Читать книгу Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd - Страница 6

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Drei Tage lang war Felix Bartholdy fast ununterbrochen auf dem Dach gesessen und hatte Zahlen auf kleine Zettel geschrieben. Er begann mit 1, war aber bald bei den vierstelligen Zahlen angelangt. Er war nackt bis auf eine rot-orangefarbene Wolldecke, die ihm eine freundliche Frau jedesmal, wenn sie heraufkam, um die Schultern legte, die aber immer wieder herunterrutschte – ohne daß er es bemerkte.

Er wußte nicht, auf welchem Dach er saß, er wußte nicht, wie er hergekommen war, er wußte nicht, wie die Frau hieß (die ihm die Decke um die Schultern legte), obwohl sie es mehrmals gesagt hatte und es unhöflich war, es zu vergessen; er entsann sich auch nicht, wie die andere Frau hieß (doch das war nicht so schlimm), er wußte kaum seinen eigenen Namen – Felix Bartholdy – aber das nur, weil die Frau mit der Decke ihn diesen Namen wie ein Papagei hatte wiederholen lassen, obwohl er nichts damit verband ... Er wußte nur, daß er den Kopf voller Wörter und Buchstaben hatte, und die galt es jetzt zu vertreiben. Wörter und Buchstaben aller Arten und Grade: Baskerville, Times, Grotesk – halbfett, kursiv und petit. Sogar gotische Buchstaben! Das gesamte gotische Alphabet eingetrichtert, daß die Schläfen schmerzten und pochten. Alles, was er gehört, alles, was er gelesen hatte – das war auf einmal alles präsent: Märchen und Kinderverse, Schulbücher und Chroniken, Gerüchte und Gerede, Gedichte und Romane. Nichts war verloren gegangen. Es hatte sich im Unterbewußtsein abgelagert. War ordentlich in Krügen und Containern verstaut ... Und jetzt war das Lager explodiert. Alles kam an einem Tag! Aber nicht als sinnvoller Zusammenhang ... Nein, stückweise, als Scherben und Fragmente, als abgerissene Wörter und ausgefranste Buchstaben.

Der Kopf fühlte sich an wie ein Ballon.

Die Haut war dünn und empfindlich wie gedehnter Gummi.

Und in diesem Ballon befanden sich alle möglichen Schriftzeichen und rotierten mit messerscharfen Ecken und Kanten.

Selbst ein O war nicht mehr rund und verläßlich.

Felix Bartholdy hörte und sah nach wie vor alles, was um ihn geschah. Aber es spielte keine Rolle mehr. Es ging ihn nichts an. Er schob es weg von sich. Der einzige Gedanke, der ihn beschäftigte, war die Rettung seines Kopfes: Wörter und Buchstaben durch Augen und Ohren austreiben ...

Und dieses Ziel zu erreichen, hatte er bei den Zahlen Zuflucht gesucht.

Alleine würde er es nicht schaffen. Wenn er jedoch die Zahlen durch den Hintereingang einließ – wie eine sechste Kolonne im Nacken ... Wenn er den Kopf mit nichts anderem füllte ... Wenn er sich Zahlen und Ziffern öffnete ...

Ein Kampf der Zahlenreihen gegen das Alphabet.

1 – 2 – 3 – 4 ... Felix Bartholdy arbeitete rasch und effektiv ... 15 – 16 – 17 ... Bald hatte er die Hundert erreicht ... 180 – 181 – 182 ... Er schrieb mit Bleistift ... 1903 – 1904 – 1905 ... Auf kleine Zettel – abgerissen von Toilettenpapier und alten Zeitungen ... 20 606 – 20 607 – 20 608 ... Eine Ziffer, eine Nummer auf jeden Zettel ... 100 509 – 100 510 – 100 511 ... Und er warf die Zettel hinter sich ... 101 515 – 101 516 – 101 517 ... Kümmerte sich nicht darum, was mit ihnen passierte. Hatte genug damit zu tun, seine Verrücktheit auf Abstand zu halten. Hatte genug damit zu tun, in seinem eigenen Kopf einen Weg zu bahnen. Hatte genug mit dem Schreiben zu tun.

Die meisten nahm der Wind mit.

Trotzdem wurde es mit der Zeit ein ansehnlicher Haufen.

Hazel Knocklewood war 23 Jahre und versuchte, Jane Fonda nachzuahmen – in Kleidung, Ansichten und Frisur – doch wenn das jemand merkte, wurde sie wütend.

