Читать книгу Der Tag, an dem die Toten sprachen… Berlin 1968 Kriminalroman Band 19 - Tomos Forrest - Страница 8
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ОглавлениеBernd lagen ein Dutzend Fragen auf der Zunge. Er sprach keine davon aus. „Wann kann ich Sie besuchen?“, fragte er stattdessen.
„Moment mal, junger Mann. Was soll dieser Unsinn? Wie heißen Sie wirklich, und was bezwecken Sie mit dieser nächtlichen Herausforderung?“
Bernd zögerte, dann hängte er auf. Es war sinnlos, nach diesem Gesprächsauftakt auf eine normale, informative Unterhaltung zu warten. Er musste die Kürschners aufsuchen, um herauszufinden, was sich hinter den Ereignissen verbarg. Außerdem war nicht völlig auszuschließen, dass Kürschner in das Verbrechen verstrickt war. Vielleicht hatte er seine Frau aus dem Wege räumen lassen, um die Ehe mit einer ähnlich aussehenden Doppelgängerin fortsetzen zu können.
Nein, das war wohl doch zu phantastisch und abenteuerlich gedacht. Wenn seine Überlegung zutraf, hätten die gedungenen Mörder schwerlich versäumt, den Ausweis der Toten an sich zu nehmen.
Bernd kehrte an den Tatort zurück. Andre Wanger lehnte an der Hauswand, mit dem Rücken zum Toten, und rauchte eine Zigarette. „Sie haben Nerven“, sagte er. „Nach diesem Erlebnis brauche ich keine Horror-Filme mehr anzusehen. Mein Bedarf an Schockgefühlen ist gedeckt.“
„Leben Sie in dieser Gegend?“
„Zehn Minuten von hier entfernt, Zossener Straße“, sagte Andre Wanger.
„Sehen Sie sich noch mal den Ausweis an. Das Gesicht. Ganz genau. Hat ein Mädchen in der Umgebung gewohnt, das der Frau ähnelte?“
Andre Wanger lachte kurz. Er gab den Ausweis zurück, ohne das Foto betrachtet zu haben. „Sie sind ein Spaßvogel“, sagte er. „Frauen wie diese gibt es in diesem Viertel nicht. Wenn eine Frau gute Ansätze verspricht, verschwindet sie so schnell sie kann aus dieser Gegend. Die Tote stammte nicht aus der Gegend, bestimmt nicht. Die lag ein paar Klassen über dem hiesigen Standard, das steht fest.“
„Was wollte sie hier – um diese Zeit?“
„Warum fragen Sie mich? Vielleicht wurde sie in eine Falle gelockt“, meinte Andre Wanger. „Aber wenn ich’s recht bedenke, machte sie nicht den Eindruck, als ob sie jemand zu treffen hoffte. Sie ging wie eine Schlafwandlerin durch die Landschaft, wie eine Frau ohne Ziel.“
„Es handelt sich nicht um Raubmord“, sagte Bernd.
„Wieviel Geld war denn in der Tasche?“, fragte Andre Wanger. Seine Stimme klang verdrossen. Bernd öffnete die Tasche und zählte die Banknoten durch. „Vierhundertsechzig“, stellte er fest.
„Mist“, sagte Andre Wanger. Er gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie sehr ihn der Verlust des Geldes schmerzte.
Dann traf die Polizei ein, kurz darauf die Mordkommission. Bernd gab zu Protokoll, was er wusste und überließ den Beamten Karin Kürschners Ausweis. Am nächsten Morgen fuhr er um neun Uhr hinaus zum Haus der Kürschners. Es lag idyllisch inmitten eines sehr gepflegten Gartens.
In Bernd konnte keine Freude aufkommen. Ihm fielen die starren Augen der schönen Toten ein, und er beeilte sich, mit den Kürschners ins Gespräch zu kommen. Das Haus stammte aus den zwanziger Jahren, war aber kürzlich renoviert und mit modernen, großen Fenstern versehen worden.
