Читать книгу Und wer küßt mich? - Tone Kjærnli - Страница 7

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Wenn ich in die Zukunft sehen könnte! Dann würde ich alles schon im Voraus wissen. Das wäre prima. Zum Beispiel: Wenn ich vorher wüsste, wann dieser neue Turnlehrer, Böler, sich einfallen lässt, dass wir an den Geräten turnen sollen. Dann könnte ich einfach sagen, dass ich mein Turnzeug vergessen habe oder mich nicht wohl fühle, wie Inger-Karin es tut. Aber ich kann nicht in die Zukunft gucken, deshalb weiß ich es nicht vorher, und wenn er »Geräte« gesagt hat, ist es zu spät, um so zu tun, als ob ich krank wäre. Inger-Karin sagt es immer schon, bevor wir in den Umkleideraum gehen. Aber dann würde ich ja alles, was Spaß macht, auch verpassen!

Die Sportstunden haben sich reichlich verändert, seit wir den neuen Lehrer haben. Vorher lief es so: Wir stürmten in die Turnhalle, machten die Taue los, kletterten die Sprossenwände hoch und schaukelten quer durch den Raum, wobei wir AOAOAOAAAA schrien, oder wir öffneten die Schränke mit den Bällen, sodass sie von einer Wand zur anderen hüpften, oder aber wir enterten mit lautem Gebrüll den großen Kasten, sodass Frau Vage eine halbe Stunde brauchte, bis sie uns wieder zur Ruhe gebracht hatte, und dann schafften wir es gerade noch, zehn Minuten Völkerball zu spielen, bevor wir uns duschen gehen mussten.

Aber Böler. Der Brüller. Es hat gar keinen Zweck, ihm auf der Nase herumtanzen zu wollen. Bereits in der ersten Stunde gab er uns zu verstehen, dass er sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt. In Bölers Nasenlöchern wachsen lange schwarze Haare. Die beginnen zu zittern, wenn er wütend wird. Und wütend wurde er sofort, weil wir wie üblich hereinstürmten. Da brüllte der Brüller, dass die ganze Horde einen Mittelscheitel bekam: »RUHE!«

Und es wurde ruhig.

Der Rolf hatte bereits ein Seil gelöst und war bis nach oben hinaufgeklettert. Jetzt hing er schaukelnd dort und wagte nicht, sich zu rühren.

»KOMM SOFORT DA RUNTER!«, brüllte der Brüller.

Der Rolf kam so schnell herunter, dass er sich die Hände verbrannte, doch obwohl das bestimmt fürchterlich weh tat, traute er sich nicht, auch nur einen Piep von sich zu geben.

Der Brüller sagte, wir sollten uns in zwei Reihen aufstellen. In dem Durcheinander stieß ich Synne aus Versehen einen Ellbogen ins Auge, worauf sie mich in den Rücken boxte, ich boxte zurück und Synne schrie: »Au!«

Das war der Moment, als ich die langen schwarzen Haare in der Nase des Brüllers entdeckte: als er über mir stand und mich in Grund und Boden starrte.

»Wenn ihr denkt, ihr seid ein Kindergarten, dann habt ihr euch geirrt! Ich will RUHE und ORDNUNG! Ist das klar?«

»Ja«, flüsterte Inger-Karin von der Bank.

»Ich habe nichts gehört!!!«

»Ja«, murmelten wir anderen und guckten einander verstohlen an.

Es könnte ganz schön sein mit Ruhe und Ordnung in den Sportstunden, wenn ich nicht solche Panik hätte, dass der Brüller mich anbrüllen könnte. Ich versuche mich so unsichtbar wie möglich zu machen. Sehr einfach, wenn man die Längste in der Klasse ist, wie ihr euch denken könnt! Manchmal machen wir etwas Lustiges, aber unglaublich oft holt der Brüller die Geräte heraus und dann stellt er den Bock himmelhoch. Doch das finde bestimmt nur ich. Und Morten. Aber irgendwie erwartet niemand, dass Morten dort rüberkommt, er ist von all den Süßigkeiten, die er isst, ja so dick. Der Brüller sagt, dass ich den Bock wie nichts schaffen müsste, wo ich doch so lange Beine habe. Und dann glotzen alle. Dann geht es schon überhaupt nicht.

Aber wenn ich in die Zukunft sehen könnte!

Ich würde wissen, ob ich immer weiter wachse, bis ich über zwei Meter lang bin. Ich las in einer Zeitschrift über ein Mädchen, das erst dreizehn Jahre alt war. Und zwei Meter lang! Es war auch ein Foto von ihr dabei, auf dem sah sie fürchterlich traurig aus. Wenn ich nicht aufhöre zu wachsen, bevor ich zwei Meter lang bin, dann möchte ich lieber sterben! Vielleicht ist es auch ganz gut, das nicht zu wissen.

