Читать книгу Mord vor ausverkauftem Haus Berlin 1968 Kriminalroman Band 20 - Tomos Forrest - Страница 6

Оглавление

2


Während sich der rote Samtvorhang vor der dramatischen Szene des Kriminalstücks schloss, brandete unten im Zuschauerraum Beifall auf. Das Publikum war begeistert.

Die erschossene Karen richtete sich erstaunlich schnell wieder auf und trippelte von der Bühne, auf der bereits die Dekoration in fliegender Hast umgebaut wurde.

Sie wusste, dass der Applaus nur zu einem geringen Teil ihrer Darstellung galt. Sie hatte in dem Stück nur eine winzige Rolle inne. Sie war Statistin, mehr nicht. Dass sie ein paar Sätze sprechen und auf der Bühne sogar sterben durfte, lag nur daran, dass sie zu dem Autor und dem Regisseur ziemlich nett gewesen war. Die Schauspielerei war ein verdammt harter Job. Besonders hier in West-Berlin, wo es in der Kulturszene brodelte und die vielen kleinen und großen Bühnen sich Konkurrenz machten.

Das Zugvogel-Theater konnte mit den großen, namhaften Bühnen nicht konkurrieren. Ihm fehlten die Stars mit den zugkräftigen Namen. Was nützte es da, dass das Stück von Stefan M. Wishold, dem Bestsellerautor der Jahre 1966 und 1967, ein Erfolg wurde. Die Bühnenfassung wurde ein richtiger Reißer mit allen Schikanen. Einen solchen Volltreffer landete man nicht in jeder Saison, schon gar nicht in dem kleinen Theater, das sich auf Volkstheater und Kriminalstücke spezialisiert hatte. Mit dem witzigen Namen wollte man selbstironisch auf die ständig weiterziehenden Schauspieler verweisen. Die meisten Namen verblassten bereits seit einiger Zeit, denn die betreffenden Schauspieler sah man schon lange nicht mehr in den großen Filmen oder auf wirklich großen Bühnen in der Bundesrepublik.

Karen schob sich an ein paar Bühnenarbeitern vorbei, die ihr sehnsüchtige Blicke hinterherschickten. Für diese Männer war sogar sie schon unerreichbar.

Sie eilte zu den Garderoben. Das Stück lief noch über eineinhalb Stunden, aber für sie war bereits Feierabend.

Aus einer der Türen schoss Wilhelm Städtler heraus. Er verkörperte auf der Bühne den alten Neumann und machte einen erregten Eindruck.

„Ich mache das nicht mehr länger mit“, fauchte er die Blondine an, die ihn verständnislos ansah.

„Was ist los, Willi?“, gurrte sie. Längst hatte sie sich zur Gewohnheit werden lassen, sich mit allen Männern, die es in irgendeinem Bühnenberuf schon weitergebracht hatten als sie selbst, gut zu stellen. Ein Mädchen mit aufregender Figur, aber nur mäßigem Talent, brauchte nun mal Schützenhilfe. Wenn Wilhelm Städtler, der die Sechzig schon vor ein paar Jahren überschritten hatte, dieser Schütze war, dann sollte ihr das recht sein. Sie konnte sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

„Um ein Haar hätte er die ganze Szene geschmissen“, wütete der Alte.

„Wer?“

„Meissner natürlich. Wer sonst? Zum Glück haben die Zuschauer nichts gemerkt, weil sie glaubten, das Gestotter gehöre zu der Rolle. Aber ich habe die Nase voll. Wenn ihm die Rolle nicht passt, dann soll er das gefälligst Franzen sagen. Auf der Bühne hat er zu spuren, sonst sage ich ihm mal meine Meinung.“

„Von dir kann Alfred noch viel lernen, Willi“, säuselte Karen. „Du kannst uns allen eine Menge beibringen. Auch mir.“

Städtler warf ihr einen missmutigen Blick zu, wurde aber zusehends freundlicher, als er ihre verheißungsvollen Augen und das nicht weniger verheißungsvolle Dekolleté sah.

Er räusperte sich. An solche Sachen durfte er jetzt nicht denken. Er hatte noch zu spielen. Ehe er Zeit hatte, sich um die niedliche Kleine zu kümmern, lag sie längst mit einem Jüngeren im Bett.

„Ach, lass mich doch in Ruhe!“, erwiderte er barsch. Die verpasste Gelegenheit und der Ärger mit Meissner machten ihn aggressiv und ungerecht.

Er drängte sich an ihr vorbei, und Karen versäumte nicht, sich so in den Weg zu stellen, dass er sie berühren musste.

Sie spürte, wie er wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzuckte. Amüsiert und mit zusammengekniffenen Augen blickte sie ihm nach.

„Dich kriege ich schon noch“, murmelte sie. „Im nächsten Stück will ich nicht nur die hübsche Leiche spielen. Und du wirst mir dazu verhelfen.“

Während sie weiterging, riss sie sich die blonde Perücke vom Kopf. Lange, schwarze Haare quollen darunter hervor. Es war ein Jammer, dass sie diese Pracht auf der Bühne verstecken musste.

Eine durchdringende Stimme erklang hinter einer der Türen.

Karen bog die Mundwinkel nach unten. Immer dasselbe. Den Streit zwischen den beiden kannte sie schon bald auswendig. Trotzdem schlich sie sich heran und lauschte.

„Du bist eine falsche, durchtriebene Kanaille“, schrie eine Frau. „Dein sanftes Getue geht mir schon lange auf die Nerven. Sven fällt vielleicht noch darauf herein, aber ich schon lange nicht mehr. Ich weiß genau, worauf du aus bist. Ich habe dich durchschaut.“

„Und worauf bin ich aus, Vanessa?“ Die andere Frau sprach ruhig, aber auch diese Ruhe wirkte erzwungen.