Ein etwas abseits des Hauses stehender Garagenkomplex bewies mit seinen vier Boxen und einem davor parkenden Lamborghini, dass die Hausbewohner mit dem Luxus auf Du und Du standen. Auf Bernds Läuten öffnete ein hünenhafter Mann mit rundem, kahlgeschorenem Schädel. Er hatte das Zeug, jedem Ringerturnier oder Boxveranstaltung Glanz zu verleihen.
„Hallo, Herr Kürschner“, sagte Bernd. „Ich bin Bernd Schuster. Ist Ihre Frau zu sprechen?“
„Nicht für Staubsauger und Klobürstenvertreter, und nicht für Leute, die ihre Makkaroni mit den Fingern essen“, gab der Kleiderschranktyp giftig zurück und versuchte die Tür zu schließen, entdeckte jedoch, dass das nicht ging. Bernd hatte einfach den Fuß dazwischen gestellt.
Der Kahlgeschorene grinste. Er fing an, diesen Morgen zu lieben. Offenbar sah er eine Chance, seine Kräfte explodieren zu lassen.
„Fußbrei“, sagte er, „behindert das Gehvermögen. Sie sollten diese goldene Lebensregel nicht außer Acht lassen.“
„Wer ist da, Manfred?“, rief es aus dem Inneren des Hauses. Es war eine Frauenstimme. Sie klang jung und melodisch.
„Ein gewisser Schuster“, sagte Manfred, dem anzumerken war, wie sehr er die Unterbrechung bedauerte. Er sah sich um die Morgengymnastik einer handfesten Prügelei betrogen, jedenfalls schien es Bernd so.
„Führe ihn herein“, befahl die Dame.
Hinter der riesigen Halle, die groß genug war, um eine Maschinenbaumesse darin abzuhalten, lag ein Salon, in dem sich eine Gästegruppe, die weniger als zwanzig Leute umfasste, einsam und verloren vorkommen musste. Ausmaße und Einrichtung des Raumes vermittelten einen Eindruck von Gigantomanie. Umso erstaunlicher war es, dass die junge Frau, die sich auf Bernd zubewegte, mit einem Schlag die Wirkung ihrer Umgebung zunichtemachen und geradezu auslöschen konnte. Nur noch sie zählte, ihre Figur, die Art, wie sie sich bewegte, der Schnitt ihres klassischen Gesichtsovals, der Glanz und die Ausstrahlung ihrer langbewimperten, graugrünen Augen, die ganze Wucht ihres Sex Appeals, der Bernd unter die Haut ging.
„Sie sind's“, sagte er.
Sie hielt dicht vor ihm an. Ihr Parfüm war von herber, scharfer Würzigkeit. Bernd war hingerissen.
„Warum sollte ich's nicht sein?“, fragte sie lächelnd. Sie trug zu modisch geschnittenen Hosen aus hellem Gazellenleder einen grünen, ihre Oberweite modellierenden Pullover, der es auf raffinierte Weise schaffte, mehr zu enthüllen als zu verbergen.
„Ich habe Sie tot gesehen“, sagte er. „Eingerahmt von zersprungenen Flaschen.“
„Sie sind der Verrückte von heute Nacht“, sagte sie. Ihre Stimme klang amüsiert. „Bernd Schuster. Mein Mann hat im Telefonbuch nachgesehen. Sie sind tatsächlich Privatdetektiv, nicht wahr?“
Sie setzten sich. Die junge Frau schlug ihre schlanken, rassigen Beine übereinander. Die Schönheit ihrer nylonumschmeichelten Linie wirkte auf Bernd wie ein Magnet. Er zwang sich, an das Erlebnis in der Gasse zu denken und kühlte sichtlich ab.
„Klar bin ich das“, sagte er, „aber ich war nicht beruflich unterwegs, als es passierte.“ Er schilderte, was er erlebt hatte und bemühte sich, aus den Reaktionen der Frau brauchbare Informationen zu ziehen, aber ihr halb erstauntes, halb ungläubiges Gesicht machte es nahezu unmöglich.
