatte sie noch eine Streifenkarte mit zwei übrigen Streifen in ihrer Jacke. Die Fahrt ging für Mara überraschenderweise schneller vorbei als der tägliche Schulweg, obwohl es mehr Stationen waren und sie sogar einmal umsteigen musste.

An der Haltestelle Universität folgte Mara einfach der Beschilderung, bis sie auf dem Geschwister-Scholl-Platz direkt vor dem Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität stand.

Mara sah sich um. Mitten auf dem Platz befand sich ein großer Brunnen, auf dessen Rand mehrere Studenten saßen. Dahinter erstreckte sich ein ausladendes u-förmiges Gebäude, das genauso aussah, wie sich Mara eine Universität immer vorgestellt hatte: ein riesiges, irgendwie schlossartiges Gebäude mit vielen Fenstern und einem großen Eingang, das von außen düster wirkte. So als wäre innen alles voller dunklem Holz und mit alten Ölbildern toter Professoren an den Wänden, außerdem voll mit unzähligen Treppen und noch mehr Gängen mit Hunderten von Schildern, auf denen sinnlose Abkürzungen standen und Pfeile in alle Richtungen zeigten.

Mara atmete einmal durch und ging dann wie auf Autopilot zwischen den Studenten hindurch, direkt auf den Eingang zu.

Dabei bemerkte sie, dass ein paar Meter vor dem Eingang eine Art Denkmal flach in die Pflastersteine auf dem Boden eingearbeitet war. Sie wollte erst drum herumlaufen, aber genau in dem Moment flog ihr ein ziemlich großer schwarzer Vogel laut krähend direkt entgegen. Und dieser Vogel machte keinerlei Anstalten, ihr aus dem Weg zu fliegen!

Mara ging einen Schritt zur Seite und der Vogel flatterte tatsächlich genau dort an ihr vorbei, wo sich gerade noch Maras Kopf befunden hatte. Aber dadurch tappte sie nun doch auf das eingelassene Kunstwerk …

Kaum hatte die Sohle ihres Schuhs das polierte Metall im Boden berührt, explodierte ein Bild so urplötzlich in ihrem Kopf, dass sie fast in die Knie gegangen wäre.

Trotz der Überraschung unterdrückte Mara einen ersten Impuls, das Bild sofort zu vertreiben. Sie dachte daran, was der Zweig ihr gesagt hatte. Sie war nun mal eine Spákona und sie musste wohl oder übel lernen, mit ihrer Gabe umzugehen. Also zwang sich Mara zu ignorieren, dass sie auf einem Platz voller Studenten stand, die sie jetzt womöglich alle verwundert anstarrten, und als sie die Augen schloss, war ihr, als würde sich dafür ein inneres Auge öffnen …

Direkt vor ihr stand eine junge Frau mit schulterlangen dunklen Haaren. Sie blickte von einer Art Balkon oder Balustrade hinunter in eine große Halle mit vielen Menschen. Die Frau hielt einen Stapel eng beschriebener Blätter mit beiden Händen an die Brust gedrückt. Sie presste die Lippen zusammen, ihre Finger gruben sich tief in die Blätter … und mit einem Mal warf sie den ganzen Stapel hoch in die Luft … wie in Zeitlupe fächerten sich die Blätter auf, und für einen Moment wirkte es, als würden sie sich entschließen einfach in der Luft stehen zu bleiben … bis sie dann doch tänzelnd und leise raschelnd in die Tiefe taumelten … Der Anblick war wunderschön und auf eine seltsame Weise erhebend.

Obwohl Mara nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte, war ihr klar, dass dieser Moment etwas ganz Besonderes sein musste.

Doch in derselben Sekunde erstarrte sie: Das Bild hatte sich plötzlich verändert. Mara blickte auf eine Konstruktion aus Holz, an deren oberem Ende etwas metallisch glänzte. Bevor sie Gelegenheit hatte zu erkennen, worum es sich handelte, raste das glänzende Etwas an ihr vorbei und schlug mit einem Geräusch auf, das Mara das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie schreckte hoch …

Als sie die Augen öffnete, standen mehrere Leute um sie herum. Sie spürte tastende Finger an ihrem Handgelenk.

