Читать книгу Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd - Страница 7

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Fay Hideway hatte keinen Silikonbusen. Das sah nur so aus. Und wenn sie einen gehabt hätte? You have only one life to live, why not live ist as a blonde? Oder: Alle haben gefüllte Zähne. Ist ein gefüllter Busen etwa unnatürlicher? »Natürlich nicht«, sagten zwei von Fays Freundinnen, die mitten in einer zwölfmonatigen Kur mit acht »Schußserien« waren und nebenbei jobben mußten (steuerfrei), um die Arztrechnung bezahlen zu können.

»So ein Schwachsinn!« sagte Fay.

»Du hast leicht reden«, meinten die beiden Freundinnen. Und so war es leider. Für Frauen ohne Fays Vorzüge, für die Heerschar der Flachbrüstigen, für Tausende von amerikanischen Vogelbrüsten stellte Silikon eine verlockende Versprechung dar und die Hoffnung auf einen sexuellen Jackpot.

(Flüssiges Silikon wird in die Muskeln und ins Gewebe um den Busen gespritzt. Dadurch vergrößert sich der Busen und wird hart und fest. Die Wirkung läßt mit der Zeit nach und neue Injektionen werden nötig. Was mit dieser fremden Flüssigkeit eigentlich passiert, weiß niemand, und niemand ist bislang daran interessiert, das herauszufinden. Der größte Teil bleibt dort, wo er sinnvollerweise bleiben soll. Das wird bald sehr deutlich. Aber einiges fließt weiter, wandert in den Körper – wie kleine Seen – verschwindet anscheinend, besteht aber aus Stoffen, die nie abgebaut werden können. Allein in Los Angeles gibt es über hundert Ärzte, die dieses Geschäft betreiben. Die eigentlich nichts anderes tun. Die ihre Ausbildung und ihre Zeit dazu benützen, flache Busen aufzupumpen. Und die daran unverschämt gut verdienen.)

Die meisten sind Hausfrauen. Viele nehmen aber auch ihre Töchter mit – kleine, pickelige Teenager, die nicht schnell genug reif werden ...

Auch Vera war in Versuchung, wie Fay wußte. Die kleine, zarte Vera Farrow. Fay lächelte. Vera hätte es nötig. Sie hätte so manches nötig. Die kleine, graue Büchermaus mit glänzenden Knopfaugen ... Vera war sechs Jahre älter. Trotzdem fühlte sich Fay manchmal wie eine große Schwester. Vera wußte mehr, konnte mehr – daran lag es nicht –, aber trotzdem ... Sie erinnerte sich gut an den Abend, an dem Vera nach Hause kam und von Silikon zu reden anfing. Fay hatte geknurrt. Vera hatte geheult. Vera war damals in irgend einen Freddy verliebt. »Dann machst du es wegen Freddy? Glaubst du, er würde eines Tages hergehen und sich seinen Schwengel um deinetwillen operieren lassen? Glaubst du, er würde eines Tages hergehen und sich seinen Unterleib düngen lassen, damit sein Ding steifer, länger und dicker wird? Den Teufel wird er tun! Ich kenne die Typen!«

Danach hatten sie eine Woche lang nicht mehr miteinander geredet.

Fay Hideway war 22 Jahre und arbeitete als Zimmermädchen in einem zweitklassigen Hotel nicht weit vom Times Square. Die Gäste waren überwiegend japanische Geschäftsleute – Kameras und Stereogeräte. Manchmal wurde sie nach der Arbeit von ihnen eingeladen. Wenn sie nichts anderes vorhatte, sagte sie zu. Genauso wie die anderen Mädchen im Hotel. Im Moment war sie mit keinem Bestimmten zusammen. Deshalb hatte sie Zeit genug. Haufenweise Zeit. Sie hatte einmal davon geträumt, Schauspielerin zu werden. Aber das war lange her. Über ein Jahr. Sie war in einem Amateurtheater gewesen, das sonntags im Central Park auftrat – und sowohl Hazel wie Vera hatten treu und brav jedesmal zugeschaut. Jede Vorstellung wurde damit eröffnet, daß Fay – mit entblößtem Oberkörper, aber unkenntlich als Clown geschminkt – gesungen hatte. Vor allem, um die Leute anzulocken. Um Aufmerksamkeit zu erregen. Beabsichtigt war, daß sie so lange sang, bis mindestens dreißig Leute (egal welchen Alters) versammelt waren. Und es war jedesmal derselbe Song:

That don’t worry me

That don’t worry me

You may say that I ain’t free, but

That don’t worry me

That don’t worry me

That don’t worry me

You may say that I ain’t free, but

That don’t worry me

Und Fay hatte die Augen geschlossen, war wiegend vor- und zurückgegangen und hatte mit heiserer, verschleierter Stimme leicht falsch gesungen ...