„Sie haben eine Doppelgängerin“, schloss er.
„Oder“, sagte die junge Frau spöttisch, „ich war gar nicht tot und bin nach dem kleinen Zwischenfall nach Hause gefahren.“
Er sah sie ernst an. „So lustig ist das nun wirklich nicht“, sagte er. „Immerhin ist dort, wo Sie lagen, ein Toter zurückgeblieben.“
„Wer ist es?“
„Ich habe heute Morgen mit der Mordkommission telefoniert, aber bis zur Stunde ist es noch nicht gelungen, den Toten zu identifizieren. Er hatte keine Papiere bei sich.“
„Apropos Papiere“, sagte sie und stand auf. „Sie behaupten, dass die Tote meinen Ausweis bei sich hatte. Ich werde nachsehen, wo meiner ist,“
Sie verließ das Zimmer, kehrte eine Minute später zurück und sagte: „Komisch! Er ist verschwunden. Nur der Führerschein befindet sich noch in meiner Brieftasche.“
„Ist Ihr Mann zu Hause?“
„Nein, er ist ins Büro gefahren.“
„Darf man erfahren, womit er sein Geld verdient?“
„Er verdient es nicht, er macht es“, erklärte Karin Kürschner mit müdem Spott. „Was er auch anfasst, wird zu Gold. Eine beneidenswerte Fähigkeit, nicht wahr? Ich habe mal ein Jahr lang versucht, ihn zu rupfen, ihn fertig zu machen. Nur so, aus Spaß. Ich wollte sehen, ob ich ihn finanziell in die Knie zwingen kann. Es ging nicht. Er erfüllte mir jeden Wunsch, den Kauf einer Jacht und eines Neunkaräters eingeschlossen. Er kam niemals in Schwierigkeiten. Das ist es“, sagte sie beinahe nachdenklich. „Das ist typisch für ihn. Er kommt niemals in Schwierigkeiten.“
„Er ist mitten drin“, widersprach Bernd.
„Was soll das heißen?“
„Jemand ist ermordet worden, der wie Sie aussieht“, sagte Bernd. „Dafür gibt es nur zwei Erklärungen. Entweder hat man die Unbekannte getötet. weil man sie fälschlicherweise für Sie, Karin Kürschner, hielt, oder man tötete aus Gründen, die noch herauszufinden sind, eine Frau, die als Ihre Doppelgängerin aufgebaut werden sollte.“
„Ich kann das einfach nicht glauben“, sagte Karin Kürschner nach kurzer Pause. „Ich weiß, dass ich gut aussehe. Die Männer sagen es mir, so oft sie dazu Gelegenheit finden. Der Spiegel bestätigt es. Ich bin kein Allerweltstyp. Gesichter wie meines finden Sie nicht an jeder Straßenecke. Ich kann nicht glauben, dass es mein Gesicht in einer zweiten, wohlfeilen Ausgabe gibt.“
„Ich habe die Tote gesehen. Sie glich Ihnen aufs Haar“, sagte Bernd.
„Es war dunkel.“
„Stimmt“, gab er zu. „Sicherlich würden sich bei genauem Vergleich Nuancen ergeben haben, die eine totale Ähnlichkeit ausschließen, aber der Gesamteindruck war frappierend. Und dann: warum ging sie mit Ihrem Ausweis spazieren?“
„Ich bin verwirrt, ich weiß es nicht.“ Sie lächelte plötzlich. „Oder doch. Ich fange an. es zu ahnen.“
Er beugte sich nach vorn. „Sprechen Sie.“
„Sie wollten sich einen dicken Auftrag angeln“, sagte sie. „Deshalb haben Sie eine haarsträubende Geschichte erfunden. Finden Sie nicht, dass Sie dabei zu dick aufgetragen haben? Ein Privatdetektiv stolpert in ein mysteriöses Verbrechen! Ich will Ihnen sagen, was daran mysteriös ist. Nur Ihre Auslegung! Ich wette, es hat diese Tote nicht gegeben. Sie haben sich meinen Ausweis geklaut, um der Sache Kolorit und scheinbaren Wahrheitsgehalt zu geben.“
„Und der Tote in der Gasse?“, fragte Bernd.
