Читать книгу Insel der Ponygirls - Tomàs de Torres - Страница 9
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Als Luke Martin erwachte, war die Öllampe erloschen, und Dämmerlicht drang durch ein Fenster neben der Tür. Er lauschte in sich hinein. Als er keinen Schmerz registrierte, setzte er sich auf. Probehalber reckte er die Ellbogen nach hinten und streckte die Arme wieder aus. Die Haut in seinem Rücken spannte sich unangenehm, aber nicht wirklich schmerzhaft. Die Wunde unter dem straff sitzenden Verband schien nicht mehr geblutet zu haben.
Vorsichtig erhob er sich. Das Schwindelgefühl vom Vorabend kehrte zurück, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor den Augen. Er stand schwankend auf den braun gestrichenen Brettern, die den Fußboden bildeten.
Nackt stakste er zum Fenster und schob den Vorhang so weit beiseite, dass er hinausblicken konnte. Die Sonne hatte den Kraterrand noch nicht erreicht, so dass alles in tiefem Schatten lag. Ein Kiesweg – murmelgroße dunkle Steine, wohl vulkanischen Ursprungs – führte von dem Haus weg, in dem Luke sich befand, und mündete in eine vier Meter breite und mit rötlichen Platten gepflasterte Straße. Mangobäume säumten ihren jenseitigen Rand, zwischen ihnen schimmerte das helle Holz eines anderen Hauses.
Nichts regte sich.
Luke erinnerte sich, vom Tunnelausgang eine Lichtung mit regelmäßigen Strukturen gesehen zu haben, zweifellos Häuser. In einem dieser Häuser musste er sich nun befinden.
Wie viele Menschen mögen hier leben?
Er wandte sich um. Der Raum maß etwa fünf Meter im Quadrat. Ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen und das Bett mit Nachttisch bildeten die ganze Einrichtung. Neben dem Bett befand sich eine Tür, die wohl ins Bad führte.
Sieht beinahe aus wie ein Hotelzimmer!
Über der Lehne eines Stuhls hing seine Hose, auf der Sitzfläche lagen Hemd, Unterhose und Socken, sauber gefaltet. Die Schuhe standen daneben. Er zog sich an und überlegte, ob er einen Erkundungsspaziergang unternehmen sollte. Das Geräusch von Schritten auf dem Kies nahm ihm die Entscheidung ab. Jemand klopfte.
»Herein!«
Es war weder Bob noch Deli, sondern eine höchstens 20-jährige Frau mit einer schwarzen Lockenfrisur. Sie war nicht vollständig nackt, sondern trug eine Art Geschirr aus schwarzen Riemen, das jedoch nicht verhüllte, sondern betonte. Im Schritt war sie kahlrasiert wie Deli.
Luke versuchte sich unbefangen zu geben. »Guten Morgen.«
Die Frau setzte das Tablett, das sie in den Händen hielt, auf dem Tisch ab: zwei Kannen, ein Ei, dunkles Brot, Butter, Marmelade, Kiwis und Orangen. Luke hätte sich tatsächlich wie in einem rustikalen Karibikhotel gefühlt, wäre da nicht die nackte Frau gewesen, die nun den Kopf senkte und die zusammengelegten Händen zur Stirn führte.
»Guten Morgen«, antwortete sie.
»Wer bist du?«
»Ayala, die erste Tochter von Bob.« Sie wies auf das Tablett. »Deli sagt, Sie müssen essen.«
Luke nahm Platz. »Danke. Hast du auch einen Nachnamen?«
Sie lächelte. Ihr Gesicht war beinahe perfekt proportioniert, mit graublauen Augen und einem offenen Blick, und irgendwie erinnerte es Luke an jemanden. Soweit er das beurteilen konnte, trug sie keinerlei Make-up.
»Hier braucht man keine Nachnamen«, antwortete Ayala.
Luke öffnete die Abdeckung einer Kanne. Dampf stieg auf, der Kaffeeduft mit sich trug. Er füllte die Tasse und wies auf den zweiten Stuhl. Ayala schüttelte den Kopf.
»Hier … wo ist ›hier‹?«
»Das Dorf heißt Hiva, ebenso wie die Insel.«
Luke schnitt die Orange auf. »Aha. Und auf oder in Hiva brauch man nicht nur keine Nachnamen, sondern auch keine Uhren – und keine Kleidung?«
»Es ist warm genug, das ganze Jahr über; auch nachts.«
Er warf einen langen Blick auf Ayalas Riemengeschirr. »Das ist natürlich eine Erklärung. Aber die Männer tragen Kleider?« Woran erinnert mich dieses Gesicht?
