Читать книгу Mein erster Schwultag - Tommy Toalingling - Страница 8
SPÄTZÜNDER
ОглавлениеDu kennst das, du wachst morgens auf und plötzlich sind alle aus deinem Freundeskreis verliebt und vergeben. »Nee, ich hab keine Freundin« war von da an eine Antwort, die ich meinen Mitschülerinnen und Mitschülern immer wieder geben musste. »Ich muss ja nicht. Meine biologische Uhr tickt nicht«, sagte ich nicht nur, um die Neugier der anderen endlich zu stillen, sondern auch, um mich selbst davon zu überzeugen. Ich war fünfzehn Jahre alt.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in jenem Sommer allein zu Hause saß und versuchte, mir die Zeit zu vertreiben. So wie das eine Mal, als ich eigentlich unseren Detektivclub wiederbeleben wollte, aber niemand meiner Freunde Zeit hatte. Und es lag ganz bestimmt und auf jeden Fall daran, dass sie keine Zeit hatten, und nicht daran, dass wir bisher absolut gar keinen Fall gelöst hatten und dies auf Dauer frustrierend war. Einmal hatten wir zwar eine Katze gerettet, die in einem Baum saß, aber nur um dann zu beobachten, dass sie nach unserer Rettung wieder in dieselbe Eiche kletterte … Sie wollte wohl gar nicht gerettet werden. Ich schon, und zwar vor der Einsamkeit, in der ich mich gerade befand.
Ich saß in meinem Zimmer herum und hoffte, dass meine Freunde ihre Meinung noch ändern würden. Wir hatten doch schließlich immer alles zusammen gemacht. Aber die meisten meiner Freundinnen und Freunde waren jetzt zum ersten Mal vergeben und erfreuten sich daran, mit ihren selbst ernannten Seelenverwandten Zeit zu verbringen.
Seelenverwandtschaft, dass ich nicht lache. Was sollte das überhaupt sein? Wahrscheinlich gab es darüber Leserbriefe in den Jugendzeitschriften Bravo oder Popcorn. »Wie merke ich, dass wir füreinander bestimmt sind?«, hieß doch dort jeder zweite Test, der angeblich deine wahre Liebe bestimmen konnte. Ich fand das Konzept der Seelenverwandtschaft jedoch auch aus anderen Gründen seltsam. Denn macht ein Verwandtschaftsgrad einen nicht irgendwie zu … Verwandten? Komische Vorstellung, so mit dem Lebenspartner verwandt zu sein. Aber was soll ich sagen, ich komme vom Dorf. Es gibt nichts, was man da noch nicht gesehen hat.
Meine Freunde hielt nichts davon ab, die eigene Verliebtheit jedem unter die Nase zu reiben. Ob man wollte oder nicht. Ich fand es fast schon gruselig, wie alle Pärchen scheinbar aneinanderklebten und turtelnd durch die Schulflure, die Innenstadt oder um den Maschsee zogen. Beinahe haben verliebte Menschen auch was von Zombies. Nur dass Letztere nach frischem Fleisch verlangen und liebestolle Jugendliche nach Tretbooten in Schwanenform. Nirgendwo war man vor denen noch sicher. Und während sie Eis aßen, sich dabei gleichzeitig Liebesbekundungen in die Ohren hauchten und Händchen hielten, vergaßen sie etwas ganz Entscheidendes: Mich! Und das immer wieder. Und so saß ich wieder allein zu Hause und merkte, wie kaum noch jemand Zeit für mich hatte. Mein Handy hatte ich vorsichtshalber auf lautlos gestellt und zur Seite gelegt – außerhalb meiner Reichweite.
Es meldete sich ohnehin niemand an diesem schönen Sommertag. So wie sich auch in den vergangenen Tagen niemand gemeldet hatte. Wenn sich doch jemand von meinen Freundinnen oder Freunden erbarmte, Zeit abzuknapsen, stand immer eine Bedingung im Raum: »Schatzi muss mit!« Mittlerweile wollte kaum noch jemand etwas mit mir allein unternehmen und wenn ich nicht wollte, dass »Schatzi« mitkam, dann gab es eine der vielen Ausreden, die ich bestimmt unzählige Male gehört hatte. Ich kannte sie alle, aber sie ließen sich auf eine ganz wesentliche Aussage runterbrechen: »Wir haben leider schon andere Pläne, Tommy. Das verstehst du doch sicherlich.« Klar, ich verstand. Oder zumindest versuchte ich es. Wenn man frisch zusammen ist, möchte man ja auch die Zweisamkeit genießen. Da ist jede andere Person eine Person zu viel. Aber das heißt doch nicht, dass man seine besten Freunde vernachlässigen muss, oder?