Hazel war es, die ihn fand.

Sie war auf einem Feministinnentreffen in der Macdougal Street gewesen. Hazel gehörte einer Gruppe an, die sich mit der Stellung der Frau im Gesundheitswesen beschäftigte. Sie war selber Assistentin und Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt in SoHo. (Nicht mit dem Soho in London zu verwechseln. Das SoHo in New York hat seinen Namen von der Gegend, in der es liegt: SOuth of HOuston Street.) Ein Betrüger und Ausbeuter, verkleidet als mittelalterlicher Hippie mit dem Friedenszeichen auf der Brust seines weißen Kittels. Zahnarzt Robbins’ Kundenkreis bestand nämlich aus Graphikern, Filmleuten und Video-Künstlern, und die legten auf so etwas Wert. Eine von Hazels Aufgaben war es, darauf zu achten, daß im Wartezimmer ständig Räucherstäbchen brannten ... (Jane Fonda hätte nie für ihn gearbeitet. Aber hatte Hazel die Wahl? Vorläufig nicht.)

Nach dem Treffen wollte sie kurz hinüber zu Brentano, damit sie und Vera gemeinsam heimgehen konnten. Und da fand sie ihn. Auf dem Bürgersteig – direkt vor den Schaufenstern.

Sie war natürlich nicht die einzige, die ihn fand. Jeder konnte ihn liegen sehen. Aber sie war die einzige, die sich kümmerte. Die anderen begnügten sich damit, ihn wahrzunehmen. Hazel war die einzige, die reagierte.

Als Vera aus dem Buchladen kam, fand sie die Freundin in klassischer Florence Nightingale-Positur vor. Hazel hatte vorschriftsmäßig alle einengenden und drückenden Kleidungsstücke gelockert, den Patienten in Seitenlage gebracht und ihren Mantel über ihn gebreitet. Jetzt hockte sie an der Hauswand, seinen Kopf im Schoß, und tastete nach dem Puls.

Hazel war es auch, die den Vorschlag machte, ihn mit nach Hause zu nehmen. Vera protestierte nicht. Im Taxi erlaubte sie sich allerdings die Frage, ob Hazel wirklich wüßte, was sie da machten ...

Erst als er bei einer Million angelangt war, entspannte er sich allmählich ein wenig. Er hatte das Gefühl, die Sache jetzt mit mehr Ruhe betrachten zu können, wagte es ab und zu, wenn schon kein Fenster so doch ein Schlüsselloch zur Außenwelt, d. h. dem Dach zu öffnen.

Es handelte sich um ein Flachdach auf einem sechs- bis zehnstöckigen Haus (kaum höher). An den Rändern waren ein grün bemalter Drahtzaun und große runde Blumenkübel. In die eine Ecke des Daches hatte man eine Art Terrasse gebaut, mit Holzboden, Klapptisch, weißen Liegestühlen aus Holz und einem Ständer für einen Sonnenschirm.

Er wußte nicht genau, wo er war. Die Wolkenkratzer standen wie ein Legoland an allen Seiten, wie Torten, wie Türme aus völlig verschiedenen Bauklötzen, willkürlich aufeinandergestellt.

Durch einen Spalt konnte er in der Ferne das Bauwerk von Chrysler erkennen, diese Königin unter Manhattans starren Beton-Bürokraten, marmorierten Geschäftsleuten und schäbigen Mietblockhaien mit Eisentreppen auf dem Bauch; dieser Jugendtraum mit den Wasserspeiern wie ein Krägelchen um den silbern glänzenden Raketenkopf drapiert – als hätten Buck Rogers und Lyn Gordon ein Mausoleum geschaffen; ein ewiges Andenken daran, daß es die Menschen wirklich gewagt hatten, den Traum von einst zu leben, es gewagt hatten, ihr Luftschloß zu bauen, und ihrer ersten Liebe treu geblieben waren ... denn genau das war ja die Idee des Wolkenkratzers, genau so hatte man sich einen Wolkenkratzer in alten Comic-Heften und fortschrittsoptimistischen, romantischen Stummfilmen vorgestellt: schimmernde Himmelsburgen mit triumphierenden Spitzen.

Alle andern hatten sich dem Alltäglichen, dem Zweckmäßigen und den prosaischen Winkeleisen-Architekten gebeugt. Nur Chrysler hatte standgehalten.

Falls ich mir jemals ein Auto kaufen sollte, dachte Felix Bartholdy (stillschweigende Voraussetzung: falls ich New York verlassen sollte) – dann muß es ein Chrysler sein.

