Читать книгу Drei Henker für den High Sheriff: Schwert und Schild - Sir Morgan, der Löwenritter Band 52 - Tomos Forrest - Страница 6
Оглавление2.
Es war der junge Sir Arwin, der sich mit den Rechtsgeschäften sehr gut auskannte, denn er hatte nach seiner Rückkehr aus Frankreich, wo sich der englische Königshof aufhielt, einiges in Spreyton ordnen müssen, bevor er dem Ruf nach Okehampton folgen konnte. Kaum hatte sein Fuß wieder heimischen Boden betreten, als er von einem Bauern erkannt wurde. Der Mann warf sich vor seinem Pferd auf die Erde, bat seinen Herrn um Gnade und Erbarmen, und als der junge Ritter erstaunt Einzelheiten wissen wollte, berichtete ihm der vollkommen aufgelöste Mann von den Ereignissen der letzten Wochen.
„Es ist gut, dass du mir so offen alles berichtet hast. Ich verspreche dir, dass es mit dieser Schreckensherrschaft jetzt ein Ende hat.“
„Aber, Herr ... Herr ...“, stammelte der Mann, der noch immer auf seinen Knien lag.
„Noch etwas? Frei heraus, ich höre dir zu!“
„Es ist heute Gerichtstag in Spreyton, und da wird Euer Verwalter wieder die Menschen, die ihm nicht gehorchten, auf furchtbare Weise aburteilen lassen!“
„Das werden wir sehen!“, hatte er ausgerufen und sein Pferd so rasch angetrieben, dass seine Männer Schwierigkeiten hatten, ihm in gleicher Geschwindigkeit bis an die Stadtmauer zu folgen. Hier stiegen alle von den Pferden, die sie den Stadtwachen überließen, und machten sich auf den Weg.
Sir Arwin of Spreyton stülpte den einfachen Nasalhelm über, band den Riemen unter dem Kinn fest und nickte seinen Gefolgsleuten schweigend zu. Alle hatten ihre Schwerter in den Händen und rückten nun stumm in die Stadt Spreyton ein, auf deren Marktplatz sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. Über den Köpfen war für alle schon von Weitem erkennbar, das aufgebaute ‚Blutgerüst‘ zu sehen, auf dem am heutigen Gerichtstag die Verurteilten hingerichtet werden sollten. Niemand achtete auf Sir Arwin und seine Männer, denn aller Augen hingen auf dem vornehm gekleideten Mann, der eben die Leiter hinaufgeklettert war und jetzt mit einer herrischen Geste Ruhe forderte. Sir Arwin reckte den Hals und erkannte in ihm seinen Verwalter, Baronet Cynwrig, einen geborenen Waliser, der bis vor Kurzem noch sein volles Vertrauen genoss. Das änderte sich schlagartig, als Sir Arwin sich eine Weile am englischen Königshof aufhielt, weil er das Vertrauen der Königin, Eleonore Plantagenet, gewinnen wollte. Seine Rückkehr war ungewiss, und die Berichte, die Sir Arwin in Frankreich erhalten hatte, sorgten schließlich dafür, dass er nur wenigen die Botschaft seiner vorzeitigen Rückkehr zukommen ließ.
Jetzt erreichte er mit zehn seiner Männer den Rand des Blutgerüstes, und noch immer hatte ihn sein Verwalter nicht bemerkt. Mit kräftiger, weit schallender Stimme rief der blonde Ritter ihm zu: „Prynhawn da, Cynwrig – Guten Tag, Cynwrig!“
Erstaunt über die walisische Sprache, richtete sich der Mann rasch auf, weil er gerade einer Gruppe seitlich von ihm einen Wink gegeben hatte, näher zu treten. Einen winzigen Augenblick schien er in seiner Bewegung zu erstarren, dann erkannte er seinen Herrn und wurde kreidebleich im Gesicht. Rasch fuhr er auf dem Absatz herum und hetzte über das Gerüst zur anderen Seite.
„Mae’r euog yn ffoi heb neb yn ei erlid – der Schuldige flieht, ohne dass ihn jemand jagt!“, rief Sir Arwin ihm laut hinterher, und das war das Signal für seine Männer auf der anderen Seite des Gerüstes. Verwundert reckten sich die Zuschauer, weil sie gar nicht erkennen konnten, was sich dort abspielte. Der Baronet sprang direkt in die Arme eines kräftigen Soldaten, der ihn mit dem Knauf seines Schwertes niederschlug und den schlaffen Körper unsanft auf den Boden fallen ließ.
