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1. kapitel

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Hallo, ich heiße Hannah, und zwar von vorn und von hinten. Die Geschichte, die ich dir jetzt erzählen möchte, ist so phantastisch, dass sie einfach wahr sein muss. Du würdest garantiert nie auf die Idee kommen, so was zu erfinden, denn du würdest sofort durchschaut werden, von der ganzen Schule, von den Eltern, ja, sogar von kleinen Schwestern, denen du sonst alles weismachen kannst. Wenn du lügen willst, dann erzählst du am besten das, was fast wahr ist. Dass du zum Beispiel nicht weißt, wo die Tafel Schokolade geblieben ist, die im Kühlschrank lag. Und das ist sogar die Wahrheit, denn du hast sie aufgegessen, und jetzt befindet sie sich irgendwo in deinem Körper, aber wo genau, das weißt du nun wirklich nicht. Diese Geschichte ist ein bisschen so. Meine Geschichte ist einfach seltsam, unglaublich – und wahr.

Ich bin zehn Jahre alt und wohne in der größten Stadt im Land in einem ziemlich kleinen Haus, zusammen mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern, Andrine und Line. Line ist die Kleinste, und Papa nennt sie nur »Windel«. Ich habe auch ein paar Freundinnen und Freunde, unter anderem Fred, aber von dem erzähle ich später mehr.

Ich fange lieber mit einem ganz normalen Nachmittag an. Mein Vater kam wie immer von der Werbeagentur nach Hause, für die er arbeitet.

»Tag zusammen«, sagte Papa.

Das sagen sicher Millionen von Vätern zu ihren Kindern, wenn sie nach Hause kommen. Und was danach kam, war auch ganz normal, jedenfalls für mich.

»Heute habe ich eine Idee gehabt, die die Welt verändern wird«, sagte Papa und strahlte übers ganze Gesicht.

Keine von uns sagte etwas dazu. Du findest es vielleicht komisch, dass wir nicht reagieren, wenn er so etwas sagt, aber es ist wirklich ganz normal, dass Papa sich einbildet, er könnte die Welt verändern.

Ich sollte über meinen Vater vielleicht noch erzählen, dass er Finn heißt, dass er sich aber Fink nennt. Dass er immer mit T-Shirt und Turnschuhen zur Arbeit geht und dass mindestens die Hälfte seiner Haare immer steil nach oben oder geradeaus zur Seite steht.

Meistens sieht er aber trotzdem aus wie ein ganz normaler Papa, der aus dem Büro nach Hause kommt. Allerdings nennen sie das Büro, in dem er arbeitet, nicht Büro. »Büros sind was für Spießer. Ich arbeite in einer Ideenbank«, sagt Papa immer zu Mama, wenn er sie ärgern will. Mama arbeitet bei einer Versicherung, hat dort ein eigenes Büro und sicher einen viel ernsthafteren Job als Papa.

Einmal kam mein Vater nach Hause und erzählte, dass sich am nächsten oder jedenfalls am übernächsten Tag alle Menschen im Land umarmen würden, Menschen, die sich gar nicht kannten, einfach so, auf der Straße, weil er sich eben eine Umarmungs-Kampagne ausgedacht hatte. Diese Umarmungs-Kampagne sollte die Leute dazu veranlassen, sich in die Arme zu nehmen und ganz viel Schokolade zu kaufen.

Ich esse oft Schokolade, aber deshalb hab ich doch keine Lust, irgendwen zu umarmen. Wenn ich zu viel Schokolade esse, muss ich danach meistens kotzen oder etwas Salziges essen, um nicht kotzen zu müssen. Die Umarmungen spar ich mir für Leute auf, die ich gern mag.

Ich konnte mir also einfach nicht vorstellen, dass diese neue Idee genialer sein könnte als irgendeine andere Werbekampagne.

»Heute habe ich eine Idee gehabt, die die Welt verändern wird«, johlte Papa noch einmal.

Er hatte Line hochgehoben, und seine Augen strahlten vor Begeisterung. Da Mama gerade den Saft aufwischte, den Line dabei umgestoßen hatte, und da bei Andrine eine Wurst quer im Mund steckte, blieb mir keine Wahl. Ich musste etwas sagen.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Das ist total genial!«, rief er. »Absolut durch und durch genial. Ich hab es ihnen gesagt. Das wird die Welt verändern! Sie zu einem besseren Aufenthaltsort machen und uns zu besseren Menschen.«

»Wovon redest du da eigentlich?«, fragte ich.