Aber es wäre schön, wenigstens ein bisschen hellseherisch zu sein. Gerade so viel, dass ich im Voraus wüsste, welche blöden Sprüche Synne wieder machen wird. Dann könnte ich mir rechtzeitig eine passende Antwort ausdenken.

Wie heute, als wir die Klassenfotos bekamen, die vor vierzehn Tagen gemacht worden waren. Synne sagte zu mir so leise, dass die Lehrerin es nicht hörte, ich sähe aus wie ein Wolkenkratzer, ein hässlicher Wolkenkratzer mit einem Feuer im obersten Stockwerk noch dazu. Vielleicht sagte sie es nur, weil ich laut gelacht hatte, als ich sah, dass Jörn über ihrem Kopf Kaninchenohren gemacht hatte, ohne dass sie es wusste. Aber vielleicht sagte sie es auch, weil es stimmt. Ihre Worte brannten jedenfalls. Ich spürte, wie ich sozusagen zusammenschrumpfte. Alles in mir verkrampfte sich, sodass es unmöglich wurde, eine passende Antwort zu finden.

Und wie missglückt die Klassenfotos sind! Auf einem hat Morten seinen Hosenschlitz offen, auf einem anderen hat Tore den Finger in der Nase, auf dem dritten haben viele die Augen geschlossen, als ob sie schliefen, während die anderen erschrocken in die Kamera starren, als sähen sie hinter dem Fotografen ein Ungeheuer. Und auf allen Fotos hat Jörn Synne Kaninchenohren verpasst, dass sie ganz bescheuert aussieht. Ihr könnt euch denken, wie sauer sie war! Nur Heidi sieht normal aus, sie ist wahnsinnig süß, wie sie auf der untersten Treppenstufe sitzt, ganz in Rosa.

»Uff«, sagte Heidi.

»O nein, du bist doch prima«, sagten alle.

Der Rolf ist auf den Fotos ganz blass. Er sieht aus, als hätte er mehrere Tage im Grab gelegen. Und das kam so:

In der Stunde, bevor die Fotos gemacht wurden, hatten wir Religion bei Fräulein Ruge oder der Henne, wie wir sie nennen.

»Jesus erweckte Lazarus von den Toten. Lies laut vor, Morten«, sagte die Henne.

»Da schagte Scheschusch schu Laschajusch, schtä auf und nimm dein Bett und geh. Und Laschajusch . . .«

»Morten! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du während des Unterrichts keine Schokolade essen sollst!«

»Schaure Schnuller«, sagte Morten, »keine Schokolade.«

Turid meldete sich. »Fräulein, ich glaube das nicht. Ich glaube das mit Lazarus nicht . . .«

»Ich auch nicht, ich auch nicht«, stimmten mehrere zu.

Jörn sagte: »Da lag er nun und hat mehrere Tage vor sich hin gemodert. Und dann soll er so einfach aufstehen und hinausmarschieren? Und auch noch sein Bett mitnehmen? Und das ganz allein? So ’n Quatsch.«

Die meisten waren Jörns Meinung, ich auch.

»Aber für Jesus war nichts unmöglich«, sagte die Henne. Sie klimperte mit den Augenlidern und nickte mit dem Kopf. Sie hat ihren Namen nicht ohne Grund bekommen, das Fräulein Ruge. »Jesus konnte Wunder vollbringen, wisst ihr? So gut war er. Holt eure Arbeitshefte raus und schreibt auf, wie er Lazarus erweckt.«

»Fräulein Ruge, ich brauche einen neuen Stift!« Das war der Rolf.

»Aber hier steht, dass du erst vorige Woche einen bekommen hast«, sagte die Henne.

»Fräulein Ruge, ich brauche ein Blatt, weil ich mein Arbeitsheft vergessen habe!« Das war Mona.

Die Henne seufzte und sagte, wir sollten leise sein, solange sie fort sei, um Schreibpapier zu holen. Kaum war sie aus der Tür, da lief der Rolf schon zum Schrank. Aber Fräulein Ruge hatte die Schreibstifte aufs oberste Bord gelegt (Ich kenne ja meine Pappenheimer), und das oberste Bord ist für uns alle zu hoch, selbst für mich. Der Rolf stellte einen Fuß auf das Regal daneben und stieß sich ab und streckte sich nach den Stiften . . .

Da kippte der Schrank um! Mit einem Knall kippte er über den Rolf, der darunter verschwand!

