Читать книгу Und wer küßt mich? - Tone Kjærnli - Страница 4

2

Оглавление

Heidi und ich. Mit hundert Sachen auf dem Fahrrad den Hügel hinunter auf dem Weg zur Schule. Vater auf der Treppe: »NINA! ZIEH DEINE REGENJACKE AN! ES GIBT REGEN!«

Aber ich höre nicht. Ich höre gar nichts, denn Heidi und ich, wir sind beide rosa, und um nichts in der Welt würde ich stattdessen eine Regenjacke anziehen. Weiter oben auf der Straße ist Synne.

»Wartet!« Aber wir hören nicht. Nein. Wir hören überhaupt nichts. Wir singen mit dem Krötenmaul weit hinter uns, der Wind bläst uns direkt ins Gesicht, dass wir nach Luft schnappen müssen.

»O HÄNGT IHN AUF, O HÄNGT IHN AUF,

O HÄNGT IHN AUF, DEN KRANZ VON LORBEEREN! (japs)

IHN, UNSERN HERRN . . .« (japs)

»Wartet! Seid ihr denn stocktaub, oder was?« (Synne)

»Die Regenjacke!« (Vater)

»IHN, UNSERN HERRN, IHN, UNSERN HERRN,

DEN WOLLEN WIR VEREHREN!« (japs)

Regen? Gar nicht dran zu denken. Nicht heute. Obwohl Vater es eigentlich wissen müsste, schließlich arbeitet er im meteorologischen Institut. Es ist sein Job, herauszufinden, wie das Wetter wird. Mutter ärgert ihn immer und sagt, dass er sicher nur rät, so oft, wie der Wetterbericht nicht stimmt. Heute stimmt seine Prognose jedenfalls nicht und außerdem bin ich stocktaub. Heidi ist auch stocktaub, wie sie vor mir radelt mit ihrem Pferdeschwanz in einem langen, hellen Strich.

»O HÄNGT IHN AUF, IHN, UNSERN HERRN,

IHN, UNSERN HERRN, DEN WOLLEN WIR VEREHREN!« (japs und puh und angekommen)

»Verdammt, ihr hättet wirklich warten können«, schimpfte Synne auf dem Schulhof.

»Aber wir haben dich ja nicht rufen gehört.«

»Ha! Woher wisst ihr dann, dass ich gerufen habe? Wenn ihr es nicht gehört habt!«

»Äntschuldigung«, sagte Heidi. Mit Ä. Sie sagt immer Entschuldigung mit Ä.

»Äntschuldigung, wir hören so schlecht!«

Synne wechselte plötzlich das Thema und sagte mit ihrer einschmeichelndsten Stimme: »Du bist aber braun geworden, Heidi.« Sie hielt ihren Arm neben Heidis. »Wir sind gleich braun, sieh mal!«

»Heidi ist viel brauner als du«, sagte ich.

Synne sah mich an. Ihre Augen wurden zu zwei engen Schlitzen. Jetzt sagt sie das mit dem Teesieb, dachte ich. Und dann werde ich ihr antworten!

»Du siehst aus wie ein Fischpudding mit Scheißeflecken drauf«, sagte Synne. Dann drehte sie sich um und ging zu Tonje und Margrete aus der Siebten. Während ich mit offenem Mund stehen blieb. Miststück!

Am ersten Schultag nach den Ferien erscheint immer alles irgendwie neu und anders. Aber es dauert nicht lange, bis man entdeckt, dass alles noch beim Alten ist. Der Schulhof ist wie immer, mit dem Asphalt, auf dem alle mindestens einmal im Jahr hinfallen und sich ein Loch ins Knie schlagen, das Klettergerüst, das ganz ungefährlich ist, aber eigentlich doch nicht ganz ungefährlich, nachdem Truls aus der zweiten Klasse im letzten Jahr runtergefallen ist, direkt auf seine Rotznase, und sich einen Zahn ausgeschlagen hat. Unsere Lehrerin ist wie immer, wie immer zu Beginn eines Schuljahres, dann strahlt sie wie eine Sonne. Im Laufe des Herbstes strahlt sie immer weniger und ungefähr um Weihnachten herum ist sie bereits ziemlich erloschen, wie eine ausgebrannte Glühbirne.

Der Rolf in unserer Klasse ist jedenfalls ganz der Alte! Sobald er durch das Schultor kam, fing er an, den Fahrradschuppen zu beschmieren, und was er da normalerweise schreibt, das sind nicht gerade Bibelverse. Also muss der Hausmeister auch dieses Jahr wieder den Fahrradschuppen streichen, und dabei wird er reichlich sauer. Morten kam an, die Taschen voll mit süßen Schnullern, sauren rostigen Nägeln, und in der ersten großen Pause nahm er die Gelegenheit wahr und rannte zu Frau Nilsens Bonbonladen, um sich mit weiterem Vorrat zu versorgen. Wie gehabt! Und die Jungen aus der Siebten begannen das Schuljahr damit, dass sie Plastiktüten voller Wasser auf uns andere warfen, nur um zu zeigen, dass sie jetzt die Größten in der Schule sind1. So ist es jedes Jahr.