»Aus den Augen, aus dem Sinn«, pflegte meine Oma schon immer zu sagen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Satz schon so früh in meinem Leben begegnen würde. Denn eigentlich waren meine Freunde und ich unzertrennlich gewesen. Wir hatten alles zusammen gemacht. Aber das war mit den neuen Seelenverwandten verpufft. Plötzlich nur noch eine Option zu sein und keine Priorität mehr zu haben, war ungewohnt.
Na ja, was soll’s, dachte ich mir oft und schluckte meinen Frust runter. Auch das würde irgendwann vorbei sein. Hoffentlich. Im Winter fährt schließlich keiner Tretboot, das wäre dann meine Chance.
Eine Frage, die ich mir fast so oft stellte wie die, ob jemand Zeit für mich hatte, war, wie meine Freunde plötzlich und so völlig unerwartet ihre Seelenverwandten kennengelernt hatten. Hatte es da ein geheimes Treffen gegeben, das Tommys vorenthalten war? Hatte es Beziehungen irgendwo im Angebot gegeben und ich hatte es verpasst? Stand es in der Bravo, dass man mit fünfzehn Jahren eine Freundin haben musste? Obwohl ich meine Freunde so gut kannte, wunderte ich mich über dieses plötzliche Interesse an der Liebe und an einer Beziehung. Bislang brauchten wir so was doch nicht. Wir waren glücklich! Wir waren eine eingeschworene Clique. Jedes Wochenende waren wir verabredet, um Dinge zu unternehmen, Blödsinn zu machen, zu lachen und zu spielen. Wir bauten Buden aus Ästen, Stöcken und Laub, machten Klingelstreiche und traten Straßenlaternen aus (eine Unart, die man vermutlich nur aus der Vorstadt kennt, wenn man schlecht erzogene Freunde hatte). Wir brauchten nur uns und keine Partner oder Partnerinnen, die uns stören würden. Fehlte einmal einer aus unserer Gruppe, machte unsere Unternehmung auch gleich viel weniger Spaß und man freute sich auf ein baldiges Wiedersehen, da man sich dann viel zu erzählen hatte.
Alles, was meine Freunde aktuell erzählen konnten, war, wie toll es war, vergeben zu sein! Ach, und ganz vergessen, plötzlich wollte jeder über sein erstes Mal sprechen. Mich verwirrte das. Das erste Mal? Hatte man das so früh überhaupt schon? Und war ich der Einzige, der nicht darüber reden wollte? Wie redete man eigentlich darüber? Ich stellte mir das wie eine Rezension bei Google vor inklusive Sternchenvergabe: »Drei Sterne. Er war stets bemüht, aber am Ende fehlte es an Ausdauer.«
Kurzum: Mit fünfzehn hatte ich überhaupt kein Interesse an einer Beziehung, am Händchenhalten, am Küssen oder an diesem einen Mal. Ich konnte nichts Gutes daran finden und je länger ich darüber nachdachte, umso mehr Negatives fiel mir ein. Allein der Gedanke daran, sich vor einer anderen Person auszuziehen, verursachte bei mir ein flaues Gefühl im Magen. Nackt vor einer anderen Person? Danke für das Angebot, aber nein danke. Da überließ ich gerne anderen den Vortritt.
Mein Opa würde diese Einstellung »kauzig« nennen. Ich glaube, das heißt so viel wie »nett, aber seltsam«. Das wäre mit fünfzehn auch mein Kommentar zu einem nackten fremden Körper vor mir gewesen: »Nett, dass du das machst. Aber seltsam!« Vielleicht war ich ja auch ein bisschen wie mein Opa. Er ist glücklich ohne Partnerschaft, und das, seit ich denken kann. Er muss keine Kompromisse eingehen und macht das, was ihm gefällt, wie er es will und wann er es will. Fast so wie Pippi Langstrumpf oder Peter Pan. Für mich klang das spitze. Die einzige Krux war, dass ich das schlecht als Argument nutzen konnte, ohne danach vollkommen dumm von der Seite angeschaut zu werden. »Nein, ich habe keine Freundin, weil ich so sein möchte wie mein Opa. Alleine glücklich!«
Das klingt nicht nur uncool, das klingt auch so, als ob meine Klassenkameradinnen und -kameraden früher oder später noch einen weiteren Grund haben würden, mich aufzuziehen. Dabei reichte es jetzt schon, da ich der Einzige in der Klasse war, der keine Markenklamotten hatte. Auch wenn bestimmt nicht jeder Originale trug, sondern sich das ein oder andere gefälschte Teil aus dem Polen- oder Tschechienurlaub gegönnt hatte. Das, was zählte, war die Wirkung nach außen: Markenkleidung tragen bedeutete, cool zu sein. Und bei dem Punkt stand ich definitiv im Minus. Sogar noch ein bisschen weiter im Minus als Streber-Kathrin, die unserer Lehrerin fast täglich Geschenke auf das Pult legte. Zu allem Überfluss war ich auch noch der Kleinste aus der Klasse. So klein, dass man mich einfach aus dem Klassenzimmerfenster werfen konnte. Das klingt vielleicht wie ein Witz, aber das hat meine Klasse superoft mit mir gemacht. Ich konnte das Ganze nur dank meiner übermenschlichen Fähigkeiten überleben. Na gut, ich will nicht dramatisieren und dir die Wahrheit sagen. Aber nur dir: Unser Klassenzimmer lag im Erdgeschoss. Ich habe mich also nie verletzt und weil alle gelacht haben, habe ich einfach irgendwann angefangen mitzulachen. Ist ja auch wirklich zum Schießen, so ein Wurf aus dem Fenster. Das war aber die einzige Methode, die mir einfiel, wie ich es trotzdem schaffen konnte dazuzugehören. Wenn ich mich gewehrt hätte, hätten sie bestimmt noch schlimmere Sachen gemacht oder mich irgendwann komplett ausgegrenzt. »Man muss auch mal über sich selbst lachen können«, heißt es doch immer.