That don’t worry me

That don’t worry me

Aber dann hatten sie und Matt Schluß gemacht ...

Sie litt keinen Mangel an männlichen Freunden. Das war nicht das Problem. Aber so wie mit Matt würde es nie wieder werden. Sie erinnerte sich an einen ihrer letzten gemeinsamen Abende. Sie standen auf der Spitze des Empire State Buildings und starrten nach Süden zu den Lichtern der Wall Street – deuteten hinüber zu Marine Midland, Chase Manhattan, Woolworth, The Flatiron, The Toy Center. Plötzlich wurde Matt ernst. »Weißt du ...«, sagte er. »Jedesmal, wenn wir hier oben sind, denke ich an eine andere Fay. Erinnerst du dich? Fay Wray?«

»Die Filmschauspielerin?«

»Genau.«

»Was ist mit ihr?«

»Erinnerst du dich an King Kong?«

Fay nickte und schmiegte sich enger an ihn. Matt zündete sich eine Zigarette an. Das pflegte er immer zu tun, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte. Seine Augen fixierten das World Trade Center.

»Das ist im Grunde der schönste Liebesfilm, den ich je gesehen habe«, fuhr er fort. »Die Schöne und das Ungeheuer ...«

»Ich weiß nur noch, daß ich Angst hatte. Aber es ist lange her ...«

»Amor und Psyche ...«

»War dieser King Kong nicht ein gefährliches Monster?«

»Er ist ein Riesengorilla von der Größe eines Krans. Er herrschte über Skull Island – eine vergessene Insel, auf der die Entwicklung stehengeblieben war, wo Flugeulen und Dinosaurier der Vorzeit noch ein Refugium hatten. Dorthin kommt ein Filmteam, um einen billigen Gangsterfilm zu drehen. Zu ihnen gehörte Fay Wray – blaß und schön, zerbrechlich wie ein Porzellanpüppchen. Sie wird von den Eingeborenen gefangen, um King Kong geopfert zu werden. Und King Kong nimmt das Opfer an, aber nicht so, wie man erwartet hatte – er verliebt sich in sie.«

»Verliebt sich in sie?«

»Er hebt sie behutsam hoch, balanciert sie auf seiner Handfläche ... benimmt sich wie ein verliebter Teenager.« Matt streichelte sie mit der Hand im Nacken. »Eine ziemlich hoffnungslose Liebe –«

»Und sie?«

»Weicht zurück. Schreit. Begreift nicht.«

»Ich weiß nur noch, daß sie ihn fingen und mitnahmen nach New York.«

»Sie fingen ihn. Setzten Gasbomben ein. Legten ihn in Ketten. Demütigten und mißhandelten ihn. Zeigten ihn gegen Bezahlung. Sein einziger Trost war, daß er ab und zu seine geliebte Fay zu sehen bekam ...«

»In deiner Erinnerung ist der Film völlig anders als in meiner. Ich weiß nur, daß er ein Monster war. Und daß er entkam – war es nicht so? Und daß er beinahe ganz New York kaputtgeschlagen hätte!«

»Um sie zu beschützen. Alles, was er tut, tut er aus Liebe zu ihr. Ein Fotograf knipst mit Blitz. Kong versteht es falsch. Er denkt, Fay ist in Gefahr. Mit lautem Gebrüll sprengt er seine Fesseln und zertrümmert seinen Käfig ... Dann wütet er wie ein Berserker. Nie hat ein Geschöpf so leidenschaftlich und verzweifelt für seine Liebe gekämpft.«

»Und dann kommt doch die Szene auf der Spitze des Empire State Buildings. Mit all den Flugzeugen.«

»Kong war bis zur Spitze geklettert. Er glaubt, endlich einen sicheren Platz für Fay gefunden zu haben. Er ist verrückt vor Angst um sie. Doch die Air Force setzt ganze Schwärme von Sturzflugzeugen gegen ihn ein. Kong setzte sich zur Wehr, wird aber verletzt, von tausend Schüssen getroffen. Er weiß, daß er fertig ist. Aber mit letzter Kraft ... unendlich behutsam als wäre es ein verletztes Vogeljunges, legt er Fay geschützt vor den Angreifern auf einen Absatz, außerhalb der Reichweite der Schüsse. (Sie war wie üblich ohnmächtig geworden.) Und kämpft weiter. Bis in den Tod ...« Matt beugte sich nach vorne bis zur Kante und starrte hinunter, hob dann wieder den Blick und schaute nach Süden – Richtung Down Town und Wall Street. »Ich weiß noch, wie ich geheult habe, als er fiel. Als er wie ein behaarter, blutender Engel tief hinunter auf die Straße stürzte.«

»Engel!?«

»Er war unschuldig wie ein Kind. Stolz. Edel. Was waren gegen ihn all die menschlichen Freunde und Freier von Fay Wray? Dreck! Mit diesem Eindruck saß man am Ende des Films im Kinosaal. Gemeine und dreckige Schweine, die nur an Geld dachten. Betrügerisch und gierig. Und für die entschied sie sich! Ich weiß noch, daß ich vor Wut heulte. Ich war so verbittert, daß ich heulte!«

»Aber Matt! Mir scheint, du weinst jetzt auch!«

Eine Woche später war es aus zwischen ihnen.