Ayala zupfte an einem der Lederriemen. »Männer sind … eben Männer.«
»Ja, da ist was Wahres dran; und Frauen sind Frauen.«
Jetzt lachte Ayala laut auf. »Ganz genau!« Sie sah ihn fragend an. »Soll ich Ihnen noch etwas bringen? Orangensaft? Milch? Speck?«
»Vielen Dank, ich bin wunschlos glücklich. Ich werde das Hotel weiterempfehlen.«
Abermals lachte sie, wiederholte die Begrüßungsgeste und ging zur offenen Tür. Kaum hatte sie den Raum verlassen, zeichnete sich der Schatten eines Mannes mit Vollbart in der Tür ab. Bob trat ein und setzte sich auf den freien Stuhl gegenüber Luke.
»Wie geht es Ihnen heute?« Bobs besorgter Gesichtsausdruck zeigte Luke, dass die Frage nicht nur eine Höflichkeitsfloskel war.
»Viel besser, dank der guten Pflege und nicht zuletzt des üppigen Frühstücks. Ich fühle mich fast schon wieder imstande, Bäume auszureißen, wenn sie nicht zu groß sind.«
»… oder mit einem Motorboot nach Afrika zu fahren – wobei das Benzin nicht mal zurück nach Saint Lucia gereicht hätte.« Bob legte die Ellbogen auf die Tischplatte. »Wir haben vollgetankt.«
Sie grinsten sich an. Luke fühlte, dass Bob nicht sein Feind war, und Dankbarkeit gebot Offenheit. Doch solange er nicht wusste, was hier gespielt wurde, konnte es gefährlich sein, sich vollständig zu offenbaren.
»Ihre Tochter sagte, die Insel heißt Hiva. Gehört sie zu Saint Lucia und damit zum Commonwealth?«
»Die Insel ist Privateigentum, seit über hundert Jahren.« Bobs Blick nagelte Luke an den Stuhl. »Zutritt für Fremde verboten.«
Luke nahm einen großen Schluck des Kaffees. Schwarz, stark und gut. Südamerikanisch. »Man könnte sagen, ich befand mich in einer Notlage.«
Bobs Stimme wurde schärfer. »Wenn ich das nicht annehmen würde, säßen Sie jetzt nicht hier.«
»Sind Sie hier so eine Art Bürgermeister?«
»Könnte man sagen, ja – wobei alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen werden.«
»Von allen Einwohnern?«
»Von allen Männern.«
»Und die Frauen haben keinen Einfluss darauf?«
Bob lächelte. »Wie in allen Kulturen dieser Erde haben die Frauen Einfluss auf die Männer.«
Luke dachte an Deli und Ayala. »Aber wieso haben …«
Abrupt stand Bob auf. »Kommen Sie bitte mit zur Tür. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Luke legte das Brot zurück auf den Teller und folgte Bob. Gemeinsam traten sie auf eine schmale Veranda, die sich an der Front des etwa 20 Meter langen Blockhauses entlangzog. In regelmäßigen Abständen unterbrachen Türen und Fenster die Monotonie der Holzfront, wie bei einem Motel.
»Unser Gästehaus«, sagte Bob.
»Es gibt Besucher hier?«
»Selten. Morgen erwarten wir Tom, der tags darauf Ayala heiraten wird. Sie haben sie ja bereits kennengelernt. Ein paar Hochzeitsgäste kommen natürlich auch. Aber das ist es nicht, was ich Ihnen zeigen wollte.«
Bob wies mit einer breiten Geste auf die Szenerie, die sich vor ihnen entfaltete. »Was sehen Sie?«
Von hier aus hatte Luke einen größeren Überblick als durch das Fenster. Offensichtlich befand sich das Gästehaus am Rand des Dorfes, denn er sah nur wenige Häuser zwischen den Bäumen, alle aus Holz und von bunten Hecken oder Sträuchern umgeben. Rechts machte die Straße eine Biegung und passierte in ihrem weiteren Verlauf ein langgestrecktes Gebäude, das wie eine Scheune oder ein Stall aussah, bevor sie im Dschungel verschwand. Menschen waren keine zu sehen.
Luke hob den Blick zum gegenüberliegenden und vielleicht anderthalb Kilometer entfernten Kraterrand: eine dunkle, gezackte Silhouette vor einem wolkenlosen Himmel, an dem sich bereits das strahlende Halo der Sonne abzeichnete. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis der Tag auch hier unten anbrach. Über den dunkelgrünen Baumkronen schwebten Nebelschleier und verliehen dem Kraterinneren eine unwirkliche, beinahe mystische Atmosphäre. Luke erinnerte sich an seinen ersten Blick auf diese Landschaft und den Eindruck, den dieser hinterlassen hatte.
»Ein Paradies!«, entfuhr es ihm.