Wenn ich dann noch gesagt hätte, dass ich wie mein Opa sein wollte, hätte ich direkt die Schule wechseln können – oder besser noch auswandern, meinen Namen ändern oder den eigenen Tod vortäuschen. Idealerweise mit einem Sprung aus dem Fenster, damit sich der Kreis schließt. Nein, das war selbst für mich zu weit hergeholt. Also antwortete ich jedes Mal fast routiniert auf die ständig präsente Frage nach dem Beziehungsstatus: »Nein, ich habe keine Freundin.« Was ich bei meiner kleinen, ernst gemeinten Antwort nicht bedachte, war der Rattenschwanz an neugierigen Folgefragen. Irgendwann erhielt ich zum ersten Mal eine Gegenfrage, die mich fast umhaute: »Ach, also bist du schwul?« Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Wurde ich gerade tatsächlich gefragt, ob ich etwas anderes war als hetero? Ich? Schwul? Auf keinen Fall! Das hätte ich doch schließlich am besten wissen müssen! Ich war NICHT schwul. Punkt. Dass ich das überhaupt gefragt wurde. Ich war gar nichts! Weder heterosexuell noch homosexuell! Ich war einfach nur Tommy. Tommy ohne Freundin und ohne Interesse an der Liebe oder an einem Seelenverwandten. Warum konnte man das nicht einfach akzeptieren? Das war doch vollkommen okay, oder?
Eigentlich hätte ich es ahnen müssen, dass meine Verneinung dieser Frage meinen Klassenkameraden nicht ausreichte. Von diesem Zeitpunkt an wurde ich sehr oft und regelmäßig gefragt, warum ich keine Freundin hatte, ob ich einen Freund hatte, ob ich schwul war und wie lange ich schon schwul war. Warum musste ich denn eigentlich überhaupt wissen, was ich war? Es interessierte mich ja auch nicht, was andere waren. Das, was mich interessierte, war, dass Freundschaften nicht leiden sollten, nur weil man sich gerade in einer Liebesbeziehung befand. Sollte doch abgesehen davon jeder machen, was er oder sie wollte. Mir war es auch schnuppe, ob zwei Männer oder zwei Frauen zusammen waren. Das war mir wirklich vollkommen egal! Ich wusste lediglich: Für mich war es keine Option und ich wollte auch nichts damit zu tun haben. Allein das Wort »schwul«, wie das schon klingt.
»Schwul« waren für mich ganz andere Sachen! Zum Beispiel Klassenarbeiten, die schiefliefen, abgebrochene Stifte, platte Autoreifen, angebranntes Essen und alle Polizisten. So hatte ich es zu Hause gelernt und so war es doch dann auch. Warum sollte sich meine Familie damit irren? Sie hatten doch alle viel mehr Lebenserfahrung als ich. Schwul, dass ich nicht lache. Warum sollte ich mir eine so gehasste Sexualität aussuchen? Damit schadete man sich doch eher, als dass es einen glücklich machte.
Ich fragte mich, wie es überhaupt sein konnte, dass sich andere Leute über meine Sexualität Gedanken machten, bevor ich dazu gekommen war. Warum war das so interessant für Außenstehende? Das verstand ich überhaupt nicht. Ich machte mir doch auch keine Gedanken über die Sexualität anderer. Ich fand das unwichtig. Das, was zählt, ist doch, wie man als Mensch ist, oder irre ich mich?