„In der Gegend, von der Sie sprechen, gehören Leichen und Morde zum laufenden Programm. Sie haben die Leiche gefunden, das stelle ich nicht in Abrede. Die Männerleiche. Alles andere ließen Sie sich einfallen, um meinen Mann als dicken Fisch an Ihre Honorar-Angel zu bekommen.“
„Sie vergessen Andre Wanger.“
„Ein Penner! Ein heruntergekommener Eckensteher. So haben Sie ihn jedenfalls beschrieben. Ich wette, Sie haben ihn mit drei Hundertern gekauft oder auf andere Weise geködert. Vielleicht wollen Sie ihn an Ihrem Geschäft beteiligen.“
„Sie sind ein seltsames Geschöpf“, sagte er. „Sie lassen sich tausend krumme Erklärungen für mein Handeln einfallen, ohne zu fragen, ob ich nicht doch die Wahrheit gesagt haben könnte. Ich sprach vorhin davon, dass Ihr Mann in Schwierigkeiten sei, aber es ist nach Lage der Dinge viel zutreffender, von Ihren Schwierigkeiten zu sprechen. Wer baute die Doppelgängerin auf? Welchem Zweck diente das Manöver – und warum musste sie plötzlich sterben? Schließlich und endlich: Wer beseitigte die Leiche und ersetzte sie durch die eines Mannes?“
„Sie sind Detektiv, nicht ich“, meinte sie spöttisch. „Finden Sie eine Antwort auf Ihre Fragen, falls Sie wirklich so brennend daran interessiert sind. Ich für meinen Teil erlaube mir, das Ganze als großen Bluff zu betrachten.“
„Hier ist meine Karte“, sagte er und legte sie auf den Tisch. „Vielleicht kommen Ihnen doch noch Zweifel an der Vertretbarkeit Ihrer phantastischen Versionen – spätestens dann, wenn Sie von der sicherlich bald anrückenden Polizei erfahren, dass ich nicht der krumme Hund bin, den Sie in mir zu sehen belieben.“
Er eilte hinaus und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie sauer er war. Zugegeben, er hatte gehofft, dass die Kürschners ihn beauftragen würden, den Fall zu übernehmen, aber Karin Kürschners provozierende Auslegung seines Besuches war ziemlich beleidigend und schloss eigentlich aus, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt doch noch für sie verwendete. Wenn schon! Trotzdem wurmte ihn das Ganze. Karin war genau der Typ, auf den er flog. Aber welcher Mann stand nicht auf einer solchen Frau? Bernd hätte ihr gern bewiesen, dass er nicht nur Sprüche klopfen konnte, aber im Augenblick sah es ganz so aus, als ob er bei der jungen Frau mit der falschen Frequenz gearbeitet hätte und keine Gelegenheit bekommen würde, diesen Fehler zu korrigieren.
Er hörte Schritte hinter sich, blieb stehen und drehte sich um. ‚Sieh mal einer an‘, dachte er belustigt. ‚Mein Freund. Der Türsteher!‘ Der Hüne trug unter seinem schwarzen Anzug eine gestreifte Weste und lächelte heiter. „Wir sind vorhin unterbrochen worden“, sagte Manfred. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, setzen wir die Unterhaltung fort. Jetzt bin ich am Zuge, nicht wahr?“
Seine Linke zuckte hoch. Nur ein wenig. Sie traf mit der Wucht einer mittelschweren Dampframme Bernds Unterleib. Bernd ging in die Knie und hatte das Gefühl, dass sein Magen sich wie ein Fahrstuhl durch die Speiseröhre bewegte. Er bemühte sich, die rasenden roten und grünen Kreise zu stoppen, die sich vor seinen Augen drehten. Noch ehe er einen Erfolg verbuchen konnte, traf etwas seinen Nacken. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, was das war. Er kippte nach vorn und verlor das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, saß er auf einem hochlehnigen Stuhl in einem fensterlosen, niedrigen Raum. Von der Decke herab baumelte eine Schirmlampe mit einer starken Glühbirne. Der Hüne lehnte vor ihm an der Wand, mit vor der Brust verschränkten Armen. Er hatte sein schwarzes Jackett ausgezogen und grinste zufrieden.