Sie wußte nicht, wohin er verschwunden war. Vermutlich in westliche Richtung. Er hatte viel von Dakota erzählt. Seine Eltern bewirtschafteten dort angeblich eine Farm.

Und danach war es sinnlos geworden, im Central Park noch weiterzumachen. Matt war die treibende Kraft der Gruppe gewesen. Ohne ihn zerfiel alles.

Warum mußte sie an diesem Abend an Matt denken? Ein Jahr danach? Am Montag, den 24. März 1975. In einem Taxi. Auf dem Weg zu einer Übertragung eines Boxkampfes Ali gegen Wepner? Zusammen mit zwei japanischen Verkäufern von Stereogeräten aus Kyoto.

»Na, na ...«, sagte Harold Robbins (unser alter Freund, der Zahnarzt). »Nun übertreib mal nicht.«

»Ich übertreibe nicht!« sagte Nigel Harris.

Beide waren sie ganz schön betrunken.

Arm in Arm wanderten sie hinüber in die 51. Straße.

»Du willst mir doch nicht erzählen, daß es dir egal ist, ob die Leute verstehen, was du schreibst? Das ist doch eine ziemlich verrückte Haltung!«

»Daran ist eigentlich nichts auszusetzen«, sagte Nigel Harris würdevoll, »abgesehen davon, daß du daran herumdeuteln mußt. In Wahrheit aber – und wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen – ist das die einzig anständige Haltung, die ein Autor haben kann!«

»Es gibt etwas, das heißt, sein Publikum einschätzen«, sagte Harold Robbins und hielt ein Taxi an. »Du mußt wissen, an wen du dich wendest.«

»Ach so!« sagte Nigel Harris. »Darauf willst du hinaus?«

»Sonst kannst du genausogut deine Schnauze halten!« Harold Robbins beugte sich durchs Autofenster zum Fahrer und gab ihm eine Adresse.

»Weißt du, was du bist?« Nigel Harris legte Harold Robbins die Hand auf die Schulter, drehte ihn langsam herum.

»Jetzt habe ich die Adresse«, sagte der Taxifahrer. »Gut und schön. Nur noch eine Frage: Soll ich allein dorthin fahren. Oder gedenkt ihr mitzukommen?«

Allein.

Zusammen.

Allein.

Zusammen.

Vera hatte neben ihm geschlafen.

Virolainen lag mit den Händen unter dem Kopf da und starrte an die Decke. Wie lange wird das gehen? dachte er. Und gleichzeitig: Oh Gott, wenn es doch immer so wäre!

Er hörte ihre ruhigen Atemzüge neben sich: Allein ... zusammen ... allein ... zusammen ... Er sah, daß sie lächelte. Sogar im Schlaf lächelte sie. Er strich ihr behutsam über die Wange. Es war eine wilde, ausgelassene ... Unschuld in ihrer Beziehung. Als gäbe es nichts Böses auf der Welt. Als wäre alles nur Lachen und Freude. Als wäre das einzig Bedeutsame, sich nahe zu sein, ganz, ganz nahe. Er konnte gar nicht dicht genug bei ihr sein. Er konnte nie nahe genug sein. Nicht einmal, wenn sie miteinander schliefen. Nicht einmal, wenn er sich wie ein Wasserfall in sie ergoß. Er wollte immer tiefer, tiefer, weiter hinein, er wollte –

Er dachte an sie, die zu Hause wartete.

Noch war es lang bis Juni.

Trotzdem.

»Allein«, klopfte sein Herz. »Allein – zusammen – allein – zusammen – allein ...«

Die Idee stammte von Harold Robbins. Nigel Harris pflegte sich keine Boxkämpfe anzuschauen. »Wepner hat keine Chance«, hatte Robbins gesagt. »Ali wird ihn erschlagen.« Der Gedanke bereitete ihm offensichtliches Vergnügen.

Der Kampf fand eigentlich in Cleveland statt. Und keine Fernsehstation war bereit, Sendezeit zur Verfügung zu stellen. Doch in einigen Kinos von New York gab es direkte – sogenannte »geschlossene« – Übertragungen. Mit astronomischen Eintrittspreisen.