Es wurde mucksmäuschenstill. Die ganze Klasse saß da wie vom Schlag gerührt. In dem Moment kam die Henne zurück. »Na, hier ist es ja friedlich«, sagte sie freundlich. »Und ich dachte, ich hätte etwas gehört . . .«

Da sah sie, was sie gehört zu haben glaubte. Und ihre Augen begannen in ihrem Kopf herumzukreisen.

»Ddder Rolf«, stotterte Jörn. »Er ist unterm Schrank.«

Die Henne stieß einen schrillen Schrei aus. Mir schien, es klang wie MEIN GOTT, obwohl die Henne selbst gesagt hat, dass wir Gottes Namen nicht missbrauchen dürften. Dann stürzte sie hin und fing an, am Schrank zu ziehen und zu zerren. Die Klasse eilte dazu. Jemand half der Henne ihn hochzuziehen.

»Rolf?«, piepste die Henne.

Unter einem Haufen von Kladden, Buntpapier, Schreibstiften, Atlanten, Stoffresten und Leimtuben konnten wir Rolfs Gesicht entdecken. Es sah weiß und still aus. Unangenehm still. Wie bei einer Leiche.

Die Henne schwankte und griff sich an den Hals. Einige hielten den Atem an. Synne heulte. Tore fragte: »Ist er . . . ist er . . .«

»AUFERSTANDEN VON DEN TOTEN!«, rief die Leiche, sprang plötzlich auf, sodass die Buntpapierblätter wehten, und schüttelte den Kopf, dass das Gipspulver wie eine weiße Wolke um ihn schwebte.

»Rolf, der Lazarus!«, rief Jon. »Ein Wunder!

Ein Wunder!« »Ein Wunder!«, schrie die ganze Klasse. »Ein Wunder! Yeah!« Da wurde die Henne wütend. Das ist sicher typisch für Erwachsene. Zuerst sind sie zu Tode erschrocken, weil sie das Schlimmste annehmen. Und wenn sich zeigt, dass sie sich glücklicherweise geirrt haben, rasten sie total aus, weil sie im Unrecht sind. Als wenn es besser gewesen wäre, wenn Rolf gestorben wäre!

Als der Fotograf in der darauf folgenden Stunde kam, um das Klassenfoto zu machen, hatte der Rolf sich nach ernsthaften Ermahnungen durch unsere Lehrerin das meiste Gipspulver abgebürstet. Es muss aber immer noch eine feine Schicht zurückgeblieben sein, denn auf den Fotos sieht er wie gesagt ziemlich bleich aus.

»Kennt ihr den mit den zwei Tomaten . . .«, fragte der Fotograf.

»Ja«, sagten wir.

»Sagt mal cheese«, sagte der Fotograf.

Das taten wir. Cheese, dass es in den Wangen weh tat.

»Ich bin am hässlichsten«, sagte ich zu Mutter, als ich ihr das Klassenfoto zeigte.

»Aber wie kannst du so etwas sagen, mein Schatz?«, rief Mutter erschrocken.

»Weil es stimmt!«

»Jetzt hör aber auf, Mädchen, du siehst doch wirklich hübsch aus. Das musst du doch selbst sehen.«

Das Einzige, was ich sehe, ist, dass ich auf dem Foto merkwürdig aussehe.

Aber im Grunde genommen tun das alle anderen auch. Außer Heidi.

»Aber Heidi ist hübscher. Sei ehrlich.«

»Hat man jemals so einen Blödsinn gehört?«, meinte Mutter.

»Ihr seid beide gleich hübsch.«

»Ich bin die Hässlichste«, sagte ich, als ich Vater das Foto zeigte.

»Du hässlich? O nein! Du bist doch das hübscheste Mädchen, Ninalein.«

»Ich bin hässlich. Heidi ist hübsch. Sei ehrlich.«

»Das stimmt, Heidi ist sicher hübsch. Aber sie ist bei weitem nicht so hübsch wie du, mein Mädchen.«

Fredrik kam herein. Sein Haar war fettig, wie üblich. Außerdem hatte er momentan vier Pickel auf dem Kinn und einen auf der Nase. Sein Kopf hing nach vorn, er sah aus wie ein muffeliger Geier.

Als er merkte, dass ich ihn anstarrte, riss er seine Augen auf und streckte die längste Zunge auf der Erdkugel heraus, wie ein Ameisenbär.

»Und Fredrik, ist Fredrik auch hübsch?«

»Ja, natürlich!«, sagten Mutter und Vater. »Fredrik ist auch hübsch. Unsere Kinder sind beide hübsch!«

Also ist es ganz offensichtlich.

Dass Erwachsene lügen.

Um das zu erkennen, brauche ich keine Hellseherin zu sein.

Und wer küßt mich?

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