„Da sind wir ja wieder“, sagte er.
Bernd schüttelte den Kopf. Er war verblüfft. Der Hüne hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu fesseln. Manfred war von schleimiger Herzlichkeit. Es war zu spüren, wie sehr er die Situation genoss. Bernd stand auf. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Die Stabilität in seinen Knien war schon besser gewesen, aber er fing an, Manfreds gute Stimmung zu teilen. Ein zweites Mal würde der Kerl ihn nicht übertölpeln.
„Es geht doch schon wieder, hoffe ich?“, fragte Manfred.
„Es geht großartig“, bestätigte Bernd und setzte sich wieder. Er brauchte noch ein paar Minuten Pause, dann würde er sich erlauben, die zweite Runde einzuläuten. Es schien, als wartete sein Gegenüber nur darauf. Er war der geborene Raufbold.
Es lag auf der Hand, dass Kürschner ihn hauptsächlich wegen dieser Eigenschaften engagiert haben musste. Wenn Kürschner sich eines Schlägers bediente, stellte sich die Frage, gegen wen er sich verteidigen musste.
Bernd war davon überzeugt, dass sich diese Frage schon nach wenigen Recherchen beantworten ließ, aber dummerweise war im Augenblick noch niemand in Sicht, der bereit war, ihn für diese Arbeit zu entlohnen.
„Für wen arbeiten Sie?“, fragte Manfred. „Los, raus mit der Sprache!“
Bernd war verdutzt. „Ich bin Privatdetektiv. Haben Sie das nicht mitbekommen?“
„Aber sicher“, sagte Manfred. „Leute Ihres Kalibers gehen nicht auf eigene Gefahr und Rechnung los, die putzen Klinken nur dann, wenn sie dafür kassieren können. Wer ist Ihr Brötchengeber und was will er von uns?“
„Von den Kürschners, meinen Sie?“, fragte Bernd, dem dämmerte, dass Manfred meinte, als Abwehrorganisation seines Arbeitgebers funktionieren zu müssen.
„So ist es, Schnüffler“, lautete die Antwort.
Bernd stand auf. Er fühlte sich ganz gut. Die Schwäche in seinen Knien hatte sich verflüchtigt. „Weiß Frau. Kürschner, welchen eigenmächtigen Geschäftchen Sie hier im Keller nachgehen?“, erkundigte er sich.
„Sie weiß, dass ich an ihr Wohl denke“, entgegnete Manfred. „Das genügt ihr.“
Bernd trat dicht vor ihn hin, mit gespannten Muskeln und konzentriert, denn er hatte erfahren, mit welcher Plötzlichkeit Manfreds Fäuste Treffer anzubringen verstanden.
„Du wirst jetzt singen, Schnüffler“, sagte der gerade mit gefährlichem Lächeln, „oder ich zerlege dich wie ein Puzzlespiel.“
„Nein“, sagte Bernd und grinste, „das schaffst du nicht. Ich ...“
Klaus-Dieters Faust kam hoch, blitzschnell, aber nicht schnell genug, um Bernd zu überraschen. Er wich mit einer raschen Drehung aus und konterte hart. Seine Faust landete krachend auf Manfreds massivem Kinn. Dessen Kopf flog zur Seite, aber sein Körper rührte sich nicht. Bernd sah keinen Grund, den nächsten Schlag seines Gegners abzuwarten. Er schickte eine Dublette hinterher, Manfred sichtlich durcheinanderbrachte.