Jubel breitete sich unter den Gefolgsleuten des jungen Ritter aus, und gleich darauf wurde der Verwalter hochgerissen und auf sehr unsanfte Weise gefesselt. Anschließend packten ihn derbe Hände und zerrten ihn zu der Treppe und hinauf auf das Blutgerüst. Aus der Menge kamen die ersten Rufe, die für den gefesselten Baronet nicht sehr schmeichelhaft klangen. „Endlich hat man den Richtigen erwischt!“, war noch das Harmloseste, und schon griffen die ersten zu Steinen, die sie abwägend in den Händen hochhielten.
„Das geht zu weit, Leute!“, rief Sir Arwin laut aus, als er das Treiben der Gaffer bemerkte. „Ich bin Euer rechtmäßiger Herr, das werdet ihr ja wohl noch erkennen! Und wenn mein Verwalter während meiner Abwesenheit Unrecht begangen hat, so wird er das büßen! Werft die Steine fort, sonst lasse ich euch von den Soldaten vom Platz treiben!“
Zögernd senkten sich die Arme, öffneten sich die Hände und ließen nach und nach die aufgegriffenen Steine wieder in den Straßendreck fallen.
„An den Galgen mit dem Schuft!“, schrie jetzt eine Stimme, und mehrere fielen sofort in den wiederholten Ruf ein, bis Sir Arwin mit einer herrischen Geste erneut die Ruhe herstellte.
„Ich war bei unserer Königin und habe dort Nachrichten aus meiner Heimat erhalten, die mich sofort zurückbrachten. Jetzt bin ich wieder hier und sorge dafür, dass Recht und Ordnung in meinem Land sowie in der Grafschaft Devon wieder Gültigkeit haben. Bei meiner Rückkehr erfuhr ich auch, dass es einen neuen High Sheriff gibt, der sich nicht Prinz Johann unterworfen hat. Lasst mir etwas Zeit, und ich werde alle Dinge regeln, die während meiner Abwesenheit nicht Rechtens waren!“
„Das kennt man ja!“, rief eine freche Stimme, und Sir Arwin fuhr herum und erkannte den Sprecher gerade noch, bevor der sich hinter seinem Vordermann ducken konnte.
„Du da – ja, dich meine ich, du mit dem großen Maul, der gerade etwas gerufen hat!
Komm herauf zu mir, wenn du dich traust, und bring deine Klage vor!“
Das war dem Rufer natürlich keineswegs recht, er versuchte, sich in der Menge beiseite zu drücken, aber die Umstehenden stießen ihn an und riefen ihm zu, dass er den Mut haben sollte, ihrem Herrn alles zu berichten.
Mehr oder weniger gut gemeinte Knüffe und Stöße trieben den Mann schließlich zu der schmalen Holztreppe, wo er eigentlich noch einmal umkehren wollte, aber von den nachfolgenden Zuschauern daran gehindert wurde. Gespannt blickte Sir Arwin ihm entgegen.
„Na, hat dich der Mut verlassen? Wer in der Menge schreit, muss auch das Maul aufmachen, wenn es mal nicht so bequem ist. Also, Bursche, was hast du vorzutragen?“
Der in einfache, ausgeblichene Kleider gewandete Mann sah auf die Dielen unter seinen Füßen und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Sir Arwin ließ ihm keine lange Bedenkzeit.
„Du musst schon lauter sprechen, sonst kann ich dich nicht hören!“, rief er und erntete Gelächter seitens der Zuschauern.
„Baronet ... schlimm ...“, flüsterte der Mann, der wohl schon vier Lebensjahrzehnte hinter sich hatte. Sein Gesicht wirkte müde, seine Haare zeigten deutlich die grauen Spuren des Alters, und seine Hände hingen kraftlos an den Körperseiten herab. Auch seine Haltung war leicht gebeugt, alles Anzeichen für einen Handwerker, der sein Leben lang schwere Arbeit verrichtet hatte.
„Du bist Zimmermann oder etwas Ähnliches, habe ich recht?“, erkundigte Arwin sich, und erntete einen erstaunten Blick des Mannes.
„Ja, aber ...“
„Ich erkenne das an deiner abgewetzten Kleidung im Bereich der Schulter. Vermutlich trägst du die schweren Balken immer auf der rechten Seite, und dort ist dein Hemd schon fast durchsichtig gescheuert!“
Der Mann wurde feuerrot im Gesicht und starrte angestrengt auf den Boden.
„Du musst dich dafür nicht schämen!“, rief Sir Arwin laut heraus. „Du hast einen ehrbaren Beruf – ganz im Gegenteil zu dem Henker, der dort hinten unterhalb des Blutgerüstes noch immer darauf wartet, seine Arbeit verrichten zu können. Also, Zimmermann, sag mir, was du gegen den Baronet vorzubringen hast!“
„Er hat ... er hat meiner Frau ...“, flüsterte der Mann kaum hörbar.