Bob nickte. »Viele Leute würden es so bezeichnen, und mit Recht. Es gibt keine Autos auf Hiva und keinen Strom.«
Luke sah auf. »Kein Strom? Aber im Tunnel …«
»… läuft ein Generator, für das Licht. Doch hier, im Inneren der Insel, gibt es keine Elektrizität, kein Fernsehen oder Internet, kein Telefon, keinen Luxus und keine Kriminalität – und nicht mehr als zehn einfache Gesetze.« Sein Blick heftete sich auf Luke. »Das funktioniert natürlich nur in einer kleinen Gemeinschaft. Etwa 150 Menschen leben ständig auf Hiva. Was, glauben Sie, geschieht, wenn Fremde in dieses Paradies, wie Sie es nannten, eindringen? Mit ihren Kameras und Mobiltelefonen? Mit ihren Dollars, Euros, Rubeln oder Yen und dem, was man in aller Welt dafür kaufen kann?«
Abermals ließ Luke seinen Blick über die Landschaft gleiten. Die ersten Sonnenstrahlen erleuchteten die oberste Nebelschicht. Es sah aus, als glühe der Himmel auf.
»Ich begreife, worauf Sie hinauswollen. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht …«
Bob sah an ihm vorbei und hob die Hand. »Gamaleh!«
Luke wandte den Kopf. An dem Wassertrog vor dem Stall stand ein Mädchen, nackt wie Deli, das zu ihnen herüberblickte. Es kam im Laufschritt herbei.
»Darf ich Ihnen meine zweite Tochter vorstellen?«, sagte Bob. »Das ist Gamaleh.«
Luke starrte das Mädchen an, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Die Ähnlichkeit mit Ayala war unverkennbar, doch Gamaleh trug ihr schwarzes Seidenhaar offen und von den Schultern an gewellt; und sie war noch schöner als ihre Schwester.
Ein verschüttete Erinnerung tauchte in ihm empor wie ein Déjà-vu-Erlebnis: das Bild eines nackten Mädchens, das sich über ihn beugte und ihn aus Augen musterte, die blaugrün waren wie das tosende Wasser eines Gebirgsbaches.
»Ich … kenne dich«, stieß er hervor. »Aber wann …«
»Gamaleh hat mir geholfen, Sie hierher zu bringen, nachdem Sie auf dem Weg zusammengeklappt waren«, sagte Bob.
Unendlich langsam nickte Luke. Es gelang ihm nicht, sich von diesen fesselnden blaugrünen Augen loszureißen, und Gamaleh schien es ebenso zu ergehen. Sie standen sich gegenüber, mit ineinander verschränkten Blicken, als ob ein unsichtbares Band sie eine. Und Luke überwältigte das Gefühl, als habe er Gamaleh nicht erst gestern zum ersten Mal gesehen, flirrend wie eine Fata Morgana durch den Schleier seiner Benommenheit, sondern als habe ihr Porträt schon immer in seinem Herzen gewohnt und sei nun, durch eine unbegreifliche Magie, zu Fleisch und Blut geworden.
Später erinnerte er sich nicht mehr, wie lange sie beide dort gestanden hatten, erstarrt, verzaubert.
»Gamaleh, was hältst du davon, Luke heute Nachmittag das Dorf zu zeigen?«
Das Mädchen reagierte erst, als sein Vater es am Arm berührte. Die Blicke der beiden lösten sich voneinander, der Bann war gebrochen.
Gamaleh straffte sich. »Gern! Und wir könnten Erins Peak besteigen!« Sie wandte sich an Luke. »Das ist der höchste Punkt des Kraterrands, 437 Meter. Dort!« Sie deutete auf eine Stelle jenseits des Stallgebäudes.
»Langsam, langsam!« Ihr Vater machte eine beschwichtigende Geste. »Er muss sich erst einmal erholen.«
Luke räusperte sich. »Ich fühle mich schon wieder topfit!« Mit Gamaleh zusammen könnte ich glatt den Mount Everest ersteigen, jetzt sofort!
Bob lachte und schlug ihm auf den Rücken. Eine Welle des Schmerzes raste durch Lukes Körper wie ein feuriger Blitz. Er zuckte zusammen und keuchte.
»Mal sehen.« Bob wandte sich an seine Tochter. »Sind die Ponys versorgt?« Gamaleh nickte, und er fügte hinzu: »Deine Mutter wartet auf dich – Hochzeitsvorbereitungen.« Er sah wieder Luke an. »Bei solchen Anlässen feiert ganz Hiva.«
Gamaleh verabschiedete sich von Luke und ihrem Vater mit der gleichen Geste, die die Frauen von Hiva Männern gegenüber stets zu gebrauchen schienen, und eilte davon.
»Ich muss auch weiter«, sagte Bob. »Es gibt eine Wasserleitung zu erweitern und eine Menge anderer Dinge zu tun. Nun ja, bei nur neun Männern … Wir sehen uns!«
Entgeistert starrte Luke ihm nach.
Nur neun Männer – bei 150 Einwohnern?
Sein Blick schweifte zu dem Stall. Ponys? Ein anderes Bild tauchte aus seinem Gedächtnis empor: das einer Frau, die einen Sulky zog, in einen Lederharnisch gepresst und aufgezäumt wie ein Pferd.
Er schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! Das zumindest habe ich wirklich nur geträumt!