Jetzt stieß er sich von der Wand ab. Er reagierte schnell und schlagkräftig. aber seine Beinarbeit war miserabel. Offenbar hatte er es bislang ohne sie geschafft, aber jetzt wurde offenbar, wie gravierend sich dieser Umstand bei einem Gegner auswirkte, der wie ein Leichtgewicht tanzen und wie ein Schwergewicht schlagen konnte.
Manfred wurde wütend. Er begann zu schnaufen. Er konnte nicht verstehen, dass seine Schläge ins Leere gingen, während er unentwegt Treffer einstecken musste. Bernd wurde langsam warm. Ihm schien es so, als versuchte er einen gemauerten Turm mit den Fäusten einzureißen. Dieser Manfred war einfach durch nichts zu erschüttern. Wenn es überhaupt eine mess- und sichtbare Reaktion seinerseits gab, dann war es sein wachsender Zorn. Er rollte mit den Augen. Er stampfte durch den Raum, ruderte mit den Fäusten und wartete zähneknirschend auf den großen, entscheidenden Durchbruch. Bernd sammelte fleißig Punkte. Manfred atmete schwerer. Er schlug noch ungenauer als vorher. Bernd kam zum Punkt durch. Der schwere Mann gab einen ächzenden Laut von sich, dann brach er überraschend in die Knie.
Bernd beugte sich über ihn. Das war falsch. Manfred hatte geblufft. Er war weit davon entfernt, k.o. zu sein. Sein hochfliegender Fuß erwischte Bernd genau dort, wo es weh tat. Bernd krümmte sich vor Schmerz. Manfred war sofort wieder auf den Beinen und praktizierte erneut seinen Nackenschlag. Bernd fiel um.
Als er wieder zu sich kam, war er an den Stuhl gefesselt. An Armen und Beinen. Manfred grinste nicht mehr. Er sah immer noch wütend aus. In seinen kleinen Augen brannte ein kaltes Feuer. Bernd erkannte, dass Manfred zur Grausamkeit neigte und entschlossen war, seinem Trieb zu folgen.
Er holte sein Feuerzeug aus der Tasche, knipste es an, hielt die Flamme unter Bernds Kinn und sagte: „Ich kann noch dichter rangehen. Ich kann sogar ein Feuer unter deinem Hintern machen und dich brennen lassen wie eine Hexe – aber ich baue darauf, dass du vorher zur Vernunft kommst.“
Bernd biss die Zähne zusammen. Er tat es so fest, dass seine geschlossenen Augen feucht wurden. Wilder Schmerz durchfuhr ihn. Ein Geräusch ließ ihn die Lider heben. Die Tür ging auf.
Manfred nahm das Feuerzeug zurück. Er grinste verlegen. „Hallo“, sagte er.
„Was geht hier vor?“, fragte Karin Kürschner. Sie war auf der Schwelle stehengeblieben und wirkte ziemlich fassungslos.
„Der Kerl hat mich überfallen“, behauptete Manfred. „Ich will und werde herauskriegen, was er von uns will, Frau Kürschner. Gehen Sie nur nach oben. Das hier ist nichts für Sie.“
Karin reagierte auf erstaunliche Weise. Sie trat vor den Hünen hin und schlug ihm die flache Hand klatschend ins Gesicht. Es war eine volle Breitseite. Manfred blinzelte fassungslos, überrascht, gedemütigt. Bernd war erstaunt, dass in dieser Gefühlsskala Hass fehlte, aber möglicherweise hatte sich Manfred seiner Herrin gegenüber so gut in der Gewalt, dass er nicht alle Karten auf den Tisch zu legen brauchte.
„Binden Sie ihn los!“, befahl Karin.