Du siehst: Ich hatte plötzlich viel Zeit zum Nachdenken. Da ich weder einen Computer noch ein Smartphone besaß, musste ich meine Freizeit anders gestalten. Und da sich diese nun unfreiwillig verdoppelt hatte, musste ich mir gut überlegen, was mich nicht auf blöde Gedanken brachte. Deswegen unternahm ich viel mit meinem Bruder oder las Harry Potter. Obwohl mir auch da das Thema Beziehung auf die Nase gedrückt wurde. Selbst der sabbernde Harry und sogar Ron in seinem hässlichen Zottelmantel fanden ein Date. Aber nicht nur die. Auch mein kleiner Bruder Dennis hatte bereits eine Freundin.
Mein Bruder sagte immer wieder, dass er es komisch fände, dass ich so viele weibliche Freunde, aber kein echtes Interesse an einer als Freundin hätte. Aber bevor er es komisch fand, hatte er mir zig Liebeleien angedichtet. Immer wenn eine Freundin zu Besuch gewesen war, hatte er neckisch behauptet, dass da doch was zwischen uns liefe. Ich fand das immer superkindisch von ihm, aber immerhin hatte ich dann ein paar Tage meine Ruhe vor seinen nervigen Fragen bezüglich meines Beziehungsstatus. Irgendwann ging mir ein Licht auf und ich versuchte auch in der Schule einen Strategiewechsel.
»Klar hab ich eine Freundin, ich bin doch nicht schwul!?«, log ich, als ich mich nach dem Pausenklingeln auf den Weg in die Mensa gemacht hatte und mir der Klassenclown Daniel den Weg versperrte. Was bei meinem Bruder funktioniert hatte, hatte auch Potenzial, in der Schule zu einem Selbstläufer zu werden. Aber Daniel war nicht auf den Kopf gefallen, weshalb er die entscheidende Gegenfrage auf meine Lüge stellte: »Ach ja? Wer soll das sein?«
Mist. Damit hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht war ich doch etwas zu unvorbereitet mit der Lüge in mein erfundenes Beziehungsleben gestartet. Ich hätte eine Charakterbeschreibung vorbereiten sollen, hätte eine glaubhafte und schwer überprüfbare Backstory und bearbeitete Fotos parat legen müssen, die mich mit einem unbekannten Mädchen zeigten.
»Ähm, die kennst du nicht. Sie ist nicht auf unserer Schule!«, stammelte ich unsicher. Wow, welch eine Glanzleistung. Jeder Mensch vor der Kamera einer Scripted-Reality-Sendung hätte diese Story glaubhafter rübergebracht als ich in diesem Moment. Aber gut, ich hatte nun mal handeln müssen. Lieber schnell schlecht lügen als lange überlegen und durchdacht antworten … Oder war das doch andersherum? Egal, nun war es zu spät.
Zu meiner Überraschung schien Daniel meine laienhafte Darbietung wohl nicht komisch vorgekommen zu sein, denn er hechtete mit einem »Hey, wartet auf mich!« seinen Freunden Richtung Pausenhof hinterher. Bis zu unserer nächsten Begegnung brauchte ich eine glaubhafte Geschichte oder ein Manuskript, an dem ich mich festhalten konnte. So etwas Unangenehmes durfte mir nicht noch einmal passieren. Nicht dass Daniel am Ende noch herumerzählte, dass ich mir eine Freundin ausgedacht hatte. Dann würden auf jeden Fall alle denken, dass ich meine Sexualität verstecken wollte. Wollte ich aber gar nicht. Ich wollte allen beweisen, dass ich heterosexuell normal war!
Ich wollte das Wochenende nutzen, um mir einen Plan auszudenken, wie ich eine Freundin außerhalb der Schule finden konnte. Das war gar nicht so einfach, da ich im Wesentlichen nur mit den Leuten aus der Schule befreundet war. Ich war zwar im Schwimmverein, aber leider waren da nur Jungs in meiner Gruppe und zu den anderen Gruppen hatten wir nur sehr wenig Kontakt. Ich konnte ja schlecht vor der Umkleide des anderen Schwimmteams warten und mir eine Freundin aussuchen. Außerdem sah ich ohne Brille sowieso nichts und hätte nicht einmal gewusst, wer mir gegenüberstand. Bei meinem Glück würde ich minutenlang mit einer Poolnudel flirten, ohne es zu merken. Also war der Schwimmverein keine Option. Es sei denn, ich wollte eine Poolnudel fürs Leben finden. Vielleicht würde ich später auf die Option zurückkommen, wenn alle Stricke rissen.
