Читать книгу Insel der Ponygirls - Tomàs de Torres - Страница 6

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Etwas hatte sich verändert.

Luke Martin nahm das feuchte Tuch von seinem Gesicht und hob den Kopf. Irgendein Geräusch, fern und regelmäßig, hatte sich in das monotone Brausen des Motors gemischt.

Brandung? Mitten auf dem Meer? Unmöglich!

Mit einem Ruck zog er sich an der Reling empor und blinzelte nach achtern, wo das Kielwasser einen gerippten Keil in den Horizont trieb. Keine Spur von einem Verfolger.

Luke entspannte sich wieder.

Wie sollten sie mich auch finden?

Das Boot war eines der schnellsten konventionellen Motorboote, die Luke je gefahren hatte. Außerdem hatte er nach dem Verlassen des Hafens den GPS-Tracker deaktiviert, der seine Position an den Bootseigner weitermeldete. Nur an die Notschaltung, die beim Kontakt mit Salzwasser ein Signal senden würde, kam er ohne Spezialwerkzeug nicht heran. Doch solange das Boot nicht sank …

Immer noch auf die Reling gestützt, stemmte Luke sich hoch. Die Vibrationen des Bootes pflanzten sich durch seinen ganzen Körper fort. Er vermied es, nach oben zu sehen. Der lodernde Feuerball der Nachmittagssonne ließ Lukes Schädeldecke glühen, und seine Zunge, beinahe ebenso trocken wie seine Kehle, schien auf das Doppelte ihrer normalen Größe angewachsen zu sein.

Er richtete den Blick nach vorn. Der Fahrtwind ließ seine Augen tränen.

»Unmöglich!«

Er schloss die Augen, dann riss er sie wieder auf. Die Insel war immer noch da und schwebte über dem Bug wie eine Fata Morgana. Doch im Unterschied zu einer Luftspiegelung besaß sie scharfe Konturen und flimmerte nicht. Eine dunkle Steilwand, die aus dem Meer emporragte. Da Luke keine Ahnung hatte, wie hoch die Wand war, konnte er die Entfernung kaum abschätzen, die ihn von der Insel trennte.

Barbados?

Er schüttelte den Kopf. Undenkbar, dass er so weit nach Südost abgedriftet war. Ein Blick auf den Kompass zeigte ihm, dass er immer noch Ostkurs hielt, mit einer minimalen Abweichung nach Norden.

Luke versuchte sich zu erinnern. Was befand sich östlich der kleinen Antillen-Insel Saint Lucia, von der er im Morgengrauen geflüchtet war?

Nichts! Nichts als offenes Meer, über 4000 Kilometer. Dann die Kapverdischen Inseln und dahinter, auf dem westafrikanischen Festland, Senegal.

Die Seekarte konnte er nicht zu Rate ziehen, denn die hatte er kurz nach seinem Aufbruch ins Meer geworfen, zusammen mit seinem Mobiltelefon. Dort, wohin er fuhr, benötigte er weder Telefon noch Karte.

Dort benötigte er gar nichts mehr.

Aber die Insel erweckte seine Neugierde. Da sie rasch anwuchs, konnte sie nicht allzu groß sein. Sie musste vulkanischen Ursprungs sein, vielleicht nicht mehr als ein im Lauf der Jahrtausende erodierter Krater. Die untere Hälfte der Wand war von einem erdigen Braun, oben überzog dunkelgrüner Bewuchs den Steilhang.

Luke Martin bückte sich nach dem Taschentuch, befeuchtete es erneut mit Spritzwasser und breitete es über sein sandfarbenes Haar. Sofort ließen die Kopfschmerzen nach, verschwanden jedoch nicht vollständig. Seine Kehle brannte, und das Schlucken schmerzte.

Er ließ sich auf den Pilotensitz fallen, drosselte die Geschwindigkeit und änderte den Kurs leicht nach Backbord, um links an der Insel vorbeizufahren. Sie war jetzt so nahe, dass Luke anhand der Pflanzen ihre Höhe schätzen konnte: drei- bis vierhundert Meter, vielleicht sogar mehr. Ein Vulkankrater, kein Zweifel. Wahrscheinlich war die Insel annähernd kreisförmig. Er beschloss, sie zu umrunden.

Er hatte nichts anderes vor, weder heute noch irgendwann.

In einer Entfernung von 150 Metern fuhr er an der Kraterwand vorbei und hielt dabei vergeblich Ausschau nach einer Bucht oder einer anderen Landemöglichkeit. Der Kegelstumpf stieg überall mit einem Winkel von 70 bis 80 Grad aus dem Atlantik. Weiter nördlich erstreckte sich jenseits des Kraters eine bewaldete Landzunge, vergleichsweise flach auf ihrer Oberseite, aber zum Meer etwa 100 Meter steil abfallend. Durch sie erhielt die Insel einen ovalen Grundriss.

