Читать книгу Der Tag, an dem die Toten sprachen… Berlin 1968 Kriminalroman Band 19 - Tomos Forrest - Страница 5
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Berlin, 11. April 1968. Gründonnerstag.
Privatdetektiv Bernd Schuster hatte den kurzen Weg von seinem Büro in der Kurfürstenstraße zum Kurfürstendamm mit seinem Auto zurückgelegt. Er hatte sich dazu entschlossen, denn sein alter Schulfreund aus Frankfurt war hier in einer Privatpension gegenüber vom Café Kranzler abgestiegen. Die beiden hatten sich am Vortag getroffen und einen netten Abend verbracht.
Heute wollte Hans Gärtner ihm noch ein paar Bücher und alte Fotos übergeben.
„Ist eine nette Erinnerung an die Zeit, während der wir beide die Schülerbücherei geleitet haben. Wie du ja weißt, bin ich inzwischen Schulleiter geworden – so verrückt spielt das Leben manchmal. Ja, und was soll ich dir sagen, Bernd – beim Aufräumen fanden wir im Keller der Schule einen Karton mit alten Büchern. Ich habe dir die mitgebracht, die wir uns damals so gern ausgeliehen hatten: Coopers Lederstrumpf, Gerstäckers Flusspiraten, Mays Winnetou und die Abenteuer von David Crockett.“
„Irgendwie rührend!“, hatte Bernd geantwortet und für einen Moment überlegt, was er mit den alten, zerlesenen Büchern wohl anfangen sollte. Aber er wollte Hans nicht kränken, holte den Karton aus der Pension und war eben auf dem Weg zu seinem Mercedes, als in rascher Folge drei Schüsse krachten.
Bernd ließ den Karton fallen, ohne auf die herausfallenden Bücher zu achten, und versuchte, etwas zu erkennen.
Schreie wurden laut, ein paar Stimmen riefen: „Da läuft der Mörder, haltet ihn!“
„Einen Arzt, rasch, einen Arzt!“, riefen andere.
Bernd spurtete über den Bürgersteig zu der immer größer werdenden Menschentraube. Stimmengewirr drang an sein Ohr, aber offenbar standen alle nur um einen Körper auf dem Pflaster herum.
„Weg da, beiseite, Leute! Ruft endlich die 110, der Mann verblutet ja!“
Bernd Schuster hatte sofort erkannt, dass der Mann noch lebte. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
„Das ist doch dieser Dutschke, dieses Kommunistenschwein!“, rief einer so laut, dass es Bernd in den Ohren gellte.
„Geschieht dem recht, dass er mal etwas verpasst bekommt!“
„Man muss ja nicht gleich schießen, aber verdient hat er es trotzdem!“
„Schnauze! Verdammt noch mal, haltet doch alle mal die Schnauze!“, schrie Bernd, der sich neben den am Kopf blutenden Mann gehockt hatte. „Das ist ja widerlich!“
„Noch einer von der Sorte!“, schrie jemand aus der Menge. „Nieder mit diesen Kommunisten!“
Im gleichen Augenblick fühlte sich Bernd gepackt und vom Boden gerissen.
„Lasst mich durch, ich bin Arzt!“, war das nächste, was er vernahm, während er sich gegen den Griff auf seiner Schulter wehrte.
„Auseinander – weg da!“ Herrische Stimmen, dann drängten sich uniformierte Polizisten durch die Menge. Martinshörner heulten in der Nähe, dann hielt ein Krankenwagen mitten auf der Straße an, die Sanitäter sprangen heraus und eilten dem Arzt zu Hilfe.
„Nimm die Hände da weg!“, brüllte ein zornesroter Bernd Schuster den beiden Männern zu, die ihn von dem Opfer weggezerrt hatten. Es waren zwei kräftige Gestalten, offenbar Bauarbeiter von einer nahen Baustelle. Aber bei dem Anblick des zornigen Mannes ließen sie ihre Hände sinken und traten einen Schritt zurück. „Übles Pack, das sich freut, wenn ein Mensch niedergeschossen wird! Pfui, ich verachte solches Gesindel!“
Am liebsten wäre es Bernd in diesem Augenblick gewesen, die beiden Arbeiter hätten sich herausgefordert gefühlt und eine Schlägerei begonnen. Dann hätte er ein Ventil, um seine Wutgefühle und die gleichzeitige Trauer über das Verhalten der Umstehenden abzulassen.