»Um ganz ehrlich zu sein, ich begreife nicht, warum ich das hier mitmache«, sagte Nigel Harris.

Das Foyer war brechend voll mit Menschen, mit Erwartung, Lachen, Rauch und lauten Stimmen. Endlich waren sie bis zum Schalter für die Eintrittskarten vorgedrungen. Das Kino lag am nördlichen Ende des Broadway – genau auf der Grenze zu Harlem. Draußen hatte ein Nieselregen eingesetzt.

»Es tut dir gut, etwas anderes zu erleben als deine verdammte schöngeistige Kultur«, sagte Robbins. So etwas mögen die Leute. Mach Augen und Ohren auf – und lerne. Dann kommt vielleicht ein bißchen Schwung hinein in das, was du schreibst!«

Nigel hatte keine Lust zu antworten. Robbins war mit jedem Drink selbstsicherer geworden. Selbstsicher und väterlich allwissend und unangenehm beschützend. Ich bin besoffen, sagte sich Nigel Harris. Daran liegt es.

Sie gingen in den Saal. Hatten Glück und fanden zwei Plätze nebeneinander. Der Hauptkampf hatte noch nicht begonnen. Die zwei Körper, die aufeinander einschlugen, gehörten Ken Norton und Jarry Quarry, erklärte Robbins. Nigel machte sich nicht die Mühe, zu fragen, wer nun wer sei. Ihn beschäftigte mehr die Übertragung selbst. Die Bilder auf der Leinwand waren grobkörnig und in glitzernden Farben, das ganze wirkte wie ein Amateurfilm, den man auf eine Weise vergrößert hatte, daß jeder Fehler und jede Schwäche sichtbar wurde – als würde jemand eine riesige Lupe vor einen schlecht eingestellten Farbfernseher halten.

Manchmal erschien ihm das Ganze unwirklich. Als ob es nicht geschehen würde. Jedenfalls nicht mit ihm. Als hätte er sich verirrt und wäre als Schauspieler in einem alten, melodramatischen Film gelandet. Als fehlten nur noch 100 in den Ohren klingende Geigen.

Virolainen lächelte. »Wenn das ein amerikanischer Film wäre, hätte ich geschwitzt«, sagte er laut.

Vera erwachte und legte schläfrig eine Hand auf seine Brust. »Hast du geschwitzt?«

»Nein, ich zitiere Roland Barthes.«

»Was hat der damit zu tun?«

»Er schreibt einmal über Filmklischees und stellt dabei fest, daß Schwitzen in amerikanischen Filmen ein Symbol ist, ein Zeichen, daß man denkt. Jeder, der mit Problemen kämpft, der grübelt oder unter der Qual der Wahl leidet, schwitzt. Ein solcher Mensch tropft förmlich.«

Vera strich verschlafen mit der Hand über seine Hüften. »Vaselin«, sagte sie. »Das ist alles nur Vaselin!«

Virolainen drehte sich um und küßte sie. »Schwitzen ist denken«, sagte er. »Es steckt eine Evidenz in dem Postulat – charakteristisch für eine Nation von Geschäftsleuten – denken als gewaltsame, katastrophale Operation, mit Schwitzen als einem eher gutartigen Symptom.«

»Aber du schwitzt nicht«, sagte Vera und biß ihm ins Ohr.

»Also denkst du nicht!«

Quarry war zu Boden gegangen und mußte vom Arzt zusammengeflickt werden. Das Publikum war auf seine Kosten gekommen.

Der Hauptkampf hatte eben angefangen.

Muhammad Ali gegen Chuck Wepner.

Eine elegante schwarze Katze auf tanzenden Hinterbeinen und mit verspielten Pfoten – eine fette, weiße Bulldogge, die schwerfällig reagiert, mit leerem Blick und strähnigem Haar, doch mit einer Haltung, die ausdrückt: Ich vertrage Prügel. Ich habe schon öfter Prügel bezogen. Schlag ruhig zu. Ich vertrage mehr, als du denkst.

Ali mußte zum ersten Mal wieder den Titel verteidigen – nachdem er ihn in Zaire gewonnen hatte – und das Publikum verfolgte jede seiner Bewegungen. Wepner wurde als ein zu leichter Gegner betrachtet. Niemand rechnete mit einem Ende des Kampfes nach fünfzehn Runden. Ali würde kurzen Prozeß machen und die meisten tippten auf drei bis vier Runden. Deshalb galt es, alles mitzukriegen. Die Eintrittskarten waren teuer und man konnte sich nicht leisten, die Zeit mit Popcorn essen zu vertun.