Manfred kam der Aufforderung schweigend nach, Karin und Bernd gingen nach oben in den Salon. „Ich bin empört“, sagte sie. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Manfred ist ein Rüpel. Ich weiß, dass er glaubt, uns beschützen zu müssen, aber manchmal scheint er an Verfolgungswahn zu leiden, dann zeigt er, wie ich meine, sogar schizophrene Eigenschaften.“
„Sie hätten ihn nicht schlagen dürfen“, sagte Bernd. „Das wird er Ihnen nicht vergessen.“
„Ach was! Ich werde meinen Mann bitten, ihn zu entlassen. Ich kann dieses Monster nicht länger im Hause dulden.“
„Wird Ihr Mann darauf eingehen?“
„Aber sicher! Er tut alles, worum ich ihn bitte“, erklärte Karin selbstbewusst. Sie steckte sich eine Zigarette an und rauchte mit kurzen, nervösen Zügen. „Fahren Sie zu ihm ins Büro“, sagte sie dann. „Bayerisches Viertel, Landshuter Straße 11. Sprechen Sie mit ihm. Er wird Sie beauftragen, diesen Fall zu lösen.“
Bernd hob die Augenbrauen. „Haben Sie plötzlich Ihre Meinung geändert?“
„Ich fühle nur, dass Ihnen hier Unrecht getan wurde, und dass wir in Ihrer Schuld stehen. Vielleicht können wir das mit einem Auftrag wieder gut machen.“
Er verabschiedete sich und fuhr los. Unterwegs machte er im Polizeipräsidium Halt. Inspektor Horst Südermann war in seinem Büro gerade damit beschäftigt, behutsam aus einem Pappbecher kochend heißen Kaffee zu trinken.
„Nimmst du auch einen?“, fragte er den Besucher.
Bernd setzte sich. „Wenn ich dein Gesicht betrachte, kann ich die Frage nicht als Freundschaftsdienst verstehen“, sagte er. „Du siehst aus, als hätte man dich gezwungen, den Schierlingsbecher zu leeren.“
„Manchmal habe ich die Sekretärin in Verdacht, dass sie mich verbrühen will“, meinte Hors.
„Sie will dich entflammen“, sagte Bernd scherzend. „Da sie es mit ihren nachlassenden Reizen nicht zu schaffen scheint, strebt sie das Ziel mit anderen Hitzetechniken an. Zur Sache: Hat man den Toten schon identifiziert?“
Der Inspektor nickte und griff nach einem Zettel, der vor dem ihm auf dem Schreibtisch lag. „David Mann. 28, vorbestraft wegen ... ach, das liest du am besten selber nach. Ein Ganove mittleren Kalibers. Einzelgänger, Spezialisiert auf das Stehlen und Umfrisieren teurer, ausländischer Sportwagen.“
„Bandenmitglied?“
„Hast du mich nicht verstanden? Er war Einzelgänger.“
„Frisierte Luxusschlitten werden im Allgemeinen durch Organisationen vertrieben.“
„Vielleicht betätigte er sich gelegentlich als Zulieferer, kann schon sein, aber unseren Informationen zufolge war er ein typischer Außenseiter, ein Mann, der es hasste, mit anderen zu arbeiten.“
„Gibt es schon ein Tatmotiv?“
Der Inspektor nippte erneut mit misstrauisch wirkendem Gesicht an dem heißen Becher. „Tatmotiv, Tatmotiv!“, sagte er. „Sicher gibt's eines. Sein Tod soll uns offenbar von der Ermordung dieser Frau ablenken. Du hast sie wirklich gesehen?“
„Ich habe sie gesehen. Sie war tot, das steht für mich fest. Und sie sah, auch daran gibt es nichts zu rütteln, dieser Karin Kürschner täuschend ähnlich.“
„Kann es nicht Karin Kürschner gewesen sein?“, fragte der Inspektor. „Wir werden das überprüfen müssen. Anhand von Fingerabdrücken und so weiter. Übrigens habe ich einige Erkundigungen über die Kürschners eingeholt. Der Bursche ist Finanzmakler. So nennt er sich jedenfalls. Großkotziges Büro in der besten Gegend im Bayerischen Viertel. Zu seinen Klienten gehören zahlreiche prominente Leute aus Berlin, aber auch aus dem Westen. Übrigens auch die drei schlimmsten Verbrecher unserer Stadt.“
„Oh, das wird interessant!“, antwortete Bernd Schuster.