Gefährliche Gedanken! fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf. Wörter und Buchstaben! Da sitze ich hier und lasse mich von einem verdammten Wolkenkratzer überrumpeln! Lieber weiterzählen!

250 001 – 250 002 – 250 003 ... Weit entfernt (vermutlich standen sie direkt neben ihm) hörte er zwei Menschen leise miteinander reden.

»Er ist geisteskrank«, sagte eine Frauenstimme, die er bis jetzt noch nicht gehört hatte. »Der Kerl ist ja völlig wirr im Kopf.«

»Überhaupt nicht (sagte die, die ihn gewöhnlich zudeckte) – er ist nur etwas ... absonderlich.«

Felix Bartholdy klammerte sich an seinen Bleistift und schrieb wie ein Wahnsinniger.

Gleichzeitig – in einer ganz anderen Ecke der Stadt, genauer in Virolainens Zimmer im Hotel Middletowne in der 48. Straße – versuchten Vera Farrow und ihr finnischer Gastdozent das Mädchen aus Havanna zu dramatisieren. Beide waren nackt. Beide improvisierten. Eine klare Vorstellung hatten sie eigentlich nur vom Schluß ...

Auf dieselbe Weise hatten sie bereits Calle Schewen, Sjösala Vals und natürlich sämtliche zehn Lieder in Fritjof Anderssons Liederbuch interpretiert.

»Ich bin mir ziemlich sicher, daß diese Art der Interpretation noch nicht dagewesen ist«, sagte Virolainen. Er hatte das Fenster geöffnet und saß nackt mit einer Rose im Mund auf dem Fensterbrett. Eigentlich wäre das Veras Rolle gewesen, aber sie hatten getauscht, weil ihr schon schwindlig wurde, wenn sie auf einen Hocker stieg, und so spielte sie den Seemann. Mit den Händen auf dem Rücken ging sie jetzt durchs Zimmer, versuchte es o-beinig wie ein Matrose und spuckte jedesmal, wenn sie am Waschtisch vorbeikam, wie ein Mann aus.

»Ich habe jedenfalls noch nie davon gehört oder gelesen, daß jemand den Versuch unternommen hätte, den Liebesakt in eine Art von erotischer Theatersprache zu übersetzen«, fuhr Virolainen von seinem Fensterplatz aus fort – und warf die Rose kokett auf den Teppich. »Wahrscheinlich sind wir die einzigen, die den Beischlaf zu einem Einakter machen.« Ich bin schön, du bist jung, sang das Grammophon, und beide bemühten sich, das so gut wie möglich mimisch auszudrücken.

Aus sentimentalen Gründen waren es (stillschweigend, ohne daß es einer Absprache bedurft hätte) stets Evert-Taube-Lieder, die an solchen Abenden aufgelegt wurden. Virolainen hatte drei LPs mit Taube-Liedern, und auf dem City College hatten sie sich einen alten Plattenspieler geliehen. Während sie improvisierten und verschiedene Möglichkeiten und Lösungen ausprobierten, spielten sie gewöhnlich die Melodie des Abends immer wieder.

Bis jetzt waren sie mit 1½ LPs ausgekommen – hatten im ganzen 18 Lieder dramatisiert.

Beide liebten das Theater und Virolainen hatte einmal bei einer Laienspielgruppe in Vasa Regie geführt.

»Das mit Hazel begreife ich nicht«, sagte Virolainen in einer Pause. »Ich kenne sie zwar nicht, aber –«

»Hazel ist in Ordnung«, sagte Vera und füllte die Zahnputzbecher mit finnischem Multelikör. »Sie bildet sich nur ein, daß Männer nicht als Ärzte geeignet sind, weil das eigentlich ein Beruf für Frauen ist, und das Rufen einer Ambulanz macht für sie die Sache nur schlimmer, ebenso wie Krankenhausaufenthalte von Übel sind – denn ihrer Meinung nach hat jede Frau die natürliche Begabung des Helfens und Heilens in sich.«

»Hast du ›nur‹ gesagt?« fragte Virolainen. »Für mich hört sich das nach einer ganzen Menge an!«

Vera zuckte mit den Schultern.