»Hier, schau mal, was in der Zeitung steht.« Mit diesen Worten riss mich meine Stiefmutter aus meinen Gedanken. Genervt schnappte ich mir das Tagesblatt und überflog den oben liegenden Artikel. »Freitagabend … öffnet endlich wieder die Türen … Premiere … Kinder- und Jugenddisco!« Offenbar war sogar zu Hause aufgefallen, dass ich weniger draußen war als sonst.
»Du kannst ja Lara und Nathalie fragen, ob sie mitkommen wollen«, meinte meine Stiefmutter. Ja, genau, meine besten Freundinnen, damit beide ihren Freund mitbrachten?
»Nee, die haben leider schon etwas anderes vor und sind das ganze Wochenende weg«, entgegnete ich. Und sicher wusste selbst meine Stiefmutter, dass es äußerst unangenehm war, sich mit seinem Traubensaft allein neben die Tanzfläche zu stellen und leicht im Takt zu wippen. Das konnte ich nicht bringen.
Unvermittelt stellte ich mir meine Zukunft vor:
Wir schreiben das Jahr 2060. Mit tattrigen Händen setze ich mir meine Brille richtig auf und sehe, wie mein Enkel zu meiner Frau geht und mit großer kindlicher Neugier fragt: »Du, sag mal, Omi, wie hast du eigentlich damals den Opa kennengelernt?«Während sie behutsam ihre Stricksachen weglegt und kurz in die Ferne schaut, antwortet sie laut: »Ja, also, der Opa hatte keine Freunde und deshalb hat er stattdessen in der Disco mit seinem Traubensaft getanzt. Dass das nicht gut ausgeht, kann man sich ja denken. Völlig bekleckert hat er sich. Nachdem ihn der ganze Club ausgelacht hat, hatte ich Mitleid und bin aus Nettigkeit mit ihm zusammengekommen.«
Kein wirklich guter Plan, auf den man hinarbeiten sollte, fand ich. Also müsste ich bei der Jugenddisco mit jemandem aufschlagen, der nicht nur mein Wingman sein konnte, sondern mich auch am Tanzen hindern würde. Die Person durfte mir aber nicht die Show stehlen und die Aufmerksamkeit komplett auf sich lenken, denn ich hatte eine Mission: eine passende Freundin finden, um ein normales Leben führen zu können. Ein normales Leben, wie es sich jeder für mich wünschte.
Freitagabend stand ich also mit Dennis vor der Tür des Jugendzentrums, in dem schon ein wenig Treiben herrschte. Dass ich meinen Bruder mitgenommen hatte, hatte vor allem den Grund, dass ich neben ihm immer sehr höflich und gut erzogen wirkte, also war ich heute ganz besonders selbstbewusst. Obwohl die Veranstaltung für Kinder und Jugendliche zwischen dreizehn und sechzehn Jahren war, hatte ich irgendwie das Gefühl, dass mein Bruder und ich die Jüngsten waren. Wenn auch nur einer der Anwesenden dreizehn war, wollte ich sofort wissen, wie sie das mit den Bärten hinbekommen hatten und wieso alle älter aussahen als ich.
»Später wirst du dich noch freuen, dass du immer jünger geschätzt wirst«, hatte meine Oma mir mal gesagt. Das galt vielleicht für Omas, aber doch nicht für mich. Klar, ich mochte ein fünfzehnjähriger Singlejunge im Körper eines Elfjährigen sein, der exakt die gleiche Stimmfarbe hatte wie seine Stiefmutter und der deswegen entweder am Telefon mit ihr verwechselt oder in natura für ein Mädchen gehalten wurde. Direkt schrumpfte mein Selbstbewusstsein wieder auf die Größe einer Erbse.
»Das gibt’s doch nicht! Dennis?« Ich drehte mich um und schaute in das Gesicht eines blonden Jungen, der locker zwei Köpfe größer war als ich. Ingve aus der Fußballmannschaft meines Bruders stand grinsend vor uns. Vermutlich konnte man mir direkt ansehen, dass ich überrumpelt war. Vor Schreck gab ich ein gepresstes »Huch!?« von mir, während ich einen Meter zur Seite hüpfte. Mit einem coolen Handschlag begrüßten sich die beiden und verschwanden zum Kickertisch. Wenn ich eins noch weniger leiden konnte als Fußball, dann war es Tischfußball, daher war ich irgendwie schon froh, dass sie mich nicht mitgenommen und zum Spielen überredet hatten.