»Chop-stop-chop-stop«, johlte Papa.

Das gehört zu den Dingen, die er oft sagt und die überhaupt keinen Sinn haben.

Papa lud Line von seinen Schultern aufs Sofa um. Dann setzte er sich umgekehrt auf einen Stuhl und legte sein Kinn auf den Stuhlrücken.

»Wir haben eine wichtige neue Kundin. Eine politische Partei.«

»Welche Partei denn«, fragte ich und gab mir alle Mühe, interessiert zu wirken.

»Eine ganz neue Partei, meine liebe Hannah, die hofft, in den nächsten vier Jahren bestimmen zu dürfen.«

Papas Werbeagentur sollte also für diese neue Partei eine Wahlkampagne entwickeln. Das bedeutete, dass sie allen erzählen sollte, wie klug und tüchtig die Leute in dieser Partei waren und dass alles gut werden würde, wenn sie nur genügend Stimmen kriegten.

Das hörte sich an wie ein passender Auftrag für meinen Vater.

»Mehr Geld für Kindergärten und Schulen ist ein hervorragender Aufhänger für diese Partei«, sagte er und lächelte, als ob er gerade etwas gesagt hätte, auf das vorher noch niemand gekommen war.

»Aber das bedeutet sicher nicht, dass es in den Schulen Gratissüßigkeiten geben wird«, antwortete ich.

»Höhö, nein, das wohl nicht. Ich glaube, den Erwachsenen würde Gratisbenzin für alle besser gefallen.«

»Das heißt noch lange nicht, dass Kinder dann Auto fahren dürfen«, sagte ich und merkte, dass ich schon das Interesse verlor.

Ich hatte solche Parteileute ein paarmal im Fernsehen erlebt, wenn Mama und Papa die Nachrichten sehen wollten, und ich kann euch sagen, die waren stinklangweilig. Sie sagen jede Menge komisches Zeug, ohne zu lächeln. Es ist zum Einschlafen, auch wenn du lieber wach bleiben möchtest. Nein, das interessierte mich überhaupt nicht. Aber mein Vater ist keiner, der merkt, wenn jemand ihm nicht mehr zuhört. Er warf die Hände in die Luft und rief: »Hier seht ihr den Mann, der die Welt verändern wird!«

Er sah mich auf eine Weise an, die mir zeigte, dass es hier kein Entkommen mehr gab. Jetzt half nur noch, gar nichts mehr zu sagen, damit er so schnell wie möglich zu Ende erzählte.

»Liebe Hannah, findest du es nicht ungerecht, dass wir Erwachsenen einfach alles bestimmen dürfen? Wann du aufstehen musst, wann du in die Schule gehst, was du isst, wann du fernsehen darfst, wann du schlafen gehen musst, wie viel Taschengeld du bekommst. Ja, es ist doch eigentlich so, dass Kinder überhaupt nichts bestimmen dürfen!«

Papa hatte natürlich recht. Auch wenn ich ihm oft erzählen musste, dass es nicht gesund ist, zum Frühstück Kaugummi zu essen, oder dass er nach einem halben Tag besser Lines Windel überprüfen sollte. Ich ging aber davon aus, dass andere Väter sich ein bisschen erwachsener benehmen, und deshalb brauchte ich gar kein Lügenkreuz zu machen, als ich sagte: »Natürlich ist das ungerecht.«

»Aber muss es so sein? Nein, das muss es natürlich nicht.«

Papa drehte eine Pirouette, dann redete er weiter.

»Das liegt nur daran, dass manche in meinem Alter glauben, dass wir klüger werden, je älter wir sind. Sie haben schreckliche Angst davor, dass die, die nach ihnen kommen, eine eigene Meinung haben könnten. Verstehst du, Hannah?«

Ich verstand das nicht so ganz, aber etwas war nicht ganz so wie sonst. Das hier war etwas anderes als der übliche Jobkram, über den er so oft redete. Er sagte zum Beispiel, dass ein Auto das Kind in dir hervorkommen lässt, oder dass gerade diese bestimmte Zahnbürste Kinder zum Lachen bringt, wenn sie sich die Zähne putzen.