»Aber dieser Bursche, den du da auf dem Dach hast ... dieser Bursche, den ihr auf dem Dach habt ... Er könnte ja direkt gefährlich werden!«

Vera schüttelte den Kopf. »Hazel weiß, was sie tut«, sagte sie. »Wenn du ihr begegnen würdest, du würdest es verstehen.« Sie strich mit der Hand über seine Brust. ›Doch ich möchte nicht, daß du Fay oder Hazel begegnest‹, dachte sie. ›Ich will dich für mich haben. Ganz für mich!‹ Sie steckte gedankenverloren einen Finger in seinen Nabel.

»Damit soll man nicht spaßen«, sagte Virolainen. »Mir liegt etwas an dir. Ich habe Angst um dich. Begreifst du das nicht?«

»Du bist das schönste Mädchen aus Havanna, das ich jemals gesehen habe«, flüsterte Vera mit heiserer Seemannsstimme und setzte sich auf seinen Schoß – und setzte gleichzeitig den Plattenspieler wieder in Gang. ›Ich habe lange genug in ihrem Schatten gelebt‹, dachte sie. ›Das hier gehört mir!

Sie schob Virolainen auf den Boden und steckte ihm die Rose ins Haar, küßte ihn auf den Bauch. ›Das würde mir niemand glauben, wenn ich es erzählte‹, dachte sie. ›Sogar wenn Fay und Hazel mich jetzt sehen könnten, sie würden es nicht glauben!‹

Virolainen brummte irgend etwas Finnisches, doch Vera brauchte ihn nicht zu fragen, was es bedeutete. Sie hatte Augen im Kopf ...

»Er braucht einen Arzt«, sagte Fay Hideway kalt. »So etwas ist kein Spiel, Hazel. Es tut mir leid, wenn ich das sage, aber ab und zu –«

»Sprich dich nur aus! Du denkst, du kannst alles bestimmen. Aber wir andern wohnen auch noch hier!«

»Hazel«, sagte Fay. »Du hast eine fixe Idee und die ist witzig und amüsant und soweit ich es sehe, nicht einfach von der Hand zu weisen, aber –«

»Vera und ich, wir wohnen auch hier.«

»Vera laß bitte aus dem Spiel.«

»Frag sie!«

»Hazel«, seufzte Fay. »Ich will dir doch nur klarmachen, daß er einen Arzt braucht.«

»Ich pflege ihn so gut ich kann. Es geht ihm jetzt schon viel besser als vor drei Tagen.«

»Es steht dir nicht zu, mit lebenden Menschen zu experimentieren.«

»Du hättest ihn sehen sollen, als wir ihn fanden.«

»Deine Theorie mag gut und schön sein, aber –«

»Bald wird er wieder vollkommen gesund sein.«

Fay griff nach Hazel und wollte sie zur Speichertreppe ziehen. »Wir reden unten weiter«, sagte sie. »Ich möchte das nicht hier oben besprechen. Er könnte uns hören.«

Hazel riß sich los. »Seit wann bist du so feinfühlig?« schnaubte sie. »Du nimmst doch sonst keine Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen ...«

»Komm jetzt.«

»Du benimmst dich doch sonst wie ein Elefant im Porzellanladen.«

»Das ist etwas anderes.«

»Vera zum Beispiel hast du mit deiner spöttischen Art schon oft so fertig gemacht, daß –«

Fay schnappte nach Luft. »Verdammt nochmal«, sagte sie aus tiefster Seele. »Ab und zu könnte ich dir eine scheuern, daß du aufwachst! Begreifst du denn nicht, daß das etwas ganz anderes ist? Der Kerl ist krank. Er braucht einen Arzt. Er braucht einen Psychiater!«

Hazel schaute hinüber zu der zusammengekauerten Gestalt, die im Schneidersitz dasaß und schrieb und schrieb, Zettel um Zettel füllte – bis zur Ewigkeit zählte. Die Decke war wieder von seinen Schultern gerutscht. Hazel zog sie nach oben, legte sie dicht um ihn. Strich ihm übers Haar. »Wir machen dich schon wieder gesund«, flüsterte sie. »Warte nur, wir zeigen es ihnen schon ...«

Im Munks Court hatte sich Nigel Harris gerade einen neuen Drink (den vierten) bestellt. Er hatte Block und Bleistift hervorgeholt und versuchte nun, einen Eindruck seines ersten Abends in New York zu bearbeiten.