Luke umrundete ein spitzes Kap, steuerte wieder nach Ost und dann nach Südost. Überall bot sich das gleiche Bild: kahle Lavahänge bis auf eine Höhe von 100 oder 200 Metern, darüber Bewuchs. Keine Spur von Bewohnern, nicht einmal auf der flachen Nordseite. Keine Häuser, keine Sendemasten auf dem Kraterrand – und keine Strände, Buchten oder Anlegestellen.

Keine Landemöglichkeit.

Die Antilleninseln waren fast alle vulkanischen Ursprungs, dennoch hatte Luke noch niemals eine so unzugängliche Insel gesehen. Er schätzte ihre Ausdehnung auf zweieinhalb mal dreieinhalb Kilometer, wobei die lange Achse von Nordnordwest nach Südsüdost verlief.

Kein Zeichen von Menschen …

Auch eine Insel, die so weit abseits aller Schifffahrtsrouten lag, musste vom Menschen erobert worden sein, selbst eine so unwirtliche wie diese. Der Mensch setzte sich überall fest, und hatte er dies erst einmal getan, war er nur sehr schwer wieder zu vertreiben.

Wahrscheinlich ist das Kraterinnere eine sonnendurchglühte Geröllwüste, dachte Luke.

Er lenkte das Boot noch näher an die Wand heran und fuhr auf einen Vorsprung zu, ein kleines Kap. Plötzlich überkam ihn die Vision von Palmen und Strohhütten am Ufer einer weit geschwungenen Bucht. Rote, blaue und grüne Fischerboote, die man an den Strand gezogen hatte …

Dann hatte er das Kap passiert, aber da war nichts, nichts als der Steilhang; kein Strand. Luke sah nicht einmal Vögel.

Halt! Was ist das?

Halb verborgen im harten Schatten eines Felsvorsprungs war etwas, das nicht hierher passte. Eine Struktur, die zu regelmäßig war, um auf natürliche Weise entstanden zu sein.

Er fuhr näher heran und kniff die Augen zusammen.

Ein Gitter!

Ein dickes Eisengitter, dessen Farbe aufgrund des Rostes beinahe identisch war mit jener des Vulkangesteins. Etwas zurückgesetzt, mindestens fünf Meter breit und ebenso hoch verschloss es auf Meeresniveau einen Zugang – oder besser gesagt: eine Zufahrt. Es sah aus, als ob ein Kanal in den Berg hineinführte.

Luke zwang das Boot in eine enge Kurve und steuerte es mit Unterstützung der Brandung bis zum Gitter. Mit einem dumpfen Ton, der etwas Endgültiges an sich hatte, stieß die Backbordseite gegen das Metall. Er stand auf, nahm eines der Taue in die linke Hand, streckte die rechte aus und lehnte sich über die Bordkante. An einem der Gitterstäbe verknotete er das Tau.

Die Augen mit den Händen gegen die Sonne abgeschirmt, spähte er ins Innere, konnte aber nur wenige Meter weit sehen. Der Kanal schien so breit und hoch zu sein wie das Gitter, mit annähernd rundem Querschnitt. Kein Licht am Ende; wahrscheinlich reichte er nur ein Stück weit in den Berg.

Aber welchen Sinn hatte er dann?

Luke musterte seine Hände, mit denen er sich am Gitter festgeklammert hatte. Sie waren rotbraun gefärbt von feuchtem, salzgetränktem Rost. Das Tor, das die Zufahrt versperrte, musste uralt sein.

Er rüttelte an dem Gitter. Es gab nach, aber nur wenige Zentimeter. Dabei entdeckte er, dass es in der Mitte geteilt war. Eine Eisenkette verband in Kopfhöhe zwei Gitterstäbe und wurde durch ein schweres Schloss gesichert. Weder Kette noch Schloss wiesen Spuren von Rost auf, nur etwas Salz hatte sich daran festgesetzt. Der Schluss lag auf der Hand.

Das Tor mag uralt sein, aber es wurde in jüngster Zeit benutzt!

Eine Erregung ergriff Luke, die ihn Kopfschmerzen und Durst vergessen ließ. Er ahnte, dass er einem Geheimnis auf der Spur war, und Geheimnissen hatte er noch nie widerstehen können.

Das Tor war an beiden Seiten im Vulkangestein verankert. Nur oben, wo der Stollen unregelmäßig ausgehauen war, gab es eine kleine Lücke, die jedoch groß genug für einen erwachsenen, nicht zu dicken Menschen schien.

Luke war nicht zu dick. Er war groß, kräftig und durchtrainiert. In den 29 Jahren seines Lebens hatte sein Körper noch kein Fett angesetzt.

