Читать книгу An die kurze Leine gelegt - Tomàs de Torres - Страница 6

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Angelas Herzschlag setzte aus. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich, und für einen Moment schien die Welt in ihrem Lauf innezuhalten. Feuerringe kreisten vor ihren Augen. Die Nachwehen des Orgasmus vereinigten sich mit dem Schock, dass jemand sie bei einer so intimen Handlung beobachtet hatte, und lähmten sekundenlang ihr Denken.

Dann sprang sie auf und wäre beinahe gestürzt, da die Shorts noch immer um ihre Knöchel hingen. Ihre Hände schossen nach unten und zogen Slip und Shorts hoch. In ihrer Hast verlor sie dabei doch noch das Gleichgewicht und fiel zunächst mit den Knien, dann mit der rechten Körperseite in den feuchten Sand.

Als sie mit brennendem Gesicht aufsah, ragte vor ihr ein Paar schwarzer Hosenbeine mit tadellosen Bügelfalten empor, die in einem Gürtel mit einer ovalen Schnalle endeten. Darüber ein weißes Hemd, zugeknöpft und mit gestärktem Kragen, und schließlich ein von schwarzen Haaren umrahmtes, bärtiges Gesicht, das freundlich lächelnd auf Angela herabsah.

Der Mann bückte sich, umfasste ihren rechten Unterarm und zog sie daran auf die Beine. Er hatte englisch gesprochen, aber nicht das breiige Cockney-Englisch von Sonjas zweiter Urlaubseroberung, sondern ein akzentfreies Englisch, das in Angelas Ohren gehoben klang.

Hastig brachte sie ihre Bluse in Ordnung und schloss den Knopf der Shorts. Erst dann wagte sie, den Fremden aus dem Augenwinkel anzusehen. Sein Teint war hell, und trotz der Fältchen in den Augenwinkeln konnte er kaum älter als 30 sein. Der Bart war gepflegt und weniger als einen Zentimeter lang. Insgesamt machte der Fremde den Eindruck, als sei er auf dem Weg zu einer Dinnerparty, hätte sich jedoch aus unbegreiflichen Gründen in diese abgeschiedene Bucht verirrt.

Dann wallte in Angela heiße Erinnerung an die Situation auf, in der er sie vorgefunden hatte. Sie senkte den Blick und klopfte sich den Sand von Shorts und Bluse. Hatte sie vorhin noch den Eindruck gehabt, ihr Herz würde stillstehen, so raste es nun. Ihr Gesicht glühte und ihre Hände waren schweißfeucht. Sie sah sich um, konnte aber keinen weiteren Zeugen entdecken. Am liebsten hätte sie …

Sie machte einen Satz zur Seite und sprang an dem Mann vorbei in Richtung des Felspfads, der den einzigen Fluchtweg aus dieser schrecklichen Situation bot. Ihre Sandalen lagen zum Glück nicht weit entfernt, und Angela schlüpfte hinein, ohne sich umzusehen. Erst als sie zwei oder drei Meter Höhe gewonnen hatte, riskierte sie einen scheuen Blick zurück. Der Fremde hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

„Du hast deine Tasche vergessen!“, rief er ihr nach.

Doch für Angela gab es in diesem Moment nichts Unwichtigeres.

Als sie ausgepumpt die Tür ihres Appartements erreichte, bereute sie ihre überstürzte Flucht, denn in der Strandtasche befand sich die Schlüsselkarte. Sie gönnte sich einige Sekunden, um zu Atem zu kommen, und strich die nassen Strähnen ihres dichten braunen Haars aus der Stirn. Dann klopfte sie.

Hoffentlich sind sie nicht mehr im Bett!

Wenigstens in dieser Beziehung war ihr das Glück hold. Sonja öffnete sofort, und sie war allein. Sie musterte Angela.

„Hast du ein Geisterschiff gesehen oder so was?“

Angela schüttelte den Kopf, ging an ihrer Freundin vorbei in die kleine Küche und goss sich ein Glas kalten Orangensafts ein. Erst nachdem sie es hinuntergestürzt hatte, war sie in der Lage zu antworten.

„Nur ein kleiner Dauerlauf, solltest du auch mal machen. Ich brauche unbedingt eine Dusche.“

Sonja machte eine einladende Geste in Richtung des Badezimmers. Erst jetzt bemerkte Angela das gerötete Gesicht und die nassen Haare ihrer Freundin. Sonja musste soeben selbst aus der Dusche gekommen zu sein. Sie trug lediglich einen roten Bikini mit einem wie üblich viel zu knappen Oberteil.