Er war mit dem Flugzeug aus Kopenhagen gekommen (SK 911). Als sie am Kennedy Airport landeten, hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Er nahm den Bus zum Terminal von Manhattan. Fand sein Hotel. Stellte nur rasch das Gepäck ab und ging wieder hinaus – ohne sich umzuziehen – schlenderte aufs Geratewohl in westliche Richtung. Die Luft, so erinnerte er sich, war überraschend klar und sauber. Die Wolkenkratzer waren genauso imponierend, wie er sie sich vorgestellt hatte. Was ihn aber am meisten fasziniert hatte war ... der Dampf aus den Kanaldeckeln, daß es aus den Straßen rauchte, aus allen Ritzen und Spalten quoll es, als wäre die Stadt über heißen Quellen erbaut. Oder auf einem Vulkan ... Später erfuhr er, daß man auf Manhattan alle Rohre, Kabel und Leitungen unter der Erde verlegt hatte, daß es also eine natürliche, prosaische Erklärung gab, aber an diesem ersten Abend ... das war wie ein Wandeln in heidnischem Opferrauch, als wäre man unterwegs zu einem Orakel, oder: es war, als hätte er sich in der Zeit verirrt und wäre in Atlantis gelandet – kurz vor der Katastrophe, kurz bevor diese gewaltige Zivilisation untergehen sollte, kurz bevor die Insel im Meer versinken würde ... als er Madison Avenue überquerte, spürte er, wie der Bürgersteig unter ihm bebte, er hörte das Rummeln der Subway tief unten – als wäre der Vulkan wirklich wach geworden ... Er hatte das Gefühl, als könne New York in jedem Moment in die Luft fliegen.

Und als er zum Rockefeller Center kam, hörte er Musik und sah die kleine, von Scheinwerfern beleuchtete Eisbahn mit der goldenen Prometheus-Statue am Lower Plaza ...

Ich wandle durch heidnischen Opferrauch zum Rockefeller Center, hatte er auf dem Notizblock stehen, – und sehe Menschen auf Schlittschuhen vor dem Bild des Gottes tanzen.

Schräg daneben hatte er geschrieben: NB! Das Rockefeller-Center mit dem Geldhaufen von Onkel Dagobert vergleichen.

Der Mann am Nebentisch hatte schon lange das dümmliche Café-Lächeln im Gesicht, das verriet, daß er nach einem Vorwand für ein Gespräch suchte. Jetzt beugte er sich vor und zupfte Nigel Harris am Ärmel. »Engländer?« sagte er. »Ich habe es am Akzent gemerkt, daß Sie aus Europa kommen.«

Nigel Harris nickte.

Sie saßen in unmittelbarer Nähe, und ein Ausweichen war kaum möglich. Und warum sollte ich auch? dachte er. Wozu geht man sonst in ein Restaurant? Den übrigen Tag schlappe ich ohnehin nur durch die Gegend und führe blöde Selbstgespräche. Da kann ich mich ebensogut mit einem andern unterhalten – zur Abwechslung.

»Ich habe sofort gehört, daß Sie aus England sind«, sagte der andere befriedigt. »Ich habe England immer gemocht. London?«

»Etwas außerhalb«, sagte Nigel Harris. »Bray. Nicht weit von Maidenhead.« Er versuchte sich ein Bild von dem andern zu machen. Mitte fünfzig, vermutete er – obwohl Menschen, denen die Haare ausgingen, schwer zu schätzen waren. Wahrscheinlich Geschäftsmann. Er trug eine Krawatte. Trotzdem war etwas an dieser Person ...

»Harold Robbins«, stellte sich der Fremde vor. Wenn er lachte, schob er sein ganzes Gebiß nach vorn – gleichmäßig und weiß, sicher kein Loch – und veränderte sein Gesicht zu einer Karikatur von Kirk Douglas.

»Nigel Harris.«

»Geschäfte?«

»Gewissermaßen.«

Harold Robbins seufzte. »Ihr in England habt Sinn für Traditionen«, sagte er. »Hier wird bald alles zum Teufel gehen.«

Robbins bestellte zwei neue Drinks – Gin für sich, Whisky für Nigel Harris.

Er sei Zahnarzt, erzählte er. Mit Praxis in SoHo.

Sie redeten über den Vietnamkrieg, der nun endlich zu Ende ging. Sie redeten über den Verkehr in New York, der nur immer schlimmer wurde. Sie redeten über moralische Normen und ob ein Leben nach dem Tod möglich sei. Robbins war nämlich Witwer, seit sieben Jahren.

»Seit sieben Jahren!« sagte er trübsinnig.