Ich will wissen, was es mit dem Stollen auf sich hat!

Er legte Hemd und Unterhemd ab und bückte sich, um die Schnürsenkel zu öffnen, doch dann überlegte er es sich anders und behielt die Schuhe an. Die Gitterstäbe wiesen zueinander einen Abstand von etwa 25 Zentimetern auf, was den Aufstieg vereinfachte. Oben machte Luke sich so dünn wie möglich; dennoch schrammte ein messerscharfer Lavazacken an seinem Rücken entlang und hinterließ eine feurige Spur. Kaum dass er sich durchgezwängt hatte, sprang Luke ins Wasser.

Jetzt, wo das Auge nicht durch die Grelle des Sonnenlichts beeinträchtigt wurde, konnte er mehr erkennen: Ein Kai aus Beton bildete die linke Seite des Stollens. Luke schwamm daran entlang.

Es muss eine Leiter geben. Der Tidenhub in der Karibik ist zwar gering, aber doch vorhanden. Wenn … ah, da!

Er zog sich empor und fand sich auf dem Kai wieder, drei Meter breit und so lang, dass er sich in der Dunkelheit verlor. In regelmäßigen Abständen waren Poller zum Vertäuen von Schiffen angebracht.

Luke wartete, bis das Wasser aus seiner Hose geronnen war, und leerte dann die Schuhe aus. Nachdem er sie wieder angezogen hatte, schritt er den Kai entlang. Dunkelheit senkte sich über ihn. Nach annähernd 50 Schritten konnte er gerade noch erkennen, dass der Kai in einen Tunnel mündete, während rechts davon der Stichkanal endete.

Ein Hafen im Vulkan! Es kann kein besseres Versteck geben. Aber wofür? Schmuggler, die hier ein Lager oder eine Art Umladestation eingerichtet haben?

Er beschloss, dem Tunnel zu folgen, soweit das in der Dunkelheit möglich war. Vielleicht fand er einen Lichtschalter.

Er untersuchte die Wände zu beiden Seiten, jedoch ergebnislos. Aber kaum war er drei Schritte in den Tunnel eingedrungen, ertönte ein knatterndes Geräusch, wie wenn ein Motor gestartet wurde. Kaltes Neonlicht flackerte auf und warf Lukes diffusen Schatten auf einen groben Betonboden. Er erstarrte mitten in der Bewegung wie ein ertappter Einbrecher.

Dann entspannte er sich wieder. Nichts als das entfernte Nageln des Generators war zu hören. Wahrscheinlich hatte ein batteriegetriebener Bewegungsmelder den Generator und damit das Licht automatisch angeschaltet. Luke ging weiter.

Der Tunnel, mit etwa drei Metern ebenso breit wie hoch, führte schnurgerade ins Innere des Berges und somit wohl ins Innere des Kraters. Luke zählte seine Schritte. Als er bei 430 angekommen war, endete der Tunnel in einem zweiflügligen Stahltor. Luke rüttelte an der breiten Klinke. Es war verschlossen.

Die Enttäuschung ließ ihn seine Erschöpfung spüren. Er lehnte sich an die aus nacktem Fels bestehende Tunnelwand – und zuckte mit einem Schmerzenslaut zurück. Mit der linken Hand tastete er seinen Rücken ab. Als er sie zurückzog, war sie rot von Blut.

Er sah sich um. Rechts von dem Tor öffnete sich eine Felsspalte, breit genug für einen Mann. Kurzentschlossen betrat er sie.

Abermals flammte Licht auf. Es enthüllte eine eiserne Wendeltreppe, die sich in eine nicht abschätzbare Höhe schraubte.

Vielleicht führt sie bis auf die Spitze? Hoffentlich endet sie nicht ebenfalls in einer verschlossenen Tür!

Er begann mit dem Aufstieg, doch nach etwa zehn Höhenmetern erfasste ihn ein Schwindel, der ihn zum Stehenbleiben zwang. Feuerringe kreisten vor seinen Augen, und er klammerte sich so fest an das Geländer, dass seine Finger schmerzten. Die Erschöpfung aufgrund des Wassermangels und des Blutverlusts war zu groß. Doch er wollte nicht aufgeben.

Er öffnete die Augen und sah nach oben. Die enge Treppe schien zu tanzen.

Eine Stufe … dann noch eine … Ich will herausbekommen, welches Geheimnis diese Insel birgt, auch wenn es das Letzte ist, was ich tue!

Was in Anbetracht seiner Lage durchaus möglich war.

Stufe um Stufe schleppte er sich empor, wobei er jegliches Gefühl für Zeit und Raum verlor. Irgendwann hob er den Fuß, aber da war keine Stufe mehr, auf die er ihn hätte setzen können. Er stolperte und schlitterte einen Meter abwärts. Doch die Erkenntnis, dass er das Ende der Treppe erreicht hatte, verlieh ihm neue Kräfte. Er stemmte sich hoch und fand sich auf einer kleinen Plattform wieder, die in einer Tür endete.