Hast du schon mal versucht zu lachen, während du dir die Zähne putzt? Eben! Dann weißt du, dass das nur geht, wenn du vorher die Zahnbürste aus dem Mund nimmst.

Das hier war etwas ganz anderes. Es stimmt ja wirklich, dass die Erwachsenen viel zu viel bestimmen dürfen. Natürlich machen wir Kinder nicht immer alles richtig, aber es kommt schon vor, dass wir etwas falsch machen, nur weil die Erwachsenen sagen, dass es falsch ist. Aber stellt euch vor, das wäre richtig und die Erwachsenen hätten sich geirrt. Stell dir vor, wir könnten zur Schule gehen, wann wir wollen. Oder uns Klamotten aus dem Schrank holen, die nicht passen, die aber trotzdem total klasse sind. Das ist eine wunderbare Vorstellung.

»Ihr wollt die Stimme der Kinder hören, habe ich zu ihnen gesagt. Gemeinsam werden wir die Kinder zu den Hauptpersonen machen. Du, Hannah, und alle anderen Kinder werden bestimmen dürfen. Das sage ich, so wahr ich Finn Fredriksen heiße!«

Und da Papa Finn Fredriksen heißt, war er also von dieser Idee absolut überzeugt.

Jetzt fragst du dich sicher, ob das nicht nur irgendein Unfug war, wie du ihn schon so oft gehört hast. Wenn du zum Beispiel mit deiner Mutter einkaufen gehst und sie fragt dich, was du abends essen möchtest, und du bist ja nicht blöd, also sagst du: Würstchen, aber das war dann trotzdem blöd, denn deine Mutter lässt dich nur entscheiden, wenn du Fisch sagst.

»Weißt du ganz genau, dass das ernst gemeint ist?«, fragte ich und schaute meinem Vater tief in die Augen.

»Ja, darauf kannst du dich verlassen. Ein Mann von einer frisch gegründeten Partei namens Stimme der Zukunft hat uns angerufen und um Hilfe im Wahlkampf gebeten. Weil sie eine neue Partei sind, wollen sie sich um Dinge kümmern, die die anderen alle vernachlässigen. Der Mann, der angerufen hat, sagte, sie wollten die Kinder bestimmen lassen. Nur wissen sie nicht so ganz, wie sie das schaffen sollen. Aber sie gehen davon aus, dass eine Werbeagentur jede Menge Ideen dazu hat, wie sie der Stimme der Kinder Gehör verschaffen können.«

Papa legte einen Stapel Plakate vor uns auf den Küchentisch. Auf den Plakaten waren lächelnde Kinder zu sehen, die die Hände zum Himmel hoben. Unter dem Bild stand mit Kinderschrift: »Wenn wir bestimmen dürften«, und dann kam eine lange Liste von Sachen, die die Kinder wichtig fanden. Die Partei forderte mehr Schulen, bessere Krankenhäuser, sicherere Straßen und andere Dinge, die sicher für Kinder und Erwachsene wichtig sind, die aber nicht weiter helfen, wenn du vor allem findest, dass es erlaubt werden sollte, zum Abendessen Schokomilch zu trinken.

Es gab also keinen Grund, sich viel zu erhoffen, dachte ich. Aber da hatte ich mich total geirrt.

»Ich habe meinen guten Freund vom Fernsehen angerufen, Stängel«, sagte Papa. »Der war Feuer und Flamme. Stängel möchte gerne dazu beitragen, dieses Programm bekannt zu machen, und er hat die Stimme der Zukunft für nächste Woche zu einer Diskussion der Parteivorsitzenden eingeladen. Und – haltet euch fest –, wisst ihr, wer die Stimme der Zukunft vertreten wird?«

Am Tisch wurde es ganz still. Ich kannte keine anderen Politiker als den Ministerpräsidenten, aber es war klar, dass Papa da den Durchblick hatte. Sein Gesicht schien vor Stolz fast schon zu platzen.

»Du nämlich, Hannah. Meine Tochter! Du wirst der ganzen Welt erzählen, was Kinder sich für die Zukunft wünschen.«

Er sagte sicher noch mehr, aber das kriegte ich nicht mehr mit. Ich stand unter Schock, glaube ich, oder wie immer man das nennt, wenn man ganz wackelige Beine kriegt und das Kinn in eine Portion Würstchen mit Kartoffelbrei fällt.

Die Ministerpräsidentin

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