Sie hieß Betty. Beide waren sie in Brooklyn aufgewachsen. Drei Parallelstraßen voneinander entfernt, aber ohne sich zu begegnen, ohne sich später erinnern zu können, einander gesehen zu haben.

»Die Welt ist sonderbar«, sagte Robbins.

Erst viele Jahre später auf einem Kongreß für Zahnärzte in Cleveland waren sie sich begegnet. Betty hatte eine feste Beziehung mit einem seiner alten Klassenkameraden.

»Doch bei uns war es Liebe auf den ersten Blick«, sagte Robbins. »Noch ehe der Abend um war, hatte ich sie auf dem Stuhl.«

Eine Woche später waren sie verheiratet.

Und die Zeit verging.

Fünfzehn glückliche Jahre, wie Robbins versicherte.

Bis er sie eines Morgens fand.

Tot. Im Sprechzimmer.

Der Bohrer auf größter Geschwindigkeit und das Gehirn über die Patientenkartei verteilt.

Harold Robbins seufzte. »Das ist wohl ein Fingerzeig gewesen«, sagte er düster.

Nigel Harris klopfte ihm verlegen auf die Schulter.

»Danke«, sagte Robbins und legte die Stirn auf die Tischkante. »Aber das ist jetzt vorbei. Es tut nicht mehr weh.« Und ohne aufzuschauen: »Heute – am 24. März – war unser Hochzeitstag. Wir kamen gewöhnlich immer ins Monks Court, wenn wir etwas feiern wollten ... Du hättest ihre Backenzähne sehen sollen. Ich werde nie mehr eine Frau mit solchen Backenzähnen finden. Sie waren einmalig!« Robbins hob den Kopf und starrte in den Kamin. »Sie waren wie die Klippen von Dover!« Er wandte sich Nigel Harris zu. »In vier Jahren hätten wir silberne Hochzeit gefeiert.« Seine Stimme zitterte. »Und was habe ich statt dessen bekommen? Eine kleine, naseweise Göre, die mich wie Luft behandelt – nein wie Auspuffgas –, und an ihren Augen sehe ich, daß alles, was ich mache, reaktionäre Scheiße ist und meinen chauvi-haften Wechseljahren entspringt!«

»Töchter können ziemlich unbarmherzig sein«, nickte Nigel Harris.

»Töchter? Wer zum Teufel spricht hier von Töchtern? Ich spreche von Hazel – meiner neuen Sprechstundenhilfe!«

»Ach so.«

»Bei Betty wußte ich immer, wie ich dran war«, sagte Robbins. »Sie machte alles, was ich von ihr verlangte. Ohne zu fragen. Nie gab es Streit. Hazel dagegen ...« Er verdrehte die Augen nach oben.

»Aber warum behalten Sie sie?«

»Die Patienten mögen sie«, sagte Robbins schwermütig.

»Sie sieht gut aus. Sie ist ein getünchtes Grab, genau das ist sie. Betty zum Beispiel ... Betty mischte sich nie in Dinge ein, die sie nichts angingen. Und was sie nicht alles schaffte! Eine volle Stelle bei mir. Ich brauchte keine andere Hilfe, solange Betty lebte. Und trotzdem war das Haus immer wie geschleckt!«

»Aber Arbeitskräfte gibt es im Überfluß. Es kann doch nicht so schwierig sein, eine andere Sprechstundenhilfe zu bekommen? Eine, die mindestens ebensogut aussieht wie –«

»Hazel kündigen?!« rief Robbins erschrocken. »Sind Sie verrückt? Die Freude gönne ich ihr nicht!«

»Wenn sie aber so unmöglich ist, wie Sie sagen ...«

»Passen Sie mal auf«, sagte Robbins. »Wir wollen mal langsam machen. Arbeitskräfte gibt es im Überfluß. Stimmt. Man reißt sich also um jeden Job. Stimmt. Die Zahl der Arbeitslosen steigt von Tag zu Tag. Weiß der Himmel, wie das enden soll. Stimmt. Demnach könnte ich ohne weiteres einen Ersatz für sie finden. Und die Arbeitsbedingungen in meinem Sinne festlegen. Stimmt. Und von sich aus würde sie es nie wagen, aufzuhören. Nicht, solange der Arbeitsmarkt so ist wie er ist. Egal wie sehr ihr mein Gesicht stinkt.«

»Aber –«

»Achtung«, sagte Robbins, »denn jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wenn ich sie feuere, heißt das nichts anderes als zugeben, daß ich verloren habe. Daß ich ihrer nicht Herr geworden bin. Daß sie die Stärkere war. Daß ich keinen anderen Ausweg wußte. Nein ... nicht sie kündigen, sie zähmen! Sie unterwerfen. Sie züchtigen. Sie brechen ... Zweimal habe ich um ihre Hand angehalten. Ich! Ich habe zweimal um ihre Hand angehalten. Um die Hand dieser verdammten Göre. Ich könnte ihr Vater sein! Und wissen Sie, was sie tat?«

»Ein Prost auf Hazel«, sagte Nigel Harris.