Aber die beiden Männer drehten sich wortlos um und verschwanden hinter den anderen.
„Sind Sie Zeuge?“, erkundigte sich einer der Beamten bei Bernd.
Der schüttelte nur den Kopf und musterte die umstehenden Gaffer, bevor er antwortete: „Leider nicht – aber jemand von den Herrschaften hier, die gerade noch Schadenfreude über die Schüsse geäußert haben, sicherlich!“
Aber es wurde schwierig, ein paar Zeugen zu finden, die übereinstimmend den Täter beschreiben konnten. Bernd Schuster blieb stumm, mit untergeschlagenen Armen, vor ihnen stehen und hörte zu, was sie sich erzählten. Der Krankenwagen fuhr mit lauten Sirenen inzwischen davon. Man hatte Rudi Dutschke notdürftig versorgt. Ob er seine schweren Kopfverletzungen überleben würde, musste sich in den nächsten Stunden zeigen. Nach den bevorstehenden und sicherlich komplizierten Operationen.
*
Nach diesem Erlebnis war Bernd Schuster noch lange Zeit auf dem Revier und hörte den Zeugenaussagen zu. Ein Anruf bei seinem Freund, dem Inspektor Horst Südermann von der Mordkommission, hatte ihm ermöglicht, eine Weile zuzuhören, weil er davon überzeugt war, dass einige der Passanten den Täter mutwillig entkommen ließen.
Doch irgendwann hielt er es nicht länger aus, ging zu seinem abgestellten Wagen zurück und überlegte rasch, ob er noch einmal seinen alten Schulfreund aufsuchen sollte. Aber inzwischen war es spät geworden, und nach einem Telefonat mit seiner Lebensgefährtin Franziska kam Bernd Schuster nicht zur Ruhe. Er fuhr ziel- und planlos bis zum Morgengrauen durch Berlin.
Das Krachen und Splittern zerriss die nächtliche Stille. Es erreichte Bernd genau in dem Augenblick, als er mit herabgekurbeltem Seitenfenster an der Ampelkreuzung stoppte. ‚Einbruch!‘, schoss es ihm durch den Kopf. Er zog den Zündschlüssel ab und sprang aus dem Wagen, ohne sich darum zu kümmern, dass er verkehrswidrig parkte. Nach dem heute beinahe hautnah miterlebten Attentat auf Rudi Dutschke rechnete er inzwischen mit dem Schlimmsten.
Die Straßen waren menschenleer. Der Vier-Uhr-Morgenwind trieb ein paar Zeitungsblätter über schmutzigen Asphalt. Bernd rannte in das schmale Gässchen, aus dem die Geräusche gekommen waren. Er verlangsamte seine Schritte und trat in den Schatten eines Hintereingangs, als ihm klar wurde, dass er sich geirrt hatte. Die Gegend gehörte nicht zum Vorzeigegebiet Berlins. Ein Sanierungsprojekt. Tagsüber sah man aber trotzdem hier Touristen, die kopfschüttelnd an den beschmierten Häuserfassaden vorüberschlenderten. Viele dieser Häuser schienen seit dem Zweiten Weltkrieg auf ihre Sanierung zu warten.
Für Einbrecher war in dieser Umgebung nichts zu holen, es sei denn, sie interessierten sich für schmutzige Wäsche oder sperrmüllreife Möbelstücke.
Vielleicht war es ein Betrunkener, der diese Geräusche verursacht hatte. Möglicherweise war er in eine Scheibe gefallen. Schritte kamen näher. Ein rennender Mann, der vor Anstrengung keuchte.
Bernds Rechte schnellte aus dem Dunkel und fasste den Arm des Flüchtenden. Der Mann zuckte zusammen und stieß einen halblauten, erschreckten Schrei aus. Er zitterte und unternahm keinen Versuch, sich zu wehren.
Bernd schob ihn einige Schritte zur Seite, bis in den tristen, spärlichen Lichtkreis einer Straßenlampe.
„Was ist?“, rief der Mann.
Er war nicht älter als Dreißig, schmal, hochgewachsen, ein knochiger Bursche mit tiefliegenden, dunklen Augen, spitzer Nase und schmalem Mund. Bernd ließ ihn los. Von diesem Typ war nichts zu befürchten. Das Leben hatte ihn ausgelaugt, noch ehe er eine Chance bekommen hatte, seine Sonnenseiten kennenzulernen. Er halte vermutlich immer nur Hiebe bekommen. In der Schule, auf der Straße und bei jedem Versuch, sich gegen die anderen zu behaupten.