Nigel Harris versuchte, Chuck Wepners Gedanken zu lesen. Er wirkte alt. Alt und verbraucht. Doch bis jetzt hatte er sich gut gehalten. Er sagte sich: Ich weiß, daß er besser ist. Ich weiß, daß ich fertig bin. Ich weiß, daß ich nie hätte antreten dürfen. Die Ärzte haben mich gewarnt. Aber ich brauche das Geld. Ich weiß genau, daß es ein lausiger Vertrag ist. Mit dem man mich demütigen will. Er bekommt 1,5 Millionen Dollar, ich nur hunderttausend. Doch für mich ist das viel. Für uns ist es viel Geld. Sie sitzt da unten ... Und das ist mein letzter Kampf.

»Er ist berüchtigt wegen seiner üblen Tricks, er boxt nicht sauber«, flüsterte Robbins. »Hoffentlich nimmt sich Ali vor seinen Nackenschlägen in acht. Wepner ist bekannt für rabbit punching. So einer wie Wepner hat noch nie etwas von fair play gehört. Er ist einfach ein Gangster. Abschaum aus den Slums. Hätte genausogut im Knast wie im Boxring landen können.«

»Ich wünsche ihm alles Gute«, murmelte Nigel Harris.

»Was zum Teufel quasselst du da?«

»Ich habe gesagt: Ich bin ein Schriftsteller und scheiße drauf, ob die Leute kapieren, was ich meine«, sagte Nigel Harris. »Darüber haben wir uns doch unterhalten, oder?«

Das ist vielleicht meine letzte Chance, die ich bekomme, dachte Virolainen. Ich habe die Chance abzuspringen. Um neu anzufangen. Um ein anderer zu werden. Zusammen mit einer anderen. Falls es das ist, was ich will? Falls es das ist, was ich will. Ich bin 35.

»Du hältst nicht zu Wepner?« Harold Robbins lehnte sich schwer gegen ihn.

Muß ich wählen? dachte Virolainen. Muß ich? Warum muß ich das eigentlich? Kann man nicht auch zwei Menschen auf einmal lieben? Kann man nicht zwei Frauen so sehr lieben, daß man keine von beiden missen möchte? Wählen? Handelt es sich bei den beiden nicht eher um unvergleichbare Größen? Was magst du lieber: Beethoven oder Picasso? Wen magst du lieber: Shakespeare oder Michelangelo? Unvergleichbare Größen! Wesen, von denen jedes sein eigenes, souveränes Universum besitzt. Was magst du lieber: Whisky oder Steak? Und wenn er trotzdem wählen mußte? Denn das blieb ihm wahrscheinlich nicht erspart ...

Ali ging zu Boden.

Ist er nur gestolpert?

Der Saal erhob sich und schrie.

Harold Robbins schrie auch.

Doch Ali war schnell wieder auf den Beinen. »Schlag ihn tot, Ali!« rief das Kinopublikum in New York. »Kill him!«

»Kill him!« schallte es im Takt von der großen, flimmernden Leinwand.

Außerdem sind da die Kinder ...

»Nein«, sagte Nigel Harris. »Eigentlich halte ich zu keinem der beiden.« Aber uns ergeht es schlecht, wenn Ali verliert, dachte er im stillen. 95% des Publikums sind Schwarze. Und das hier ist ein Rassenkampf, soviel habe ich längst kapiert, obwohl ich besoffen bin. Ali und Wepner sind nur Repräsentanten. Verliert Ali, kriegen wir im günstigsten Fall eine über den Schädel. »So ist das, du alter Affe«, sagte er laut. »Du verdammter Zahndoktor!«

Oder war er einfach feige? Fürchtete er sich vor dem Krach, vor all den Unannehmlichkeiten, die daraus entstehen würden ... War er zu feige, sich zu trennen? Steckte das dahinter? Waren alles andere nur Entschuldigungen? Eine Scheidung läuft nie friedlich ab. Da können die Leute sagen, was sie wollen, dachte er. Einfach ist das nie. Wird in der Regel ein gewaltiger Aufstand. Freunde und Familie von beiden Seiten. Aber am schlimmsten: es ihr sagen. Sie vertraute ihm. Liebte ihn. Sie hatten drei Kinder zusammen. Sie hatten vielleicht nicht mehr denselben Kontakt wie früher – jedenfalls was das Physische anging – doch wer hat das schon nach einer längeren Ehe? Und wie sollte er es sagen? Wie sollte er es herausbringen?

»Das Ganze ist eine Frage der Kommunikation«, sagte Nigel Harris. »Hör zu, du verdammter Zahndoktor. Lausche der persönlichen Zeugenaussage und den wackligen Literaturtheorien eines mißglückten Schriftstellers.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Robbins.

Natürlich hatte er nicht die geringste Lust, zuzuhören.