»Sie hat mich ausgelacht«, sagte Robbins verbittert.

»Trotzdem ein Prost auf sie.«

»Prost und zum Teufel mit ihr«, sagte Robbins und wischte sich den Schweiß ab.

Hazel fror.

Es war dunkel geworden, und es ging ein feuchtkalter Wind.

In den umliegenden Gebäuden flammten mehr und mehr Lichter auf. Unmerklich veränderte Manhattan sein Gesicht. Graue Fassaden legten sich ein Reklame- und Souvenirlächeln zu, hüllten sich in ein glitzerndes Postkartengewand. Die Fenster bildeten unregelmäßige Lichtmuster auf den dunklen Silhouetten und ließen die Wolkenkratzer wie riesige Lochkarten aussehen.

Doch Felix Bartholdy verließ seinen Platz nicht.

Obwohl es bald unmöglich für ihn war, die Zahlen, die er schrieb, zu lesen.

»Du kannst hier nicht länger sitzen bleiben«, sagte Hazel sanft. »Du wirst krank. Es ist zu kalt, um hier oben zu sitzen. Es ist nach neun – schon fast zehn.«

Felix gab keine Antwort.

Es dauerte lange, bis er etwas sagte. Und hatte er endlich den Mund aufgemacht, verstand man in der Regel nicht, was er meinte.

Sie gab trotzdem nicht auf.

»Morgen können wir wieder raufgehen«, sagte sie. »Und dann kannst du weiterzählen. Aber jetzt mußt du dich ein wenig ausruhen. Komm.« Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. »Mein Junge«, flüsterte sie, »versteh doch, du kannst nicht länger hier Sitzenbleiben. Das ist lebensgefährlich. Du hast ja auch nichts an ...«

Warum empfinde ich eine solche Zärtlichkeit für ihn? dachte sie. Für einen Fremden ... für einen Menschen, den ich noch nie gesehen habe und mit dem mich eigentlich nichts verbindet ... Wäre sein Name nicht auf der Brieftasche gestanden, würde sie nicht einmal wissen, wie er hieß ... Felix Bartholdy ... Sie hatte seine Taschen durchsucht: Ein Schlüsselbund mit drei Schlüsseln, eine Schachtel Kopfwehtabletten, eine Packung Zigaretten (grüne Dunhill) und Zündhölzer. In der Brieftasche: 240 Dollar, eine Quittung der Buchhandlung Brentano und ein zerknülltes Foto von ihm zusammen mit einer jungen, blonden Frau (ziemlich gutaussehend) und einem älteren Mann mit Kaiser Josephs-Bart. Das Bild war auf einem Badestrand aufgenommen und schien vier bis fünf Jahre alt zu sein.

Das war alles.

Keine Adresse. Nichts, was auf seinen Beruf oder seine Beschäftigung hinwies.

Er hatte keinen Ring – das hatte sie als erstes festgestellt –, ohne daß das irgend etwas bedeuten mußte.

Es war schwer zu sagen, wie alt er war. Ende dreißig, Anfang vierzig? Er war groß und hager, das Gesicht asketisch: Gerade Nase, schmale Lippen, buschige, zusammengewachsene Augenbrauen. Der drei Tage alte Stoppelbart ließ seine Haut grau und kränklich erscheinen. Alles an ihm wirkte apathisch und gleichgültig. Alles mit Ausnahme der Augen ... die Augen waren dunkel. Glühten tief drinnen wie Kohlestückchen.

Ist es, weil er so hilflos erscheint? dachte sie. Ist es deshalb? Ist es, weil er wie ein schutzloses Kind aussieht? Sind es meine Muttergefühle, in die ich mich verliebt habe? Kultiviere ich meine eigene Zärtlichkeit? Eine Zärtlichkeit, deren Existenz ich vergessen hatte ...

Hazel wickelte ihn fester in die Decke.