»Kannst du mich hören? Hallo?«, fragte eine tiefe Stimme und jemand hielt ihr Wasser aus einer Plastikflasche entgegen.

Zitternd griff Mara nach der Flasche und nahm einen Schluck. Schließlich fand sie auch ihre Stimme wieder.

»Was … was ist denn passiert?«, stammelte sie und blickte den Mann an, der offensichtlich ihren Puls fühlte.

»Du bist umgekippt, junge Frau«, sagte er und wendete sich dann zu den Umstehenden. »Bitte geht doch ein Stück zurück, ihr zerdrückt die Kleine ja fast.«

Sofort folgten alle seiner Bitte.

Mara sah den Mann neben sich verwundert an. Er war älter als ihre Mutter, aber noch nicht so alt wie ihr Opa. Er trug eine Art Sakko aus grobem, bräunlichem Stoff, ein helles Hemd und eine bequem wirkende Cordhose mit ausgebeulten Knien und einem dicken Schlüsselbund am Gürtel. Neben ihm stand eine ehemals vermutlich schwarze Ledertasche mit einem abgegriffenen Henkel, der so dünn und spröde wirkte, als würde er bei der nächsten Berührung zu Staub zerfallen.

Obwohl der Mann einen dichten weißen Vollbart trug und eine altmodische Brille auf der Nase hatte, wirkte er doch irgendwie jung. Das mochte vielleicht an seinen auffallend grünen Augen mit den kleinen Lachfältchen drum herum liegen. Mit einer seltsamen Mischung aus jungenhafter Neugier und erfahrenem Wissen funkelten sie Mara an.

»Da hast du dir ja einen geschichtsträchtigen Platz für deine Ohnmacht ausgesucht«, brummte der Mann unter seinem Bart hervor. Irgendwie hatte seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf Mara. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie direkt auf dem eingelassenen Denkmal saß, auf das sie getreten war. Der Mann schien zu bemerken, wohin sie blickte, und sagte: »Ja, deswegen heißt das hier Geschwister-Scholl-Platz. Habt ihr wohl noch nicht in der Schule durchgenommen, oder?«

Mara schüttelte den Kopf. In dem Moment schien sich der Mann daran zu erinnern, dass er immer noch Maras Handgelenk hielt.

»Oh, entschuldige. Puls ist da. Ich würde mal sagen, du lebst noch, oder was meinst du?« Er lächelte. Dann streckte er ihr die Hand entgegen und half ihr aufzustehen.

Wortlos ließ sich Mara von ihm hochziehen.

»Na also, geht doch schon wieder ganz gut«, sagte der Mann. »Willst du noch einen Schluck Wasser?«

»Nein, danke«, antwortete Mara. »Und danke für … die Hilfe.«

»Aber das ist doch selbstverständlich, junge Dame. Oh, entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Weissinger mein Name. Reinhold Weissinger. Ich bin hier an der Uni Professor für …«

»Germanische Mythologie«, vollendete Mara freudig seinen Satz. Sie konnte ihr Glück gar nicht fassen! Am liebsten hätte Mara dem Kamikaze-Vogel gedankt, ließ es aber aus mehreren Gründen sein. Einer davon war, dass der Vogel weit und breit nicht mehr zu sehen war …

Der Professor blickte sie mit einer belustigten Mischung aus Neugier und gespieltem Stolz an.

»Hoppla! Nun denn, wenngleich ich mich natürlich geehrt fühle, dass mein Name bis über die Universitätsmauern hinausgedrungen zu sein scheint, muss ich doch gestehen, dass ich neugierig bin, woher du meinen Namen kennst, junges Fräulein.«

»Aus dem Internet!«, antwortete Mara aufgeregt. »Ich war auf der Suche nach jemandem, der sich mit … mit …« Sie verzichtete darauf, das Wort Spákona in den Mund zu nehmen, und sagte stattdessen: »… der sich mit germanischen Göttern auskennt und noch lebt.«

Im selben Moment erkannte sie, dass das wohl nicht sonderlich charmant ausgedrückt war, aber der Professor schien es ihr nicht übel zu nehmen – ganz im Gegenteil.