„Hast du heute noch etwas vor?“, fragte Angela, während sie sich der sandverkrusteten Bluse und Shorts entledigte.

„Tut mir leid, dich wieder allein zu lassen“, hörte sie Sonjas Stimme aus dem Flur, „aber ich habe eine Verabredung, muss gleich weg. Sag mal …“

Angela, die nackt bis auf den Slip vor der Duschkabine stand, sah auf. Sonja stand in der Tür und knöpfte gerade einen kurzen Faltenrock zu.

„Ja?“

„Du solltest mal hier raus. Warum fährst du nicht in die Stadt, Empuriabrava heißt sie wohl? Der Bus geht jede halbe Stunde. Den Yachthafen musst du dir unbedingt ansehen! Oder nach Roses, da kann man prima einkaufen.“

„Vielleicht werde ich das tun“, log Angela.

Aber nach zwei Stunden, in denen Angela ihren Schreck mühsam verarbeite, hatte diese Idee deutlich an Attraktivität gewonnen. Zum einen wollte sie wirklich mal ’raus aus dem Hotel, und zum anderen hatte sie Sehnsucht nach einem guten Abendessen. Das Hotel brüstete sich zwar mit vier Sternen, aber das Halbpensionsdinner schmeckte eher nach einem Stern. Nicht umsonst waren wohl zwei der vier Sterne an der Fassade bereits abgebröckelt.

Sie zog sich an, doch als sie die Hand auf die Klinke legte, fiel ihr ein, dass sie ja keinen Schlüssel mehr besaß. Ihre Strandtasche hatte sie völlig vergessen.

Mist! Das bedeutet, ich muss die Tasche aus der Bucht holen, falls sie überhaupt noch da ist. Und es dunkelt bereits.

Doch als sie die Tür öffnete, stolperte sie beinahe über die blaue Tasche. Jemand musste sie dort abgestellt haben.

Aber wer?

Nun, da kam eigentlich nur einer in Betracht.

Das Blut schoss ihr ins Gesicht und rauschte in ihren Ohren. Panisch sah sie sich um, aber der Gang war leer. Sie trug die Tasche ins Zimmer und kontrollierte den Inhalt. Es fehlte nichts.

Mit fahrigen Bewegungen nahm sie die Schlüsselkarte heraus und steckte sie in die Handtasche. Sie verließ das Appartement und fuhr mit dem Lift hinunter in die Lobby. Mehrere Dutzend zumeist junge Gäste standen in kleinen Gruppen zusammen oder verliefen sich in dem weiten Raum. Kinder schrien. Angela passierte das endlos lange Pult der Rezeption und den durch eine Glaswand abgetrennten Raum, in dem der Manager residierte. Zwei Männer und eine Frau saßen dort zusammen und diskutierten unhörbar. Als einer der Männer in Angelas Richtung blickte, glaubte sie, vor Schreck und Scham sterben zu müssen. Es war das bärtige Gesicht des Fremden vom Strand!

Und er hatte sie ebenfalls wiedererkannt, denn seine eben noch konzentriert-ernste Miene wandelte sich zu einem Lächeln. Doch damit nicht genug: Er winkte Angela auch noch zu!

Sie fuhr herum und flüchtete aus der Halle, wobei sie eine ältere Dame mit einer dreireihigen Perlenkette beinahe umgerannt hätte. Draußen, im gelben Zwielicht der Außenbeleuchtung, orientierte sich sie flüchtig und lief dann über den voll belegten Parkplatz auf die Haltestelle zu.

Hoffentlich kommt der Bus bald!

Doch die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Vier Busse fuhren vorbei, ohne zu halten. Angela überlegte bereits, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, als ein helles Cabrio unmittelbar vor ihr anhielt.

„Steig ein, ich nehme dich mit.“ Der Fahrer benutzte die englische Sprache, die über keine Höflichkeitsform verfügt.

Mit offenem Mund starrte sie den Mann an, der sich soeben herüberbeugte und die Beifahrertür aufstieß. Angela machte einen Satz rückwärts, als ob ein sprungbereiter Tiger vor ihr kauerte.

„Ich … ich wollte nach Empuriabrava“, stammelte sie ebenfalls auf Englisch und deutete mit dem Daumen nach links.

„Dann stehst du aber auf der falschen Straßenseite“, antwortete der Mann vom Strand mit dem wärmsten Lächeln, das Angela jemals gesehen hatte. Es hatte nichts Herablassendes oder gar Spöttisches an sich. „Schiffe und Millionäre sind doch langweilig. Warst du schon mal in Cadaqués?“

Stumm schüttelte Angela den Kopf und schielte nach dem Bus, der gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhielt.