Und natürlich spielte es kaum eine Rolle, was er tat oder nicht tat. Hauptsache, Nigel Harris bekam Gelegenheit, sich aus dem Systemkorsett zu befreien und sich reinzuwaschen – denn er hatte lange darüber nachgedacht, aber eigentlich nie den Versuch gemacht, es zu formulieren. Und er sagte folgendes:

»Viele glauben offenbar, alles sei quantitativ erfaßbar. Das ist eine Haltung, die man aus dem Bethaus geholt und übernommen hat. Eine Versammlung ist demnach nur dann gut, wenn viele im Saal sind. Und es ist eine schlechte Versammlung, wenn nur wenige erscheinen. Die Versammlung wird also danach beurteilt, wieviele Zuhörer anwesend sind und nicht danach, welche Wirkung bei den Versammelten erzielt wird. Auf Bücher übertragen, heißt das nichts anderes, als daß Bestseller automatisch die wertvollere Literatur repräsentieren, daß also der Amerikaner Chic Young konkurrenzlos der bedeutendste Schriftsteller der Welt ist. Chic Young macht die Comic-Serie Blondie, die täglich von 167 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gelesen wird ...

Ein Buch wird aber nicht besser davon, weil es mehr Leute lesen.

Als ich zu schreiben anfing, lag mir sehr viel daran, daß die Leute verstanden, was ich schrieb, es nicht mißverständlich war und daß ich mich deutlich ausdrückte usw. Ich wollte, daß so viele wie möglich, am besten alle, verstanden, was ich schrieb.

Solche Gedanken habe ich mir abgewöhnt.

Das hat nichts mit Arroganz oder Exklusivität zu tun, sondern mit einer ganz einfachen, gewöhnlichen Ehrlichkeit. Damit, daß man sich nicht verstellen will, so tun will, als sei man ein anderer, mit andern Worten: die Leute hinters Licht führt ... Betrachten wir die Sache etwas näher:

Willst du einem einzelnen Menschen eine Geschichte erzählen, ist es nicht schwer, Mißverständnisse zu vermeiden – besonders, wenn du den betreffenden kennst. Ihr seid aneinander gewöhnt, sprecht dieselbe Sprache, habt dieselben Stichworte, versteht unter denselben Stichworten dasselbe. Mußt du dieselbe Geschichte allerdings zwei Menschen gleichzeitig erzählen, ist das nicht mehr so leicht. Die zwei sind verschieden, haben verschiedene Erfahrungen. Du bist gezwungen, einen gemeinsamen Nenner zu finden, mußt Wörter wählen, die für beide dasselbe bedeuten. Bei drei oder vier Personen wird die Sache noch schwieriger, doch es geht ... Zehn, zwölf, zwanzig – okay, aber die Wörter sind nicht mehr deine. Nicht mehr du erzählst. Aber du schaffst es. Sie verstehen, was du meinst. Keine Mißverständnisse. Bei hundert wird es mühsam. Du greifst zu Klischees, benützt Phrasen. Bei tausend verzweifelst du, redest wie ein Politiker oder eine Illustrierte. Je größer die Zahl deiner Zuhörer ist, desto verwässerter und schlagwortartiger wird die von dir erzählte Geschichte. Schließlich überlegst du dir, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, die Geschichte zu erzählen.

Dieses und kein anderes Problem ist es, das jedesmal rot, gelb und grün blinkt, wenn ein Schriftsteller auf ein weißes Blatt Papier starrt. Er will etwas erzählen. Aber er weiß nicht, wieviele zuhören. Und die, an die er sich wendet, kennt er nicht. Er hat zwei Möglichkeiten – beides Extreme, alles andere ist Schwachsinn: 1) Er kann schreiben: »Mutter geht ins Büro. Vater backt Kuchen.« Jeder versteht, was er sagt. Er kann schreiben »Das Volk wird siegen. Lange lebe die Revolution. USA raus aus Lateinamerika.« Jedem ist klar, wo er steht. Das ist die Lesebuchmethode. ABC. Der Schriftsteller als Pädagoge, schmieriger Volksaufklärer und eingebildeter Narr.

Oder – und das ist meiner Meinung nach der einzig akzeptable und anständige Ausweg: 2) Er kann versuchen, die Dinge genau so auszudrücken, wie er mag, wie er selbst das Gefühl hat, daß sie ausgedrückt werden müssen, wie er meint, daß sie am härtesten und eindringlichsten sind. Und sich den teufel darum scheren, wieviele das mögen oder verstehen. In diesem Fall betrachtet er sich eher wie eine Art von Radiostation – und hofft, daß ihm jemand zuhört ... hofft, daß jemand den Apparat auf derselben Wellenlänge eingestellt hat.