„Was ist passiert, mein Freund?“, fragte Bernd.
Seine Haltung war drohend, obwohl ihm der Typ leidtat. Aber wenn man diesen Kerl nicht einschüchterte, würde er sofort frech werden. Das gehörte zu seinem Selbsterhaltungsprogramm.
„Dahinten haben sie jemand für die Kühlbox im Leichenschauhaus präpariert“, sagte der Typ. „Die Frau ist tot.“
„Wer hat es getan?“, fragte Bernd.
„Keine Ahnung. Ich bin in die entgegengesetzte Richtung davongerannt.“
Bernd bemerkte erst jetzt die ausgebeulte Jackentasche des Mannes. Er griff kurzerhand hinein und zog ein perlenbesticktes Abendtäschchen heraus. Der Typ wollte weglaufen. Bernd stoppte ihn. Diesmal reagierte der Mann sauer. Er zog blitzschnell die Linke hoch. Das Ganze kam für Bernd so überraschend, dass er den Treffer voll kassierte. Er konterte hart. Der Bursche ging zu Boden. Als er wieder auf die Beine kam, wirkte er demütig, geknickt, zerknirscht.
„Sie müssen das verstehen“, entschuldigte er sich. „Ich kann es mir nicht leisten, in einen Mordfall verwickelt zu werden.“
Bernd öffnete das Abendhandtäschchen. Es enthielt einen Lippenstift, einen Schlüsselbund, ein Bündel Banknoten und einen Ausweis. Bernd öffnete ihn. Der Ausweis lautete auf den Namen Karin Kürschner. Das Foto zeigte ein strahlendes Mädchengesicht, einen Star mit hohen Backenknochen, weichem Mund und selbstsicherem Lächeln.
„Ist sie das?“, fragte Bernd.
„Ja.“
„Die Tote?“
„Ja.“
„Kommen Sie“, sagte Bernd.
Der Mann trottete voran, mit gesenktem Kopf. Die Tote lag in einer Einfahrt, zwischen ein paar umgestürzten Kisten mit leeren Flaschen. Kein Zweifel, es war Karin Kürschner. Sie trug einen schwarzsamtenen Abendrock und ein tief ausgeschnittenes, mit Pailletten besticktes Oberteil. Sie lag auf der Seite, aber ihr Gesicht war den beiden Betrachtern zugekehrt. Ein schönes Gesicht, schlechthin makellos.
Bernd sah keine äußere Verletzung, aber es stand außer Zweifel, dass Karin Kürschner eines gewaltsamen Todes gestorben war.
„Wie ist es passiert?“, fragte er und spürte dieses dumpfe Gefühl der Verzweiflung, das ihn immer wieder übermannte, wenn ihm klar wurde, dass er in einer Gesellschaft lebte, die es einfach nicht schaffte, diese Art von Gewalt in den Griff zu bekommen.
„Ich bin ihr gefolgt“, sagte der Mann zögernd. „Es war so komisch, wissen Sie. Eine Frau ihres Kalibers in dieser miesen Gegend ...“
Ich muss Horst rufen, dachte Bernd. Die Täter können noch nicht weit gekommen sein. Er zog den Burschen mit sich. An der Kreuzung war eine Telefonzelle. Bernd meldete das Verbrechen der Mordkommission. Inspektor Horst Südermann hatte, wie man ihm mitteilte, keinen Nachtdienst.
Auf dem Rückweg zum Tatort ließ Bernd sich erklären, dass der Typ Andre Wanger hieß. Die Leute nannten ihn Andy. Die Leute, nicht die Freunde, denn ein Mann wie er hatte einfach keine.
Dann sagte er nichts mehr und gab es auch auf, in Wanger zu dringen. Sie hatten die Einfahrt erreicht, den Scherbenhaufen der umgekippten Flaschenkisten. Die Szenerie hatte sich beträchtlich verändert. Es gab noch immer eine Leiche zwischen den dunklen, scharfen Glassplittern, aber sie trug weder einen Samtrock, noch konnte sie es sich leisten, mit einem attraktiven Oberteil aufzuwarten. Der Tote war ein Mann.