„Nettes kleines Fischerdorf mit guten Restaurants, noch nicht mit Betonklötzen zugemüllt. Ist nur eine halbe Stunde Fahrt durch die Berge. Interessiert?“

Hilfe suchend sah Angela sich um. In diesem Moment fuhr der Bus wieder an und gab den Blick frei auf ein Paar, das soeben ausgestiegen sein musste: Sonja und ein breitschultriger Südländer, Nummer vier in ihrer Sammlung. Der Gärtner hatte wohl Dienst. Angelas und Sonjas Blicke kreuzten sich, und Sonja winkte.

Ohne weiter zu überlegen, stieg Angela in den wuchtigen Sportwagen und schlug die Tür zu. „Also nach Cadaqués“, sagte sie hastig, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.

„Meine Freunde nennen mich Francis“, sagte der Fremde und streckte die Hand aus.

Angela schlug ein; ein trockener, kräftiger Händedruck. „Angela. Na ja, eigentlich heiße ich Annika, aber das klingt so ähnlich wie eine Pflanze. Angela klingt viel schöner.“

Mein Gott, warum erzähle ich ihm das?, fragte sie sich, kaum dass sie ausgesprochen hatte.

Doch Francis schien diese Offenheit normal zu finden. „Angela bedeutet Engel.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu und fuhr an. „Ein passender Name.“

Angela starrte auf die Straße. „Engel haben goldenes Haar, nicht braunes.“

„Engel haben Engelsgesichter.“

Die Lichtinsel des Hotels blieb hinter ihnen zurück.

Ein Gedanke schoss Angela durch den Kopf, und noch bevor sie ihn vollständig formuliert hatte, sprach sie ihn auch schon laut aus: „Du solltest nicht denken, dass ich leicht zu haben bin, weil du mich … weil ich …“

„Weil ich dich beim Masturbieren erwischt habe?“ Francis scheute sich offensichtlich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Ein abschätzender glitt an Angelas Körper hinab, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das denke ich nicht. Aber ich bleibe dabei: Wenn du mein Mädchen wärst, würde ich dir das nicht erlauben.“

Angela wandte den Kopf zum Meer, damit Francis nicht in ihrer Miene lesen konnte. Die Situation hatte etwas Bizarres an sich. „Wie willst du das verhindern?“, fragte sie, als die Stille zu drückend wurde.

Francis lachte. „Oh, da gibt es viele Möglichkeiten.“

Sie durchfuhren einen Kreisverkehr, dann wurde die Straße merklich steiler. Unruhe ergriff Angela.

Was tue ich da überhaupt?, dachte sie. Ich fahre mit einem wildfremden Menschen in die Berge! Zu Hause würde mir so etwas nicht im Traum einfallen. Wenn er nun irgendwo anhält und mich vergewaltigt?

Aber dann erinnerte sie sich an sein offenes Lächeln und daran, dass er mit dem Hotelmanager bekannt sein musste, und ihre Beklemmung löste sich ein wenig.

Sie warf Francis einen verstohlenen Blick zu. Er saß so ruhig und selbstbewusst hinter dem Lenkrad, als würde er jeden Tag mit unbekannten Frauen durch die Gegend brausen. Der Wind spielte mit seinen halblangen Haaren und übertönte das Fahrgeräusch des Wagens, eines Audis, wie Angela anhand der vier Ringe auf dem Lenkrad erkannte. Ihr fiel ein, dass sie nicht einmal auf die Autonummer geachtet hatte.

„Wohnst du hier?“, fragte sie.

„Hier und in England, wo ich geboren wurde“, antwortete Francis, ohne den Blick von der Straße zu wenden, die immer kurviger wurde. „Und du?“

„Düsseldorf.“

„Dein Englisch ist gut.“

Angela verzog die Mundwinkel. „Ich muss einen schrecklichen Akzent haben.“

„Aber du benutzt die richtigen Worte.“ Francis deutete nach rechts. „Die Lichter von Roses.“

Sie mussten sich in der Nähe eines Passes befinden, denn die Bergrücken waren unter ihnen zurückgeblieben und hatten die Sicht freigegeben auf die weite Bucht, an der Roses und Empuriabrava lagen: Ein goldener Halbmond aus Lichtern, der an der Meeresseite eine scharfe Kante aufwies und sich im Hinterland ausdünnte.

„Ich wünschte, ich könnte ewig hierbleiben“, sagte Angela.

An die kurze Leine gelegt

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