„Wie bitte? Etwas lauter, mein Freund, sonst glauben alle noch, du willst uns etwas verheimlichen!“
„Er hat meiner Frau ... auf dem Markt ... an die Brust gegriffen und sie dann ... gezwungen, ihm zu seinem ... Haus zu folgen, wo sie seine ... Lust befriedigen musste ... Ich ...“
Der Mann schwieg und warf seinem Herrn einen verzweifelten Blick zu, als im gleichen Augenblick der Baronet, der seine Worte gehört hatte, laut herausbrüllte: „Was für eine unglaubliche Lüge! Das war eine Hübschlerin, die ich bezahlt habe, wie jede andere auch!“
Unwillkürlich hob der Zimmermann seine Faust und wollte einen Schritt auf den Gefangenen zumachen, als Arwin ihm in den Weg trat.
„Halt, keine voreilige Tat. Gibt es noch jemand, der etwas gegen den Baronet vorzubringen hat?“
„Er hat unser Geld geholt, weil wir die Pacht noch nicht bezahlt hätten! Aber wir haben stets pünktlich bezahlt, das war uns eine Ehrensache!“, schrie eine Frau in der zweiten Reihe laut, und sofort fielen andere ein: „Bei uns auch – unser Geld ebenfalls!“
„Dieses Schwein kam mit Soldaten in unser Haus, hat die Mägde vergewaltigt und anschließend alles angezündet, als ich draußen auf dem Feld war. Drei Knechte kamen zu spät und wurden von seinen Soldaten niedergeschlagen, als sie helfen wollten!“, schrie ein anderer mit hochrotem Kopf.
„Hier ist meine Tochter!“, rief wieder ein anderer und schob ein junges Mädchen vor sich her, dem das offenbar sehr unangenehm war, denn sie wollte immer wieder zwischen den anderen in der Menge untertauchen, was der Mann an ihrer Seite verhinderte. „Auch sie wurde von dem Kerl missbraucht! Man sollte ihm die Eier abschneiden, jetzt und hier auf der Stelle!“
„Das ist ja wohl keine Hübschlerin, Baronet!“, rief Arwin und deutete auf das junge Mädchen, das verlegen neben seinem Vater stand und den Blick nicht hob.
„Ich habe sie noch nie gesehen!“, rief Cynwrig mit sich überschlagener Stimme aus. „Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn auch nur eine dieser Anschuldigungen wahr ist!“
Sir Arwin of Spreyton drehte sich mit verächtlicher Miene zu seinem Verwalter um.
„Du kennst das Recht, Cynwrig. Anklagen mit zwei Zeugen sind zulässig!“
„Aber doch nicht von einem Leibeigenen!“, brüllte der Verwalter.
Sir Arwin gab seinen Soldaten ein Zeichen.
„Geht zu denen, die eine Anklage vorzubringen haben, und bringt sie, zusammen mit zwei Zeugen der Taten noch heute auf meine Burg!“ Und lauter rief er mit wahrer Stentorstimme über den Marktplatz: „Wer eine Klage gegen den Baronet vorzubringen hat, kommt mit zwei Zeugen zu mir und wird Gehör finden, so wahr ich Sir Arwin of Spreyton heiße!“
Ein Raunen ging durch die Menge, und in dem Hin- und Herwogen der aufgebrachten Leute war es für die Soldaten nicht einfach, sich durchzukämpfen. Währenddessen trat der abseitsstehende Henker ein paar Schritte nach vorn und verbeugte sich demütig vor seinem Herrn.
„Bin ich entlassen, Sir Arwin?“
„Das bist du, Carnifex, aber halte dich bereit. Ich werde noch heute hören, was gegen den Baronet vorgebracht wird, und werde morgen erneut Gericht halten. Da wirst du, wie ich das jetzt sehe, genügend Arbeit finden!“
Der Mann verbeugte sich mit einem Lächeln, gab seinen Helfern einen Wink und stieg die Leiter hinunter. Vor ihm wich die Menge wie vor einem Aussätzigen zurück, und während er mit hoch erhobenem Haupt in das Viertel der Stadt Spreyton zurückkehrte, in dem die unehrlichen Berufe lebten, wich jeder seinem Blick aus. Wer den Henker berührte oder gar seinen Blick kreuzte, musste mit dem Schlimmsten rechnen – das war eine weit verbreitete Meinung, die dem Carnifex nur recht sein konnte, denn ohne Verzögerung gelangte er durch die dichte Menschenansammlung.
Das Viertel der Unehrlichen, in dem die Huren lebten, aber auch der Bader und der Totengräber, war sein uneingeschränkter Machtbereich. Hier herrschte der Henker, niemand wagte es, ihm zu widersprechen, und die Huren zollten ihm allergrößten Respekt, wenn er am Ende einer Woche zu ihnen kam, um ihren Lohn zu überprüfen, seinen Anteil einzustecken und ihnen ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg gab.