Eigentlich ist nur Mona nicht wie immer. Sie hat eine Zahnspange bekommen. »Zähne im Gefängnis«, meinte sie, bevor irgendjemand den Mund aufkriegte, um zu sagen: »Iiiih! Eisendraht auf den Zähnen.«

Und einige sind ein bisschen gewachsen.

Aber ich bin am meisten gewachsen.

Jedes Jahr bin ich es, die am meisten gewachsen ist, aber Jon, Siv-Margrete und Turid waren fast genauso groß wie ich. Vorher. Jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich weit über alle Köpfe gucken. Das merkte ich, als wir vor der ersten Stunde auf dem Flur vor dem Klassenzimmer standen.

»Oh, Scheiße, wie lang du wirst«, sagte Synne. »Kannst bald als Fahnenstange anfangen.«

O ja, Synne hat sich auch nicht verändert.

Ich brauchte einen neuen Schultisch, ganz klar. Meine Beine sind so lang geworden, dass der alte mir auf dem Schoß lag und schaukelte. Jon bekam Kjerstis Platz, die im Frühling abgegangen war, genau vor mir, in der Fensterreihe. Und die ganze Zeit drehte er sich um, um mir den Radiergummi zu klauen, einen Bleistift zu leihen, zu gucken, was ich gemalt hatte, oder einfach, um sich umzudrehen. Ich schlug ihm auf die Finger und stieß ihn in den Rücken.

Wir sprachen über die Ferien. Das machen wir immer am ersten Schultag. Dann erzählte unsere Lehrerin uns, dass Frau Vage, die wir bisher im Turnen hatten, in den Ferien ein Baby bekommen hat, ein Mädchen.

»Toll!«, riefen wir Mädchen und schwenkten zwei Finger in der Luft.

»Uuuuuu!«, riefen alle Jungen, ausgenommen Morten, der wie üblich mindestens vier rostige Nägel im Mund hatte und gar nichts sagen konnte.

»Haben wir dann dieses Jahr gar kein Turnen?«, fragte Inger-Karin voller Hoffnung. Denn zu den Turnstunden hat Inger-Karin fast immer ihr Turnzeug vergessen oder sie hat Kopfschmerzen, sodass sie ruhig auf der Bank sitzen muss.

»O doch«, sagte unsere Lehrerin. »Ihr bekommt einen anderen Lehrer, wie ihr euch denken könnt. Geir Böler heißt er.«

»Oh«, flüsterte Inger-Karin. »Ach so.«

»Toll«, sagte der Rolf. »Es ist viel toller mit einem Sportlehrer als mit einer Sportlehrerin.«

»Ist es nicht«, sagten Turid und Siv-Margrete.

Anschließend, als die Lehrerin unseren Stundenplan an die Tafel schrieb, ließ der Rolf einen Zettel durch die Klasse kreisen, auf dem stand: FRAU VAGE HAT ES DREIMAL GEMACHT! Typisch Rolf, der muss immer gleich schweinisch denken, aber alle wussten jedenfalls, was er meinte, denn Frau Vage hatte bereits zwei Kinder. Alle wussten es, ausgenommen Inger-Karin.

»Was gemacht?«, fragte sie und dadurch entdeckte unsere Lehrerin den Zettel, wurde ganz dunkel im Gesicht und rot am Hals und sagte, wir sollten aufhören, uns so kindisch zu benehmen, wo wir jetzt in die fünfte Klasse gingen. Darin war ich ihrer Meinung.

Oft fahren Heidi und ich zusammen mit Jon und Jörn von der Schule nach Hause. Und mit dem Rolf, wenn er zusammen mit Jon und Jörn ist. Zuerst fahren wir dann an dem Bonbongeschäft von Frau Nilsen vorbei. Vater meint, es sollte gesetzlich verboten werden, Bonbongeschäfte neben Schulen zu eröffnen. Da bin ich anderer Meinung. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass jemand wie Frau Nilsen gesetzlich verboten werden sollte. Das Marzipanwürstchen, wie wir sie auch nennen. Frau Nilsen kann nämlich keine Kinder leiden. Sie ist der Meinung, alle Kinder seien Diebe, die blitzschnell Süßigkeiten klauen, sobald sie ihnen nur den Rücken zudreht, also tut sie das nie. Sie wacht über uns wie ein Habicht, und wenn sie mal lächelt, was selten genug vorkommt, dann mit zusammengekniffenen Lippen, das Gesicht in vier Doppelkinne zusammengepresst. Als hätte sie Angst, dass wir ihre Visage auch noch klauen würden, wenn sie sie zu weit vorstreckte. Die einzigen Kinder, die Frau Nilsen gefallen, sind süße kleine Mädchen. So ein süßes kleines Mädchen bin ich ganz sicher nie gewesen. Mit Heidi war das etwas anderes. Als Heidi und ich in die zweite Klasse gingen und leere Flaschen sammelten, um danach bei ihr hineinzulatschen und alles zu vernaschen, da pflegte Frau Nilsen zu schnaufen: »Ach ja!« und »Ach, wie süß!« Womit sie ganz sicher nicht mich meinte. O nein, das war allein Heidi, die gemeint war.

