Читать книгу Und wer küßt mich? - Tone Kjærnli - Страница 5
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ОглавлениеUnser Haus ist voller Geräusche. Besonders bei Wind. Oder bei Regen. Es heult und seufzt, als ob jemand in den Wänden säße und weinte. Das Gespenst der Großmutter, denke ich. Es ist das Großmuttergespenst, das weint. Denn sie war bestimmt sehr unglücklich. Ich höre gern zu, wenn Mutter erzählt, wie unglücklich Großmutter war, auch wenn es sehr traurig ist.
»Ach ja, mein Vater, dein Großvater, der hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Auf seine Entdeckungsreisen! Ließ Mutter mit drei Kindern und einem wackligen Krähenschloss zurück, in dem der Regen durch das Dach tropfte. Und dann kam er Monate später mit Schildkrötenpanzern, Speeren, Masken und merkwürdigem Schmuck zurück, den Mutter nicht brauchen konnte.«
»Die Arme.«
»Sie hatte es nicht leicht, deine Großmutter. Doch sie machte ihm niemals Vorwürfe. Sie beklagte sich nie. Und war er zu Hause, dann war alles voller Farben, Feste, Musik und Lachen. Aber immer fuhr er wieder fort. Und ihr Lachen ging in Weinen über, wenn Mutter dachte, wir Kinder würden schlafen.«
»Denkst du, das ist ihr Gespenst, dieses Weinen im Haus?«
»Es gibt keine Gespenster, das weißt du doch.«
»Du hast selbst gesagt, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir ahnen und glauben!«
»Nun ja, jedenfalls war Mutter sehr unglücklich. Denn sie vermisste Vater. Sie musste mit allem allein zurechtkommen, tagein, tagaus. Und du darfst nicht glauben, dass es für uns Kinder so einfach gewesen wäre. Mit einem Vater, der immer fort, und einer Mutter, die immer traurig war. Und wie die Leute redeten!«
»Ihr Armen. Warst du wütend auf ihn?«
»Ach ja, ganz tief drinnen war ich es wohl. Aber ich mochte ihn auch furchtbar gern. Denn er war ja so lieb. Nur dass er eben nicht erwachsen werden wollte, dein Großvater. Hatte nicht für fünf Pfennig Verantwortungsgefühl. Mutter hätte ihn verlassen und sich einen anderen suchen sollen.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Ach, weißt du, das war die große Liebe zwischen deiner Großmutter und deinem Großvater. Und die große, große Liebe hört nicht auf die Vernunft.«
»Warum hört die große, große Liebe nicht auf die Vernunft?«
»Weil . . . das verstehst du erst, wenn du größer bist.«
Das ist typisch. Wenn die Erwachsenen nicht wissen, was sie antworten sollen, sagen sie: »Das verstehst du, wenn du größer bist.« Ich bezweifle ja, dass sie selbst verstehen, was sie nicht erklären können.
Ich kann mich an meine Großmutter nicht mehr erinnern. Aber an meinen Großvater. Er brachte Fredrik und mir immer spannende Geschenke mit. Als ich vier Jahre alt war, bekam ich eine Maske von ihm. Eine Teufelsmaske, die einem Zauberer auf Java gehört hatte, die war ganz fürchterlich unheimlich. Ich schrie wie am Spieß, als er damit ankam.
»Das ist wohl kein passendes Spielzeug für ein Kind, Schwiegervater«, sagte Vater und wollte sie mir wegnehmen. Aber da schrie ich noch lauter. Seitdem hängt sie in meinem Zimmer an der Wand. Fredrik bekam eine Sammlung mit Schmetterlingen aus der ganzen Welt. Aber er lässt sie hinter einem Haufen Comics in einer Schublade in der Schwarzen Nacht verstauben. Wären das meine Schmetterlinge, dann hätte ich sie jeden Tag rausgeholt und angeschaut. Fredrik ist dumm. Großmutter sieht auf dem alten Hochzeitsbild, das bei uns in der Stube steht, richtig süß aus.