„Du bildest dir ein, dass dir Franzen im nächsten Stück meine Rolle gibt.“

„Es ist nicht deine Rolle, Vanessa, sondern die Rolle für die Bessere“, korrigierte die andere leise. „Die Entscheidung darüber sollten wir besser Franzen überlassen.“

„Ach“, kam es schrill, „du hast ihn wohl schon überredet. Wie lange hat es gedauert? Drei Nächte? Oder konntest du ihn noch schneller von dir begeistern? In gewissen Situationen verfügst du ja tatsächlich über eine erstaunliche Begabung.“

„Du bist so niederträchtig, dass einem schlecht werden kann.“

Karen presste ihr Ohr fest ans Holz, als wollte sie die Tür damit aufdrücken. Sie wollte kein einziges Wort zwischen den ewigen Streithennen versäumen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Karen fuhr erschrocken herum und wurde krebsrot, was ihr ebenfalls gut zu Gesicht stand. „Herr Franzen!“, stammelte sie verwirrt.

„Ich hoffe, du hast dir die Szene gut eingeprägt, Karen‟, sagte der beleibte Mann mit süffisantem Grinsen. „Von den beiden kannst du nur lernen. Die haben wenigstens Temperament. Jede auf ihre Art. Dagegen war dein Auftritt heute so schal wie lauwarmer Kaffee.“

Karens Atem wurde heftiger. „Ich habe Ihnen nicht gefallen?“, fragte sie enttäuscht und versuchte einen betörenden Augenaufschlag.

Franzen winkte ab. „Bei mir kannst du dir die Mätzchen sparen“, sagte er kalt. „Ich habe andere Sorgen. Übermorgen beginnt die Tournee, und hier spielt jeder verrückt.‟

Karen zog einen Flunsch. Obwohl sie die Unnahbarkeit des Intendanten kannte, kränkte sie die Abfuhr doch. Sie fragte sich, ob er nur bei ihr so abweisend war.

Doch dann dachte sie an die Tournee, und ihre Laune besserte sich schlagartig. Immerhin kam die Gastspielreise für sie einem langen Urlaub gleich, und der war schließlich nicht zu verachten, zumal die Möglichkeit bestand, dass sie unterwegs neue Bekanntschaften schließen konnte. Franzen ließ sie stehen und öffnete eine der nächsten Türen, ohne vorher anzuklopfen.

„Städtler hat sich bei mir beschwert“, polterte er los, „und ich muss ihm recht geben, Meissner. Ein Mann, der seine ganze Zeit mit Frauen und Schnaps verbringt, lallt nicht nach ein paar Gläsern. Das nimmt dir keiner ab. Was war los mit dir? War der Tee etwa echter Fusel?“

Zwei Männer hielten sich vor dem Schminkspiegel auf. Der eine von ihnen war Alfred Meissner, der die Rolle des jungen Neumann spielte. Das Bärtchen klebte ein bisschen schief auf seiner Oberlippe. Er starrte in den Spiegel und war kreidebleich.

Hinter ihm stand Sven Gabler, ein großer Bursche mit markanten Gesichtszügen. Auch er hatte dem Kollegen gerade Vorwürfe gemacht.

Meissner drehte sich nicht um. Er stand auch nicht auf und rechtfertigte sich für seine schwache Leistung. Er stierte nur sein Spiegelbild an, neben dem jetzt Franzen auftauchte.

„Verfluchte Sauferei!“, sagte Sven Gabler und wandte sich angewidert ab.

Alfred Meissner hielt ihn am Ärmel zurück. Er krallte sich regelrecht fest.

„Ich – ich bin nicht betrunken“, lallte er. Die Worte fielen ihm schwer. „Ich brauche einen Arzt – schnell einen Arzt. Was steht ihr denn noch herum? Tut doch endlich etwas! Den Notarzt! Irgendein Schwein hat mich vergiftet.“

Seine Hand fiel kraftlos herab. Schaum trat vor seinen Mund. Er wollte aufstehen, schaffte es aber nicht, sondern brach mitsamt dem Stuhl zusammen.

Sven Gabler wich entsetzt zurück. Ein gespielter Mord auf der Bühne war etwas anderes als ein Toter hinter den Kulissen.

„Ich habe Doktor Zeidler in der dritten Reihe sitzen sehen“, sagte Franzen hastig. „Ich werde ihn bitten, rasch herzukommen.‟

„Und ich informiere die Polizei“, erbot sich Gabler.

Der Intendant hielt ihn zurück und blitzte ihn wütend an. „Was fällt dir ein, Gabler? Haben wir nicht schon genug Scherereien? Übermorgen gehen wir auf Tournee. Da hätte uns die Polizei gerade noch gefehlt.‟

„Aber Alfred wurde ermordet“, stieß Sven Gabler verwirrt hervor.

„Noch atmet er. Vielleicht kriegt ihn der Arzt wieder hin. Vergiss nicht, dass ich es bin, der dieses Theater leitet und euch bezahlt. Infolgedessen bestimme ich auch, was in diesem Fall zu geschehen hat. Und ich sage: Keine Polizei. Ist das klar?“

Gabler nickte und senkte dann den Kopf. Er warf einen scheuen Seitenblick auf den am Boden Liegenden, der sich in Krämpfen wand.

Dann hastete er aus der Garderobe.

Mord vor ausverkauftem Haus Berlin 1968 Kriminalroman Band 20

Подняться наверх