»Haben Sie schon mal solche Grübchen gesehen! Und so feines Engelshaar!« Frau Nilsen setzte Heidi auf den Tresen, tätschelte sie und tändelte mit ihr, wobei sie sie mit Schokoladenstückchen fütterte. Und wenn andere Damen anwesend waren, jedenfalls solche mit massenhaft Lippenstift und Parfüm, dann nickten und lächelten die auch und schrien: »Mein Gott, was für ein hübsches Kind!«

Alle waren mit Heidi beschäftigt.

Mich bemerkte keine.

Nicht gerade sehr spaßig, wie ihr euch denken könnt.

Aber als eines Tages Frau Nilsen wieder mal herumtätschelte, hackte plötzlich das schöne Kind seine Zähne in einen ihrer dicken Finger, dass Frau Nilsen aufschrie: »Das Kind hat mich gebissen! Das Kind hat mich in den Finger gebissen!«

»Äntschuldigung«, sagte Heidi. »Aber ich dachte, der Finger wäre ein Marzipanwürstchen.«

Die Lippenstift- und Parfümdamen lachten und Frau Nilsen lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und bösen Augen. Zwei Jungen aus der siebten Klasse hatten alles mitbekommen und erzählten es den anderen. Am nächsten Tag wusste es die ganze Schule. Alle steckten den Kopf zur Ladentür rein und riefen: »Marzipanwürstchen!«

Der Rolf meint, wenn das Marzipanwürstchen schon erwartet, dass wir frech sind, dann könnten wir es genauso gut sein. Seine Bonboneinkäufe enden immer damit, dass er aus der Glastür stürmt, während Frau Nilsen hinter ihm herschimpft: »Lümmel! Welch bodenlose Frechheit! Aber ich weiß, wer du bist! Ich werde es deinem Vater sagen . . .!«

Aber das tut sie nie. Der arme Rolf, wenn sie es wirklich täte. Denn sein Vater wird ohne jeden Grund sauer, erzählt der Rolf, und dann verprügelt er ihn. Obwohl es verboten ist, Kinder zu prügeln. Der Rolf sagt, dass ihm das egal ist.

Der Rolf sagt viele merkwürdige Sachen. Er sagt, dass die Betrunkenen im Einkaufszentrum eigentlich Spione seien, die den Geschäftsführer von Olufsens Supermarkt beobachten, und dass der Geschäftsführer ein gesuchter Terrorist sei, der zehn Menschen auf dem Gewissen habe. Mutter sagt, die Preise bei Olufsen seien kriminell. Aber ich glaube nicht, dass deshalb jemand gestorben ist.

Wir radeln gewöhnlich über den Platz vor dem Einkaufszentrum. Dann fahren wir auf die Brücke, die über die Autobahn führt. Dort halten wir an und spucken auf die Autos unter uns. Der Rolf schafft immer die dicksten Klumpen. »Yeah!«, schreit er, reißt beide Arme über den Kopf und spreizt zwei Finger. »Das Spuckphantom hat wieder zugeschlagen!«

Dann fahren wir einen Hügel hoch und auf halber Höhe teilt sich der Weg. Jörn und Jon verschwinden nach rechts. Der Rolf verschwindet auch, weil er nicht mit uns Mädchen allein sein will. Er hat nicht einmal genug Mut, mit ein paar Pipimädchen zusammen zu sein, wie Jörn sagt. Er tritt wie wahnsinnig in die Pedalen, den restlichen Hügel hoch und um die Kurve, wo er wohnt.

Heidi und ich schieben unsere Räder das letzte Stück.

Manchmal gehe ich mit Heidi nach Hause. Andere Male kommt Heidi mit zu mir. Aber einen Tag in der Woche soll Heidi zu ihrem Vater, und dann steht ihre Mutter schon da, tritt von einem Bein aufs andere und drängelt, dass Heidi sich beeilen muss. Dann gehe ich schräg über die Straße zu mir nach Hause. Mit dem Fahrrad brauchen wir nur ein paar Minuten bis in die Schule. Wieder nach Hause zu fahren dauert viel länger. Der Rekord waren vier Stunden, aber das kam nur, weil der Rolf behauptete, er wüsste, wer das Postamt ausgeraubt hatte, da mussten wir spionieren, und natürlich hatte der Rolf Unrecht, aber das konnten wir ja nicht wissen. Deshalb war es eigentlich nicht in Ordnung, dass die Eltern sauer waren, als ich heimkam, weil sie Angst gehabt hatten.

Aber heute fuhren wir schnell nach Hause, denn es goss in Strömen. Also hatte Vater Recht behalten.

Und wer küßt mich?

Подняться наверх