»Das war der größte Tag in ihrem Leben«, sagt Mutter und schüttelt den Kopf. »Und ihr Brautkleid hat sie immer aufbewahrt, als eine schöne Erinnerung. Damit darfst du nicht spielen, Nina, merk dir das.«
»Vielleicht kann Nina es bei ihrer Hochzeit tragen«, sagt Vater.
»Ich werde nicht heiraten«, erwiderte ich schnell.
Die Erinnerung an den größten Tag in Großmutters Leben hängt zwischen alten Kleidern, Mänteln und Hüten oben auf dem Boden. Es hängt unter unzähligen Plastikhüllen. Und ich spiele auch nicht damit. Ich schaue es nur an.
Weil es heute ununterbrochen goss, gingen Heidi und ich auf den Boden. Der Regen donnerte direkt über uns aufs Dach. Das Gespenst der Großmutter weinte und stöhnte. Entschuldigung, Großmutter, flüsterte ich zur Sicherheit tonlos, als wir uns daranmachten, das ganze Plastik abzuziehen. Bei Gespenstern kann man nie wissen. Es knisterte und knackte um unsere Finger, bis wir endlich die kalte Seide, die Spitzen und Perlenstickereien fühlen konnten.
»Darf ich das Brautkleid mal anziehen?«, fragte Heidi.
»Nein«, sagte ich.
»Wie doof.«
»Aber wir dürfen nicht. Es kann kaputtgehen.«
Es ist immer etwas komisch, nein zu Heidi zu sagen, weil sie sehr schnell sauer wird, und dann macht alles keinen Spaß mehr. Aber glücklicherweise fand sie ein schwarzes Großmutterkleid, einen Hut und ein Pelzding, das eigentlich ein toter Fuchs war mit Schnauze, Pfoten, Schwanz und allem. Er sah fast lebendig aus, wie er von ihren Schultern herunterschaukelte, der arme Fuchs. Ich zog mir einen riesigen Anzug an, einen Großvaterhut und einen alten Wintermantel.
»Genau wie Mann und Frau«, sagte Heidi und ging mit wackelndem Po hin und her. »Komm her, mein Gatte.«
»Ja doch, mein Schätzchen«, brummte ich und schlurfte hinterher.
Heidi kicherte. »Du kannst gut den Mann spielen. Weil du so lang bist. Willst du irgendwann heiraten?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich denke schon.«
»Aber die Frau darf nicht größer als der Mann sein! Wenn du nun keinen Mann triffst, der größer ist als du? Dann kannst du doch nicht heiraten.«
Ich fühlte mich mit einem Mal hässlich und merkwürdig in dem Großvateranzug. Ich drehte mich um und zog mich wieder aus. Aber Heidi redete einfach weiter.
»Ich werde auf jeden Fall heiraten. Ich bin ja schon mit einem zusammen.«
»Örjan?«
»Mm. Und soll ich dir eine Riesenheimlichkeit verraten?«
»Sag schon.«
»Du musst aber schwören, es niemandem zu verraten!«
»Ich schwöre beim Tod meiner Eltern. Unser Haus wird um Mitternacht abbrennen.«
»Wir haben uns geküsst. So richtig.«
Ich starrte Heidi an, um herauszufinden, ob sie log. Aber das ist bei Heidi immer schwierig festzustellen.
»Wie denn richtig?«
»Auf den Mund natürlich. Lange. Und oft.«
»Ihh«, sagte ich. Aber ich meinte nicht ihh. Ich sagte das nur, weil ich mir nicht so sicher war, ob es mir gefiel, dass Heidi geküsst hatte, irgendwie war das ein wenig gruselig. Sie wurde dadurch ein bisschen . . . anders.
»Bist du neidisch, oder was? Du scheinst sauer zu sein.«
»Nein«, erwiderte ich schnell. »Wie war das denn?«
Heidi versteckte ihr Gesicht in der Fuchsleiche und biss in den Schwanz.