Literatur ist Kommunikation. Gut und schön. Wir dürfen aber nicht die Stufe mit der Treppe verwechseln. Das Ziel ist nicht damit erreicht, daß wir Kontakt aufnehmen, uns einen Leser angeln. Im Gegenteil, damit fängt alles erst an! Und dann ist es wichtig, daß keiner der Beteiligten so tut als ob ...«

»Solche wie du bringen die Literatur um«, sagte Harold Robbins. Ihn hatte das Ganze nicht für fünf Pfennige interessiert, seine Meinung hatte er sich längst gebildet. Davon ließ er sich nicht abbringen. »Solche wie du verleiden den Leuten Bücher und gute Lektüre. Die Leute haben etwas anderes zu tun, als sich mit unverständlichem Geschwätz ohne Zusammenhang herumzuärgern!«

Es gongte zur 14. Runde.

Wepner war immer noch nicht groggy.

Und das Publikum tobte.

Virolainen dachte an Daidalos – an den, der nicht abgestürzt ist.

Ikaros kennt jeder. Kaum einen hat man so besungen, beschrieben, bemalt, bespielt, bewundert wie ihn. Doch wer hat schon von seinem Vater gehört – wer kennt schon Daidalos?

Dabei war es Daidalos, der die Flucht aus dem Labyrinth plante. Daidalos hat die Flügel konstruiert. Mit Wachs zusammengefügte Flügel ...

Und was machte Ikaros? Sein Grips reichte nicht einmal zum Lesen der Gebrauchsanweisung.

Sie flohen gemeinsam, schwangen sich wie kühne Falken in die Lüfte. Daidalos warnte den Sohn davor, zu hoch zu fliegen. Aber Ikaros vergaß alles, sobald er abgehoben hatte und die Luft unter den Flügeln spürte.

Wir können davon ausgehen, daß Daidalos ihm nachgerufen hat, doch damals gab es keine Funkverbindung – und Ikaros stieg höher und höher. Im Glücksrausch? Unsinn! Der Junge hatte Panik! Schlicht und ergreifend. Wie so viele, wenn das, was sie erträumen und ersehnen, endlich Wirklichkeit wird. Wenn das Abenteuer dem Alltag die Hand gibt.

Und Ikaros stieg so hoch, daß die Sonne das Wachs, das die Flügel zusammenhielt, schmolz. Wir wissen, wie es ausging. Er stürzte ab. Starb. Fiel in das Meer, das später nach ihm das Ikarische genannt wurde.

Und Daidalos? Ist nach ihm nichts benannt worden? Auch er flog.

Ohne daß das Wachs schmolz, ohne daß ihn die Flügel im Stich ließen. Er erreichte sein gestecktes Ziel. Siegte. Und wurde vergessen ...

Tragödien und Unglücksfälle sind immer der beste Stoff – damals wie heute.

Virolainen zauderte.

Wie Daidalos und Ikaros war auch er in einem Labyrinth gefangen. Wie sollte er den Weg hinaus finden?

Die zwei Griechen waren durch eine Öffnung im Dach geflohen ... Aber würden ihn die Flügel tragen?

Und – war er ein Daidalos ... oder ein Ikaros?

Erst in der 15. und letzten Runde gelang es Ali, Chuck Wepner fertig zu machen. 19 Sekunden vor Schluß schlug er den Herausforderer zu Boden. Wepner hing kniend in den Seilen, und das Publikum im Saal und auf der Leinwand verschmolz zu einem universalen und allumfassenden Jubel. Wie ein heidnisches Frühlingsfest, dachte Nigel Harris. Als würde Osiris von den Toten auferstehen.

Ali bleibt »king of the heavyweights« und wird um 1,5 Millionen Dollar reicher.

Der Ringrichter Tony Perez zählte rasch bis zehn und ersparte es damit der Jury, die Punkte zu addieren, sicher eine populäre Entscheidung.

Eine Million, dachte Nigel Harris, als er und Harold Robbins sich willenlos und wie nach einem Orgasmus mit dem Strom aus dem Kino schieben ließen, vorbei an ekstatischen Rufen (»He’s the greatest!«) und triumphierenden Remplern in die Seite, spöttischem Gelächter, herausfordernden Blicken und seligem Lächeln, vorbei an Menschenklumpen um eifrige Souvenirverkäufer: Bilder von Ali, Fotos von Ali, Ali-Puppen, Ali am Schlüsselbund, Ali als Glücksbringer im Auto, Ali-Fähnchen ... Eine Million, dachte Nigel Harris. Wieviel ist eigentlich eine Million? Er war einen Meter und achtzig groß. Wäre er eine Million mal so groß, würde er 1800 Kilometer in die Luft ragen. Eine Schmeißfliege ist acht Millimeter lang. Vergrößert um eine Million würde sie ein 8 Kilometer langes Ungeheuer! Die behaarten Beine würden über 100 Meter dick sein ...