Er dankte ihr nicht. Schaute nicht einmal auf. Zählte einfach weiter. Schweigend. Riß kleine Fetzen von der gestrigen New York Times – der Sonntagsausgabe. Schrieb seine Zahlen. Sie hob einen der Zettel auf ... 260 415 ... Seine Zweier waren schön. Sie waren ihr schon aufgefallen. Wie Schwäne.

»Ich werde dich nicht länger stören«, sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. »Und ich werde dich nicht zwingen, aufzuhören ... Ich gehe hinunter und hole noch Decken für dich. Dann frierst du jedenfalls nicht.«

260 430 schrieb Felix. 260 431 – 32 – 33 ...

Wie weit er wohl kommen wollte? fragte sich Hazel. Hat er ein Ziel? Eine magische Zahl ... eine ferne Glückszahl? Und warum eilte es so?

Leise richtete sie sich auf und ging zur Speichertreppe.

Felix Bartholdy trieb weiterhin Wörter und Sätze aus seinem Kopf. Trieb die Buchstaben wie Schafe und Kälber vor sich her, sammelte sie in großen Herden.

Es dauert jetzt nicht mehr lange, sagte er zu sich.

Er spürte, wie der Kopf leichter und leichter wurde.

Er spürte, wie die Leere zunahm.

Klare, kühle, wohltuende Leere.

Ruhe.

Der Abstand zwischen den Wörtern wurde immer größer.

Sie waren nicht mehr so leicht zu erspähen. Einige von ihnen versuchten sich aus dem Staub zu machen. Versuchten sich zu verstecken. Aber die Zahlen waren gnadenlos. Felix ließ sie Ketten bilden. Ließ sie jeden Stein umdrehen. Verlangte, das Gelände zu durchkämmen. Kein Buchstabe darf entwischen! rief er ihnen zu. Hört ihr, kein einziger Buchstabe!

Und was ist mit den Zeichen? fragte 260 504. Was mit Punkten, Kommas und Gedankenstrichen?

Sie auch! sagte Felix Bartholdy. Weg damit! Zeigt keine Gnade!

Aber sie sind doch gewissermaßen Verwandte ..., sagte 260 511.

Weg damit! schrie Felix Bartholdy und hielt sich die Ohren zu. Hört ihr!

Ein Zitat! kreischte plötzlich das kleine Einmaleins.

Wir haben ein Zitat entdeckt!

Gratuliere, sagte 3,14. Wir dachten, es gäbe keine Zitate mehr.

Das dachten wir auch, sagte das kleine Einmaleins, aber hier ist eines!

Das ist dann hoffentlich das letzte? sagte Felix Bartholdy.

Absolut, sagte das kleine Einmaleins.

Das können wir beschwören, sagte die Quadratwurzel aus 11 780. Danach herrscht nur noch eine weite Leere. Zahlen und eine weite Leere.

Entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß das letzte Überbleibsel ... daß das letzte, was wir austreiben, ein Zitat ist und kein eigener Gedanke, sagte Felix Bartholdy. Ich dachte, Zitate würden zuerst verschwinden. Ich gehe davon aus, daß es sich um ein bekanntes Zitat handelt ...

Bin ich nicht in der Lage zu beurteilen, sagte das kleine Einmaleins. Ich kann nicht lesen. Für mich sehen alle Buchstaben gleich aus.

Laß mich, sagte 260 619 und machte sich an den ersten Hauptsatz.

Nein, laß es selber reden, sagte 260 620 und versetzte dem Zitat einen Tritt. Wer bist du? Heraus mit der Sprache! Wer hat dich geschickt?

Georg Büchner, sagte das Zitat jammernd.

Georg Büchner? sagte Felix Bartholdy verwundert. Den habe ich ja fast nie gelesen.

Aus der Novelle »Lenz«, stöhnte das Zitat. Aber meine Lieben ... seid ein bißchen rücksichtsvoll, denkt daran, ich bin 140 Jahre alt.

Wir machen da keine Unterschiede! sagte 260 635 hart. Wenn du schon so unverschämt bist, dich im Kopf von Menschen festzusetzen, bist du auch für die Konsequenzen verantwortlich. Heraus mit dem, was du zu sagen hast! Mach schon!

»Er ging gleichgültig weiter«, sagte das Zitat mit zittriger Altmännerstimme, »es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« Die Wörter verblaßten, sobald sie ausgesprochen waren. Vergilbten und waren weg. Und bei »Kopf« fiel Felix Bartholdy in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!

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