Also setzte ich mich allein an die Bar. Snacks waren ja auch kein schlechter Start für eine Party. Wobei »Party« vielleicht etwas übertrieben war, denn für eine Party waren echt wenig Menschen da. Abgesehen von den sechs Jungs am Kicker war da noch ein rothaariges Mädchen, das am Eingang neben einem Mann stand, zwei Jungs, die schweigend mit mir an der Bar saßen, und ein blondes Mädchen, das mit der Frau hinter der Bar redete. Auf der nennen wir sie mal »Tanzfläche« standen völlig verloren ein leerer Stehtisch und eine Nebelmaschine. Der traurige Rauch, der aus dieser Maschine kroch, sah aus, als würde das Gerät rauchen, weil es defekt war.
»Dann hätte ich gerne eine große Apfelsaftschorle«, rief das blonde Mädchen an der Bar. Direkt drehte ich mich zu ihr um.
»Was?«, fragte ich völlig verwirrt, als hätte sie mit mir gesprochen. Offensichtlich galt die Bestellung der Dame an der Bar und nicht mir, aber mein schnelles Umdrehen hatte das Mädchen vermutlich genauso aus dem Konzept gebracht wie mich.
»Ähm, ich hab nicht mit dir gesprochen. Ich hab bestellt. Willst du auch etwas trinken?«
Verdutzt schaute ich sie an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich so schnell mit jemandem ins Gespräch kommen würde. »Tommy!«, antwortete ich etwas zu schnell. Dass dies nicht die Antwort auf ihre Frage war und dass sie nun noch verwirrter schaute als sowieso schon, fiel mir erst auf, als sie meine ausgestreckte Hand nicht schüttelte, sondern ihre Frage wiederholte.
»Willst du auch was trinken, Tommy?«
»Ach so, ja, gerne, einen O-Saft«, entgegnete ich und zog schnell meine Hand wieder zurück.
»Fein. Ich heiße Milli, freut mich«, sagte sie und drehte sich lächelnd wieder zur Bar. Milli. Ungewöhnlicher Name. Fehlt da noch ein Rest? Millimeter? Milligramm? Milli Vanilli? Ich habe noch nie jemanden mit einem solchen Namen getroffen.
»Ist dein Name eine Abkürzung?«, fragte ich, nachdem Milli die Bestellung aufgegeben hatte. Ich wollte unbedingt eine Unterhaltung starten, um nicht irgendwann doch gezwungen zu sein, mit meinem Bruder zu kickern. Erwartungsvoll schaute ich sie an und versuchte, nicht zu verkrampft zu wirken.
»Nein. Milli ist einfach ein Spitzname, den ich irgendwie schon immer hatte. Eigentlich heiße ich Romina«, grinste sie. Sie gab mir das Gefühl, dass ich darauf auch mit einem komischen Fakt über mich antworten müsste.
»Mich nennt mein Sportlehrer immer Flummi. Ich glaube, er kann sich meinen Namen nicht merken«, entgegnete ich, als wäre diese Information etwas, auf das man stolz sein könnte.
»Freut mich, Flummi!« Sie reichte mir die Hand. Ihr Handrücken zeigte nach oben, so wie vornehme Damen jemandem ihre Hand zu reichen pflegten. Der Hand einen Kuss zu geben, fand ich in dem Moment allerdings total seltsam, sodass ich ihr einfach den Handrücken schüttelte.
»Du bist witzig. Komm, lass uns tanzen«, gluckste Milli und sprang von ihrem Hocker auf. Sie trug ein weißes Kleid mit Blumenmuster, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Die Blumen in Magenta und Lila wurden nach unten bis zum Saum des Kleides immer dichter und ließen es so wirken, als stünde Milli in einem Tornado aus herumfliegenden Blumen. Ein wahrlich verstörendes, aber fürchterlich gut duftendes Bild! Unsere Getränke an der Bar nicht aus den Augen lassend, begaben wir uns zur Tanzfläche, auf der sich mittlerweile zwei weitere Mädchen eingefunden hatten. Da ich keines der Lieder kannte, wusste ich nicht wirklich, wie ich mich bewegen sollte, und fühlte mich eher wie einer dieser Luftschläuche, die meist vor großen Autohäusern zu Werbe- oder Dekozwecken aufgestellt werden. Da Milli allerdings mit geschlossenen Augen tanzte, war es mir gar nicht so arg unangenehm, wie es mir sonst gewesen wäre. Von meinem Tanzplatz aus konnte ich auch den Kickertisch nicht sehen, sodass ich außerhalb des Sichtfeldes meines Bruders tanzte. Der Druck in meiner Brust wurde weniger. Ich tanzte freier. Ich weiß nicht, wie lange wir tanzten und welchen Small Talk wir hielten, aber eins wusste ich: Milli war ein echt cooles Mädchen. Ich konnte es noch nicht glauben, dass sie sich mit mir abgab. Normalerweise waren solche Mädchen nicht an mir interessiert oder sofort vergeben. Oh nein. Was, wenn sie bereits einen Freund hatte? Ob der auch hier war? Panisch schaute ich mich um. Milli bewegte sich weiter im Rausch der Musik. Sie wirbelte herum. Die Blumen tanzten.