»Eine Million Tage sind 2700 Jahre«, sagte Nigel Harris laut. »Das ist viel Geld. Viel Geld dafür, daß man einen Mitmenschen niederschlägt.«

Harold Robbins warf ihm einen bösen Blick zu. Er war offensichtlich knapp davor, etwas Unfreundliches zu knurren, doch auf der Unterlippe stoppte die Zunge und schlüpfte wieder hinein. Statt dessen packte er Nigel Harris am Arm. »Da«, flüsterte er. »Siehst du sie dort drüben? Die mit den zwei Japanern? Die von Yin und Yang Flankierte?«

Nigel Harris folgte Robbins Finger.

»Das ist Fay!« sagte Harold Robbins. »Ich habe dir doch von ihr erzählt. Eine von denen, die mit Hazel zusammenwohnt.«

»Ich kann mir schließlich nicht all deine Frauenbekanntschaften merken«, sagte Nigel. »Wir kennen uns jetzt gerade ein paar Stunden.« Und das ist mehr als genug, fügte er im stillen hinzu. Mehr als genug. Eigentlich schon viel zu lange.

»Aber du erinnerst dich doch an Hazel, von der ich erzählt habe. Hazel Knocklewood! Meine Sprechstundenhilfe.« Robbins zog Nigel hinter sich her. »Jetzt mach schon mit!« flüsterte er. »Sei ein Kumpel, verdammt nochmal!« Er schlug einen schrägwinkeligen Kurs ein, daß sie mit aller ballistischen Wahrscheinlichkeit irgendwo in der Mitte des Bürgersteiges kollidieren mußten.

Vera Farrow hatte einen Traum.

Sie träumte, daß es Dienstag früh war und die Zeit auf einmal anfing, rückwärts zu laufen. Die Uhrzeiger bewegten sich von links nach rechts. Die Leute auf dem Weg zur Arbeit hielten an, grüßten einander höflich und gingen wieder nach Hause, gaben ihren Frauen den Abschiedskuß, frühstückten zum zweiten Mal, wuschen sich unter den Armen und legten sich zu Bett. Als sie erwachten, war es Montag abend. Und so ging es weiter.

Alte, abgerissene Kalenderblätter hingen wie ein Schwarm Schmetterlinge im Zimmer, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, glätteten sich dann eines nach dem andern, fielen leise wie Kirschblüten herunter und hefteten sich lautlos wieder an den Block.

Die Zeit hatte begonnen, rückwärts zu gehen.

Wo Häuser gebaut wurden, fing man statt dessen an, sie abzureißen.

Der Postbote kam jeden Tag und verlangte alte Briefe zurück.

Die Müllabfuhr füllte jeden Montag die Mülltonnen.

Der Zeitungsausträger holte jeden Morgen die Zeitung.

Die Möbelhändler fuhren herum und kauften alle Stühle und Tische, die sie einmal verkauft hatten, zurück.

Sie und Virolainen wurden sich immer fremder.

Jeder Beischlaf war ein Abschied.

Schließlich kannten sie sich nicht mehr.

Und sie wußte, daß das Flugzeug bald rückwärts am Kennedy Airport aufsteigen und ihn zurück nach Helsinki in sein Reihenhaus bringen würde, wo Frau und Kinder auf der Treppe stehen und ihm winken, bevor er hineingeht und die Tür unwiderruflich hinter sich schließt. Und sie selber würde weiterleben – alle ihre 28 Jahre von vorne – ohne ihn jemals wiederzusehen ...

Vera Farrow erwacht mit einem Ruck.

Es ist dunkel im Zimmer.

Und Virolainen ist nicht mehr da.

Es wäre einigermaßen übertrieben zu sagen, daß Fay Hideway erfreut war, sie zu sehen. Aber hat Harold Robbins das gestört? Keine Spur.

»Stur bleiben!« flüsterte er Nigel Harris zu. »Stur bleiben und nicht abwimmeln lassen.«

Auch den beiden Japanern schien die Sache eher unangenehm zu sein. Doch Harold Robbins war der reinste Sonnenschein. »Hazels Freunde sind meine Freunde«, dröhnte er. »Und Freunde von Hazels Freunden sind ebenso willkommen. Wie wollen wir den weiteren Abend verbringen? Ich lade euch ein!« Und Fay flüsterte er vertraulich zu: »Könnten wir nicht einfach noch Hazel anrufen?«

»Die Nacht ist jung«, sagte Nigel Harris in verbindlichem Plauderton zu einem der Japaner.

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!

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