»Wahnsi . . . oll.«
»Was?«
»Es war wahnsinnig toll. Es war so toll, dass wir vergaßen, dass wir froren.«
»Ihr habt gefroren?«
»Ja. Wir hatten nämlich kurz vorher gebadet, weißt du, und saßen nur in Badesachen da, und das war ziemlich kalt.«
»Es war bestimmt nicht sehr vernünftig, so dazusitzen und zu frieren«, sagte ich.
»Vernünftig? Was redest du denn da?«
»Vielleicht ist es ja die große Liebe.«
»Was?«
»Die große, große Liebe. Zwischen dir und Örjan.«
»Vielleicht. Nein, jetzt habe ich keine Lust mehr, mich zu verkleiden.«
Anschließend saßen wir in meinem Zimmer und sahen auf den Regen hinaus, der herunterrann.
»Hast du nichts Spannendes aus den Ferien zu erzählen?« Heidi knabberte auf ihrem Daumennagel herum. »So etwas mit Liebe oder so?«
Aber ich hatte nichts zu erzählen. Nichts mit Liebe oder so. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, ob mir nicht irgendetwas einfiel, doch das war etwas schwierig, denn der einzige Junge, der aus diesem Sommer in Frage kam, war mein Cousin, und Cousins zählen nicht. Außerdem ist er zwei Jahre jünger als ich. Aber zumindest konnte ich Fotos aus dem Urlaub zeigen. Wir blätterten im Album, schauten uns die Bilder von Tante Randis und Onkel Finns Hof an, von mir in den Erdbeerbeeten und von meinem Cousin, wie er im Fluss badete, und alle Fotos von den jungen Katzen, die schauten wir uns besonders lange an. Als wir zu den Bildern von Mutter und Vater kamen, die sich nackt am Meer sonnten, machte Heidi große Augen.
»Die sind ja splitternackt!«
Ich wollte weiterblättern, es war so eklig, wie Heidi glotzte, aber sie ließ es nicht zu.
»Splitternackt!«
»Na und, macht das was?«, fragte ich, riss das Album an mich und blätterte weiter zu Großvater und mir, wie wir auf dem Rasen Kricket spielten.
»Meine Mutter stellt sich jedenfalls nicht splitternackt zur Schau. Und mein Vater auch nicht. Und Svein auch nicht.«
»Die haben sich nicht zur Schau gestellt. Die haben sich gesonnt.«
»Meine Mutter sonnt sich nie splitternackt. Und Svein auch nicht. Meine Mutter sagt, so was tun normale Leute nicht.«
Ich war es so gewohnt, meine Eltern nackt zu sehen, warum sollten sie deshalb nicht normal sein? Aber ich wollte nicht weiter darüber reden. Es war peinlich, peinlich, dass Heidi die Fotos überhaupt gesehen hatte. Ich klappte das Album wieder zu, musste etwas Neues finden.
Ich setzte mir die Zaubermaske aus Java auf, damit Heidi nicht sehen konnte, wie verlegen ich war.
»Bakap ibu bau bau«, sagte ich und kratzte mit den Fingern in der Luft.
»Weißt du noch, als wir klein waren?«, fragte Heidi.
»Ja. Bakap ibu bau bau.«
»Und wir die Betrunkenen vorm Einkaufszentrum durch diese Maske anguckten?«
»Ja. Raku aku.«
»Und wir wurden wirklich mutiger, nur weil sie unser Gesicht nicht sehen konnten.«
»Ja. Uku tuku.«
»Und wie wir herumrannten und Leute erschreckt haben?«
»Ranga banga.«
»Oh, waren wir da kindisch. Bist du immer noch so kindisch?« Ich nahm die Maske ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich überlegte, ob Heidi es kindisch finden würde, wenn ich vorschlüge, mit dem Ball zu spielen.
»Wollen wir raus und Ball spielen?«, fragte Heidi.
Also machten wir es.