Luke sandte ein Stoßgebet zum Himmel, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nieder.

Die Tür schwang auf.

Ein Sonnenstrahl bohrte sich in sein Sehzentrum und ließ ihn aufstöhnen. Er schwankte und konnte sich gerade noch am Türgriff festklammern. Zwei-, dreimal atmete er tief durch, dann blinzelte er und legte die Hand über die Augen. Die Sonne stand ein Stück über dem jenseitigen Kraterrand, was bedeutete, dass er sich nun im Inneren des ehemaligen Vulkans befand.

Luke trat zwei Schritte vor, bis an den Rand eines Abgrunds. Er wandte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück, unfähig zu glauben, was ihm seine Augen vermittelten.

Er blickte in ein Paradies.

Dunkle, gezackte Bergrippen erhoben sich über einen fast geschlossenen Teppich aus grünen Baumkronen. Vogelstimmen erfüllten die absolut windstille Luft. Halbrechts, einen bis anderthalb Kilometer entfernt, ragte die Caldera eines kleineren Kraters aus dem Dschungel auf. Baumreihen zogen sich fast bis zu ihrer Spitze empor, militärisch exakt wie eine Schlachtordnung. Links davon eine Lichtung im Dschungel, auf der helle, rechteckige Strukturen zu erkennen waren.

Häuser!, durchzuckte es Luke. Also wohnen doch Menschen hier!

Gewaltsam riss er sich von dem unglaublichen Anblick los und sah sich um. Rechts von der Tür, die hinter ihm zugefallen war, begann ein Trampelpfad. In engen Serpentinen führte er nach unten.

Luke sammelte seine letzten Kräfte und machte sich auf den Weg.

Bald umfingen ihn die schier unendlich vielen Grünschattierungen des Dschungels, die nur vereinzelt durch bunte Blüten unterbrochen wurden. Alle Farben schienen hier intensiver als gewohnt, alle Geräusche schärfer – die unterschiedlichen Rufe von einem halben Dutzend Vogelarten, das Zirpen von Grillen sowie ein Keckern, das Luke nicht einordnen konnte. Sogar die Luft erschien dichter, aromatischer, und ihr fehlte der salzige Beigeschmack des Meeres, der Luke seit dem Morgen begleitet hatte.

Schließlich, nach einem Weg von mehreren hundert Metern, erreichte Luke den Kratergrund. Torkelnd wie ein Betrunkener folgte er dem Pfad, der unter seinen Füßen zu tanzen und zu bocken schien.

Eine Änderung in Farbe und Konsistenz des Untergrunds ließ ihn innehalten. Er stand mitten auf einem Weg aus festgestampfter und von Bewuchs befreiter Erde, und seine Ohren vermittelten ihm ein Geräusch, das nicht in die natürliche Kulisse passte: das engelhafte Klingen von Glöckchen.

Es kam rasch näher.

Luke wandte den Kopf und blinzelte. Ihm bot sich ein so bizarrer Anblick, dass er zu dem Schluss kam, dies alles – die Kraterinsel, der Tunnel, der Dschungel – sei bloße Halluzination. Er musste noch immer im Boot liegen, dem Tode durch Austrocknung nahe, und fantasieren.

Ein leichter Trabrennwagen, der von einer jungen Frau gezogen wurde, fuhr direkt auf ihn zu. Die Frau war aufgezäumt wie ein Pferd und trug einen Lederharnisch. Silberne Glöckchen tanzten an ihren bloßen Brüsten; und im Wagen saß ein Mädchen mit schulterlangen, schwarzen Haaren, das absolut nackt war und eine Peitsche in der rechten Hand hielt.

Die Fahrerin erblickte Luke in der gleichen Sekunde wie er sie. Sie schrie auf, riss mit der Linken am Zügel und ließ mit der Rechten die Peitsche durch die Luft sausen. Das »Pferd« kreischte und hielt mitten im Lauf inne. Dann warf es sich herum, so dass der Sulky seitlich zu kippen drohte. Der Fahrerin gelang es gerade noch durch eine blitzartige Verlagerung ihres Gewichts, ein Unglück zu verhindern. Im nächsten Moment bereits waren die beiden aus Lukes Sichtbereich verschwunden.

Die Erschöpfung übermannte Luke. Der grüne Dschungel, der braune Weg, der azurene Himmel – alles drehte sich um ihn herum. Dann vermischten sich die Farben zu wirbelnden Schlieren, die rasch dunkler wurden.

Er fühlte nicht mehr, wie er auf dem Boden aufschlug.

Insel der Ponygirls

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