»Du?« Ich tippte ihr auf die Schulter. Die wirbelnde Milli öffnete ihre Augen und schaute mich freudig an. Lange starrte ich in ihre leuchtenden Pupillen und überlegte, wie ich den nächsten Satz formulieren könnte. »Hast du eigentlich … single? Also solo? Was? Nein. Hast du einen Freund? Das meinte ich!« Ich merkte, wie mir das Blut in die Ohren schoss. Vermutlich wurde ich wieder knallrot, so wie es immer passierte, wenn ich nervös war.
»Noch nicht«, antwortete sie und zwinkerte mir zu. Mir wurde noch wärmer. Das war entweder eine nahende Grippe oder mein Kopf platzte gleich vor Aufregung. Sie nahm meine Hände und tanzte mit mir zusammen. Es fühlte sich so an, als würde sie mich nicht nur beim Tanzen an die Hand nehmen, sondern ganz generell. Sie wirkte so selbstbewusst, so erwachsen und so sicher. Das gefiel mir.
»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte ich Milli irgendwann, die mit ihren Armen schwungvolle ausladende Bewegungen machte, als würde sie große unsichtbare Kisten durch die Luft schieben. »Ich besuche meinen Opa hier in Hannover. Ich wohne aber in Braunschweig«, antwortete sie, ohne mit dem Tanzen aufzuhören. Inzwischen wirkten ihre Bewegungen, als würde sie versuchen, Krümel oder Insekten von ihren Armen zu wischen. Nie wieder müsste ich mir über meinen Tanzstil oder sonst irgendetwas Gedanken machen, wenn ich tanzen könnte wie Milli. Nicht der Tanz machte es für mich so beneidenswert, sondern wie sie sich gab. Jemandem, der so selbstbewusst tanzte, als wäre er ganz allein, konnte niemand etwas anhaben. Bewundernswert.
Braunschweig. Ich hatte keinen Schimmer, wo genau sich diese Stadt befand. »Und wo kommst du her, Flummi?« Direkt bereute ich, dass ich ihr von diesem Spitznamen erzählt hatte.
»Ich komme aus Hannover. Wohne zwar ein bisschen am Rand, aber nicht weit von hier«, antwortete ich. »Wie lange fährt man zu dir, also, wo genau wohnst du in Braunschweig?« Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, machte ich mir sofort Gedanken darüber, ob es nun so wirken könnte, als wenn ich mit zu ihr wollen würde, und ob es gruselig klingen könnte, dass ich so speziell nachgefragt hatte. »Also, ich will dich nicht besuchen oder so. Interessiert mich nur, falls ich mal in der Nähe sein sollte.«
»Also, vierzig Minuten braucht man sicherlich, je nachdem wie gut man hier durch die Innenstadt kommt. Manchmal braucht man fünfzehn Minuten länger«, rechnete Milli mir vor und begab sich zur Bar, wo unsere Getränke noch auf uns warteten. Hatte sie unsere Getränke eigentlich bezahlt? Verdammt, ich war völlig in Gedanken gewesen und hatte weder meinen Saft bezahlt noch hatte ich sie eingeladen. Ich sollte ein Gentleman sein!
»Darf ich dich auf ein weiteres Getränk einladen?«, fragte ich sie und ignorierte den Fakt, dass ihr Glas noch drei viertel voll war.
»Auf ein kostenloses Getränk? Eine liebe Einladung, aber ich hab noch.« Sie lächelte und prostete mir zu. Na, kann ja keiner ahnen, dass die Getränke hier for free sind.
»Leider kann ich nicht so lange bleiben, ich war gestern schon hier und bin nur noch einmal kurz vorbeigekommen, weil es bei uns in Braunschweig so eine Party leider nicht gibt «, seufzte sie, während sie den letzten Schluck aus ihrem Strohhalm zog. Sicher nur eine Ausrede. Nicht einmal ein fremdes Mädchen auf einer Party konnte ich lange genug im Gespräch halten. Wir kannten uns doch noch gar nicht lange, gerade einmal … Ich blickte auf meine hellblaue Armbanduhr. Was? Wir waren bereits drei Stunden hier? Wohin ist denn die Zeit verschwunden?
»Oh … okay.« Dennoch enttäuscht ließ ich meine Arme hängen. Ich hätte noch ewig Zeit mit Milli verbringen können.