Er grinste, als er sagte: »Nun ja, ein bisschen Zeit hab ich wohl noch. Nicht so viel wie du vielleicht – aber ich hoffe, es genügt, um deine Fragen zu beantworten. Bitte folgen Sie mir in mein Besprechungszimmer, junge Dame.«

Er machte ein schalkhaftes Zuhörergesicht und setzte sich auf den breiten Rand des großen Brunnens. Dann schlug er mit einer überraschend gelenkigen Bewegung die Beine übereinander, schob sich mit dem Zeigefinger die Brille etwas zu tief auf die Nasenspitze und blickte Mara über die Gläser hinweg mit dem übertriebensten Professorenblick an, den sie jemals gesehen hatte.

Mara konnte nicht anders: Sie musste lachen. Es tat ihr richtig gut! Sie setzte sich neben den Professor und überlegte kurz, was genau sie eigentlich fragen wollte.

Dann atmete sie ein Mal tief durch und sprach: »Also, mein Name ist Mara Lorbeer, ich wohne in der Au, in der Edlingerstraße und … und …«

Eigentlich war es völlig unerheblich, wo sie wohnte, aber irgendwie fühlte sich Mara jetzt besser. Sie hatte das Gefühl, dass sie wieder im Hier und Jetzt angelangt war.

Allerdings war sie immer noch nicht bereit, dem Professor wirklich alles zu erzählen. Und so stellte sie stattdessen erst einmal eine andere Frage: »Also, ich wüsste gerne, wie man … Loki wieder fesseln könnte, wenn er … falls er sich … befreien könnte. Eventuell.«

Wenn ein Gespräch von einem Augenblick auf den nächsten völlig zum Erliegen kommt und keiner mehr ein Wort sagt, hört man plötzlich viele Geräusche, die einem vorher nicht aufgefallen wären.

Mara hörte ein Taxi, das eine nahegelegene Straße entlangfuhr. Sie hörte eine Frau, die schrill und künstlich lachte. Direkt vor Maras Füßen pickte gurrend eine Taube an den Resten einer Gurkenscheibe, wie man sie gerne mal aus dem Hamburger pult. Immer wieder schlug der Schnabel auf die Pflastersteine.

Pok pok. Pok pok. Pokpokpok.

Professor Weissinger schien währenddessen immer noch damit beschäftigt zu sein, eine Antwort zu finden. Allerdings nicht unbedingt eine Antwort auf Maras Frage, sondern wohl eher eine Antwort darauf, wie ein vierzehnjähriges Mädchen ausgerechnet auf die Idee kommt, so eine Frage zu stellen! Oder überhaupt irgendwer.

Maras Gedanken rasten. Sie hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? Ihn vielleicht beleidigt, ohne es zu bemerken? Aber sie hatte doch nur gefragt, ob …

In diesem Moment hörte Mara jemanden sprechen: »Ach ja, und wer ist die traurige Frau, die neben ihm steht, und was will sie mit der Holzschale?«, und fast gleichzeitig stellte sie fest, dass sie das wohl gerade selbst gesagt hatte.

Stimmt, dachte sie, das wollte ich ja auch noch fragen. Na ja, hab ich jetzt wohl.

Professor Weissinger sah Mara jetzt mit einem Blick an, der sie eindeutig an ein Sofakissen erinnerte. Ohne dass sie jetzt hätte sagen können, was genau ihr an diesem Vergleich so passend erschien, fand Mara, dass es für den Ausdruck im Gesicht des Professors tatsächlich keine bessere Beschreibung gab.

Als hätte er selbst gemerkt, dass es sich für einen Universitätsprofessor nicht geziemte, mit dem Gesichtsausdruck eines Sofakissens auf ein junges Mädchen zu starren, fand der Professor schließlich seine Stimme wieder und befahl dieser, sich gefälligst zurück in seinen Hals zu scheren! Mit einem metallischen Räuspern, das klang, als hätte er ein Loch im Auspuff, rasteten seine Stimmbänder ein und nahmen ihre Arbeit wieder auf.

»Was hältst du davon, wenn wir das doch in meinem Büro besprechen, junge Dame? Es ist gleich da oben im zweiten Stock.«

Mara und der Feuerbringer

Подняться наверх