„So ist es“, bestätigte der Inspektor. „Die Gangsterprominenz der Stadt. Es gibt im Lande nichts Vergleichbares, nicht mal im vielgepriesenen Frankfurt. Aber das kennst du ja besser als ich. Was sagst du nun?“
„Jemand hatte guten Grund, eine Doppelgängerin für Karin Kürschner aufzubauen“, sagte Bernd. „War es Kürschner selber? Oder waren es seine Gegner?“
„Jemand hatte guten Grund, die Doppelgängerin abzuservieren“, setzte der Inspektor spöttisch dagegen. „War es Kürschner selber? Oder waren es seine Gegner?“
„David Mann stört das Bild“, sagte Bernd.
„Du wirst es schon schaffen, ihn in dem blutrünstigen Gemälde unterzubringen“, meinte der Inspektor. „Wie ich dich kenne, bist du bereits bei den Kürschners gewesen. Habe ich recht?“
„Deine Schnüffelnase funktioniert wie eh und je. Ja, ich war dort. Aber frage mich bitte nicht, was ich von den Leutchen halte. Ich bin bereits Partei. Karin, das ätherische Wesen, hat mich engagiert.“
„Deine kommerziellen Fähigkeiten hauen mich um“, sagte Horst Südermann. „Du machst wohl alles zu Geld, was? Meinen Segen hast du, aber an deiner Stelle wäre ich nicht gerade stolz darauf, für Leute zu arbeiten, die das Blutgeld der großen Gangster vermehren und auf diese Weise die Macht und Schlagkraft der organisierten Banden beträchtlich erhöhen.“
„Nun mal schön langsam. Steck den moralisch erhobenen Zeigefinger lieber in die Nase“, meinte Bernd. „Oder meinetwegen auch in den Kaffee, um ihn kalt zu rühren. Ich arbeite noch nicht für sie, ich habe nur so eine Art von Vorauftrag, eine halbe Zusage. Und die stammt von Karin. Wenn ihre Doppelgängerin ermordet wurde, steht zu befürchten, dass auch Karin gefährdet ist. Zumindest kann man dieses Risiko nicht ausschließen. Ich denke, es ist eine durchaus legitime Aufgabe für einen Privatdetektiv, ein solches Verbrechen zu verhindern und, wenn möglich, an den Wurzeln auszurotten. Apropos Verbrechen. Hat man die Leiche der verschwundenen Doppelgängerin gefunden?“
„Fehlanzeige“, sagte der Inspektor.
Bernd verabschiedete sich und ging sehr nachdenklich zu seinem geparkten Wagen zurück. Es war ja keineswegs so, dass er auf das Honorar angewiesen war. Tatsächlich war er überhaupt nicht auf irgendein Honorar angewiesen, denn seine Eltern hatten ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Es würde ausreichen, ein sorgloses Leben in der Sonne zu führen.
Aber Bernd Schuster, der ehemalige Feldjäger, war zum Ende seiner Dienstzeit von Frankfurt nach Berlin gezogen. Seine Scheidung gab dazu den letzten Antrieb. Er erhielt das Sorgerecht für die Tochter Lucy, die bei ihm im 14. Stock in der Kurfürstenstraße wohnte. Auch vor Lucy hatte er, genau wie vor Franziska und Knut, seine wahren Vermögensverhältnisse verborgen gehalten. Er wollte nicht, dass Lucy Dank des ererbten Vermögens Schule und Ausbildung vernachlässigte. Bislang war er damit gut gefahren, die Siebzehnjährige war zwar äußerst umtriebig und mit der Clique ständig bei irgendwelchen Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam oder die leerstehenden Häuser, die den Spekulanten in den letzten Jahren in die Hände gefallen waren. Aber Lucy machte ihren Weg.
Die bisherigen Noten ließen ein überdurchschnittliches Abitur erwarten.
Und das benötigte Lucy, um ihren Traum wahrmachen zu können.
Sie wollte unbedingt Medizin studieren.