»Lass den Kopf nicht hängen. Wir können unsere Adressen austauschen, dann können wir uns Briefe schreiben. Und so weißt du dann sogar genau, wo ich wohne, falls du mal in der Nähe sein solltest.« Sie schmunzelte und eilte zur Bar, um mit einem Stift und einem Zettel wieder zurückzukommen. Der schnelle Wechsel zwischen der Enttäuschung, dass der Abend bereits endete, und der Freude über die neu gewonnene Brieffreundschaft sorgte dafür, dass ich wieder rote Ohren bekam. Ich schrieb Milli meine Adresse auf und begleitete sie nach draußen. Vor der Tür angekommen drehte sie sich um und umarmte mich. »Hat mich gefreut, Tommy.«
»Mich auch. Ich schreibe dir, sobald ich daheim bin«, rief ich ihr hinterher. Sie drehte sich nicht noch einmal um. Sie ging die Einfahrt hoch, wo bereits eine winkende Frau stand. Wahrscheinlich ihre Mutter.
Direkt nach der Party verfasste ich meinen ersten Brief, weil ich es gar nicht abwarten konnte, mehr Zeit mit Milli verbringen zu können. Da ich mir sicher war, dass Milli Blumen mochte, rahmten meinen Brief Zeichnungen von vielen kleinen Blümchen und Pflanzen ein. Als ich mir das fertige Werk anschaute, wurde ich plötzlich unsicher und unzufrieden. Je länger ich meine Blumen inspizierte, desto mehr wurden sie zu Brötchen am Stiel, zu wabbeligen Flecken oder zu Quallen mit nur einem Tentakel. Ich entschied mich, neu anzufangen und die Zeichnungen wegzulassen. Ich war tierisch aufgeregt und fragte mich, wie lange Milli mit dem Antworten brauchen, was sie schreiben und ob sie vielleicht etwas zeichnen würde.
Viele Briefe wurden daraufhin zwischen Hannover und Braunschweig hin und her geschickt. Und nach nur wenigen Briefen wagte ich es auch, eine Blume für Milli zu malen und ihr anschließend von meinem ersten Brief und den »Brötchen am Stiel« zu erzählen. Milli konnte darüber lachen und malte von da an auf jeden Brief eine Blume und ein Brötchen. Unsere kleine ganz eigene Tradition.
Mit ihr als guter Freundin hatte ich endlich jemanden an meiner Seite, dem ich all meine Gedanken und Gefühle anvertrauen konnte. Und das sogar ganz ohne peinlichen Blickkontakt, sondern ganz einfach per Brief oder Telefon. Ich traute mich bei ihr viel mehr als bei meinen Freunden aus der Schule, obwohl wir uns ja eigentlich kaum kannten. Oder vielleicht eben weil wir uns so wenig kannten. Je mehr wir miteinander schrieben und telefonierten, desto besser lernten wir uns kennen und desto mehr wuchsen wir zusammen. Wir tauschten uns über unsere schönsten und schlimmsten Kindheitsgeschichten aus, redeten über unsere Brüder, über unseren Schulalltag und wir spielten »Was wäre wenn?«-Gedankenspiele.
Was wäre, wenn wir auf ein und derselben Schule wären?
Was wäre, wenn wir noch länger auf der Party geblieben wären?
Was wäre, wenn wir keine Geschwister hätten?
Was wäre, wenn wir plötzlich magische Fähigkeiten hätten?
Was wäre, wenn wir ein Paar wären?
Moment? Hatte sie das wirklich in ihrem Brief geschrieben? Ich las ihre Zeilen erneut. Und dann noch mal, nur um wirklich sicherzugehen. Tatsächlich. »Was wäre, wenn wir ein Paar wären? Was würdest du tun, Tommy?« Eine kleine Blume zierte das Ende der Frage.
Ja, Tommy, was würdest du tun? Meine Gedanken kreisten. Ich verstand mich sehr gut mit Milli, ich wollte gerne mehr Zeit mit ihr verbringen. Ich wollte, dass jeder eine Milli hatte. Ihre offene und herzliche Art machte die Welt zu einem besseren Ort. War das Liebe? Waren da Gefühle, wenn auch nicht in Form von den berühmten Schmetterlingen? War ich bereit, eine Freundin zu haben? Zögerlich nahm ich mir meinen Block, schrieb eine einzige Zeile, riss das Papier heraus, faltete es zusammen und steckte es in einen Umschlag. Ich klebte den Brief zu und legte ihn auf den Stapel Post an der Haustür, den mein Vater morgens auf dem Weg zur Arbeit immer zum Verschicken mitnahm.
Willst du meine Freundin sein?
Ja ( )
Nein ( )
Ja, mit all deinen Brötchen am Stiel ( )